Dr. Hanspeter Gubelmann: Karriereberatung im Spitzensport in Zeiten von Corona

Kürzlich wurde ich in einem Interview gefragt: „Wie verändert Corona deine Tätigkeit als Karriereberater im Spitzensport?“ Hmm… Ich bat um etwas Bedenkfrist und tat, was ich in solchen Situationen bevorzugt tue: Ich begann nachzudenken. Von den persönlichen Erkenntnissen dieser Selbstreflexion handelt dieser Blog.

Zum Thema: Drei Szenarien für Sportler in der Corona-Krise

Wer mich kennt weiss, dass ich mir in meiner Tätigkeit als angewandter Sportpsychologe eher zu viele Gedanken mache, vielschichtig denke und mich auch auf systemische Bezüge einlasse. Ich benötige dabei viel Zeit, um das menschliche Gegenüber und sein Anliegen besser zu verstehen. Als Anhänger eines radikalen Konstruktivismus’ tritt mir die Athletin als Sportexpertin gegenüber, deren Expertise ich als Ergebnis einer kompetenten (subjektiven) Anpassung verstehe. 

Demgegenüber bezeichne ich mich als Experte im Erkennen psychischer Prozesse und Zusammenhänge, welche ich aus der Selbstreflexion der Athletin wahrnehmen und einordnen kann. Als „Ordnungsgrundlage“ dienen mir Modelle und Orientierungshilfen, die mir die sportwissenschaftlich-orientierte Sportpsychologie zur Verfügung stellt.

Orientierungshilfe: Position statement der FEPSAC

Hinsichtlich der gestellten Interviewfrage ergeben sich inhaltlich zwei Orientierungslinien, die sich an zwei Schlüsselfragen darlegen lassen: 

1. An welchem Punkt sieht sich die Athletin in ihrer sportlichen Laufbahn und wie verändert Corona ihre Wahrnehmung über den weiteren Karriereverlauf? 

2. Was sagen Theorie Forschung und Praxis (best practise) in Bezug auf Handlungsmöglichkeiten und Hilfestellung seitens der Sportpsychologie?

Gerade zu diesen Handlungsmöglichkeiten in Zeiten von Corona publizierte die europäische Vereinigung der SportpsychologInnen (FEPSAC) erst kürzlich ein Positionspapier. Ausgewiesene Fachkräfte äussern sich darin zu den aktuellen Karrieresituationen und -entwicklungen olympischer/paralympischer AthletInnen.

Angepasstes Mobilisierungsmodell

In Anlehnung an das Mobilisierungsmodell von Stambulova (2011) zur Beratung von Athleten bei Krisenübergängen wird eine Krise metaphorisch definiert als “an einem Scheideweg stehen” mit mindestens drei Alternativen: “Ablehnung”, “Akzeptanz” und “Kampf”. Ablehnung impliziert Versuche, aus der traumatischen Situation herauszukommen, vielleicht indem man aus der Aktivität aussteigt; Akzeptanz bedeutet, in der Situation zu bleiben, aber die persönliche Reaktion darauf zu modifizieren und sich neu auszurichten; und Kämpfen impliziert den Versuch, die Situation radikal zum Besseren zu verändern.

Stambulova et al. (2020) gehen dementsprechend von drei unterschiedlichen Szenarien aus, die in der Betreuung von SpitzensportlerInnen unterschiedliche Diskussions- und Beratungsschwerpunkte zur Folge haben. 

Dr. Hanspeter Gubelmann

Dr. Hanspeter Gubelmann

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Szenario 1: “Es ist ein guter Zeitpunkt für mich, mich jetzt zurückzuziehen”

Dieses ablehnungsähnliche Szenario scheint vor allem für jene vordringlich zu sein, die sich im Herbst ihrer Sportkarriere wähnen, und die sich schon vor Corona mit einem absehbaren Karriereende befasst hatten. Hinzu kommen Gründe wie: gesundheitliche Probleme, nachlassende Motivation, nicht-sportlicher Lebensdruck und alternative Möglichkeiten im aussersportlichen Bereich. Athleten äussern explizit den Wunsch, sich nicht mehr mit den sich weiterhin abzeichnenden Unsicherheiten auseinandersetzen zu wollen. BeraterInnen könnten voraussehen, dass die erste Reaktion der Athleten auf dieses Szenario einem Vorwand folgt – entsprechend (zeit-)intensiv und selbstreflexiv kann die Aufarbeitung der motivationalen Aspekte ausfallen.

Szenario 2: “Ich kann eine Pause einlegen und mich strategisch auf die nächsten Olympischen/Paralympischen Spiele vorbereiten”.

Szenario zwei – “Akzeptanz” – passt vornehmlich zu AthletInnen in einem früheren Stadium ihrer sportlichen Karriere. Ausgangspunkt sind vertiefte Überlegungen zum weiteren Karriereverlauf, etwa den olympischen Traum zu verschieben, was zu Friktionen im Umfeld führen könnte, insbesondere wenn verschiedene weitere Interessengruppen (z.B. Betreuungsumfeld, Management) auf eine mögliche Teilnahme angewiesen sind. Zu den Herausforderungen in diesem Szenario zählen: Änderung der sportlichen Vorbereitungspläne, Gestaltung der „olympischen Pause”, Entwicklung von Ressourcen (z.B. aussersportliche Kompetenzen, soziale und berufliche Verbindungen). Diese Investitionen sollen mithelfen, um besser auf die nächsten Olympischen Spiele und andere Herausforderungen im Leben vorbereitet zu sein. 

Szenario 3: “C-19 wird mich nicht daran hindern, mich auf Tokio 2020 vorzubereiten”

Szenario drei ist ein “Kampf-Szenario“, möglicherweise geeignet für erfahrene und sehr einfallsreiche Sportler in der „Blüte“ ihrer Karriere. Diese Entscheidung birgt ihre – auch gesundheitlichen – Risiken. Daher könnten SportpsychologInnen mit den Athleten die Bewertung der antizipierten Risiken diskutieren und die Klienten dabei unterstützen, eine verantwortungsbewusste Entscheidung zu treffen. Zu den Herausforderungen in diesem Szenario gehören u.a: Beobachtung der Situation im Zusammenhang mit Tokio 2020 und entsprechende Anpassungen der Pläne und Trainings-/Erholungsroutinen; Anpassung an ungewöhnliche Trainingsbedingungen, Wettkampfatmosphäre und kurzfristige Zeitpläne; kreative Entwicklung von Lösungen für den Umgang mit sozialer Isolation und Zugang zu professioneller und sozialer Unterstützung. Diese Ausgangslage bringt die Athleten, unabhängig davon, ob sie an den Spielen von Tokio 2020 teilnehmen oder nicht, eine potenzielle Gelegenheit, Möglichkeiten zur Selbstüberprüfung, zur Stärkung ihre Vorbildfunktion für Athleten und Fans und zu mehr Einfallsreichtum in ihrem Streben nach beruflicher Exzellenz.

Sechs Take-home messages

Stambulova et al. (2020) formulieren in ihrem informativen Ausblick sechs Leitideen, an denen sich unser sportpsychologische Support in der proaktiven Karrierebegleitung orientieren kann.

1.) Ein grundsätzlicher Support der AthletInnen, trotz Covid-19 einen positiven und erfolgreichen Karriereverlauf zu erreichen, ist anzustreben;

2.) Eingehende Überprüfung potenzieller Karrierewege („Szenarien“) und Bewältigungsstrategien unter Berücksichtigung eines ganzheitlichen Ansatzes (Person – Karriereverlauf – Umfeld);

3.) Thematisierung der mehrdimensionalen Identitätsentwicklung – auch im Zusammenhang mit den vorgestellten Handlungsszenarien; 

4.) Der Umgang mit Covid-19 ist von Land zu Land, manchmal sogar von Kanton zu Kanton unterschiedlich. Empfohlen wird, sich an die Prinzipien der kontextabhängigen Praxis durch kulturelle Reflexivität zu halten und nicht kultur- und kontextblinde Ansätze zu verfolgen;

5.) Die sportpsychologische Expertise orientiert sich an tragfähigen Konzepten und Modellen. Dazu zählen u.a. das ganzheitliche sportliche Karrieremodell (Wylleman, 2019), das Umgebungsmodell für die sportliche Talentförderung (Henriksen & Stambulova, 2017) sowie das Veränderungsschema für die sportpsychologische Praxis (Samuel & Tenenbaum, 2011);

6.) Eine vermehrte intra- und interdisziplinäre Zusammenarbeit aller ExpertInnen (z.B. Sportpsychologen, Mentaltrainer, Ernährungswissenschaftler, medizinisches Personal) ist eine Schlüsselbedingung für koordinierte Anstrengungen zur Unterstützung der Athleten im Umgang mit Covid-19.

Fazit

Die Covid-19 Pandemie und die damit verbundenen, aktuellen Zäsuren im Berufsalltag des Spitzensports akzentuieren den anspruchsvollen Umgang mit dem Thema „Karrierebegleitung“ zusätzlich. In einem auch von anderen Exponenten (Mentaltrainer, Life-Coaches, Laufbahnberater u.a.m.) umworbenen Arbeitsbereich der Angewandten Sportpsychologie sind hohe Fachexpertise und breite Praxiserfahrung gleichermassen bedeutsam. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Positionspapier der FEPSAC erachte ich als zwingend notwendig, um als Karrierebegleiter im Spitzensport kompetent intervenieren zu können.

Auf die eingangs beschriebene Frage des Journalisten entgegne ich: „Ja, Corona beeinflusst mich in meiner Rolle als Karrierebegleiter in mancherlei Hinsicht. In der aktuellen Literatur finden sich dazu auch 6 Leitgedanken für SportpsychologInnen…!“

Mehr zum Thema:

Literatur

Henriksen, K. , & Stambulova, N. (2017). Creating optimal environments for talent development: A holistic ecological approach. In Baker, J., Cobley, S., Schorer, J., & Wattie, N. (Eds.), Routledge handbook of talent identification and development in sport (pp. 271–284). Routledge. [Crossref][Google Scholar]

Stambulova, N.B., Schinke, R.J., Lavallee, D. & Wylleman, P. (2020). The COVID-19 pandemic and Olympic/Paralympic athletes’ developmental challenges and possibilities in times of a global crisis-transition, International Journal of Sport and Exercise Psychology, DOI: 10.1080/1612197X.2020.1810865

Open access: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1612197X.2020.1810865

Schinke, R.J., Papaioannou, A., Henriksen, K., Si, G., Zhang, L. & Haberl, P. (2020) Sport psychology services to high performance athletes during COVID-19, International Journal of Sport and Exercise Psychology,18:3, 269-272, DOI: 10.1080/1612197X.2020.1754616

Samuel, R. D. , & Tenenbaum, G. (2011). The role of change in athletes’ careers: A scheme of change for sport psychology practice. The Sport Psychologist , 25 (2), 233–252. https://doi.org/10.1123/tsp.25.2.233  [Crossref][Web of Science ®][Google Scholar]
Open access: https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/1612197X.2020.1754616

Stambulova, N. (2011). The Mobilization Model of Counseling Athletes in Crisis-Transitions: An Educational Intervention Tool, Journal of Sport Psychology in Action, 2:3, 156-170, DOI: 10.1080/21520704.2011.598223

Open access: https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/21520704.2011.598223

Wylleman, P. (2019). A developmental and holistic perspective on transitioning out of elite sport. In M. H.Anshel (Ed.), APA handbook of sport and exercise psychology: Vol. 1. Sport psychology (pp. 201–216). American Psychological Association. [Crossref][Google Scholar]

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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