Was braucht es im Spitzensport, um langfristig erfolgreich sein zu können? «Mental toughness» lautet aus Sicht der angewandten Sportpsychologie die präferierte Antwort. Tatsächlich unternehmen wir im Rahmen des Trainings mentaler Fähigkeiten und Fertigkeiten viel, um jene Wettkampfqualitäten entwickeln zu helfen, die im entscheidenden Moment die Bestleistung ermöglichen. Wer aber ausschliesslich in diese Richtung verfährt, läuft Gefahr, eine zweite matchentscheidende Komponente zu vernachlässigen – die mentale Gesundheit von Athlet*innen und Betreuer*innen!
Zum Thema: Mentale Gesundheit im Sport
Szenenwechsel: Vom 10. bis 16. August 2019 nahm ich an der Mehretappen-Tour „Cycle Greater Yellowstone“ teil. Dies nach 2015 und 2018 schon zum dritten Mal. Es handelt sich dabei um eine veritable sportliche Herausforderung, galt es doch an fünf Tagen insgesamt 8000 Höhenmeter und einige Hundert Meilen zu bewältigen. Nebst physischer Fitness geht es mir insbesondere um meine persönliche mentale Robustheit, auch im Sinne von: Do we practice what we preach! Nach vollbrachter Leistung auf dem Rad verabschiedete ich mich – gleich wie in den Vorjahren – in die nordamerikanische Wildnis – nach Stanley, Idaho. Stanley? Where the f… is Stanley? Was ich dort suche? Abgeschiedenheit, Ruhe und ein bisschen Langeweile! In der Woche nach meiner Yellowstone-Challenge wollte ich für mich Antworten auf folgende Fragen erhalten: Kann ich gut mit mir – mich selbst aushalten? Und: Gebe ich mir in meinem Leben Zeit genug, damit meine Seele nachkommen kann?
Die sieben Tage in Stanley verbrachte ich mehrheitlich mit Wandern und Fischen. Meist begab ich mich an entlegenste Orte, um in aller Ruhe und fernab jeglicher Zivilisation meine Seele sprichwörtlich „baumeln zu lassen“. So verbrachte ich täglich viele Stunden in atemberaubend schöner Landschaft, ich spürte die Kraft der Natur (Sonne, Wind, Regen, spektakuläre Bergansichten usw.) und frönte einer meiner grösseren Leidenschaften – dem Fischen! Fortan gab es mindestens einmal pro Tag eine köstliche Fischmahlzeit, in Verbindung mit einem weiteren Hobby – dem Kochen. Gedanken zu mir und zu dem, was mich in meinem Leben bewegt, kamen und gingen; manchmal mit kleinen Antworten im Gepäck. Gegen Ende meiner Stanley-Woche tauchten vermehrt Gefühle der Langeweile auf. Es war aber keine „plagende“ sondern vielmehr eine „kreativ-aktivierende“ Langeweile, die mich mit ein paar pfiffigen Ideen zu meinen Freunden nach Park City, Utah zurückkehren liess. Dort angekommen, erhielt ich von einer geschätzten Kollegin einen aktuellen Artikel zugeschickt, der die Verbreitung von psychischen Störungen im Spitzensport zum Thema machte und auf die Hintergründe einging.
„Wir“ kümmern uns nicht um die mentale Gesundheit unserer Sportler*innen!
Was ich im Tagesanzeiger-Interview mit Sportpsychiater Malte Claussen zu lesen bekam, machte mich betroffen, stellenweise sogar wütend! Ich las: „Die seelische Gesundheit wird im Sport wenig thematisiert. Dabei ist sie zentral. (…) Viele der anderen Spezialisten (u.a. Sportpsycholog*innen und Mentaltrainer*innen, Anmerk hpg) sagen: Wer mental stark ist, ist seelisch gesund. (…) Ich hinterfrage, ob in einem Setting ohne Sportpsychiater eine seelische Erkrankung der Sportler adäquat behandelt werden kann. (…) Um etwas verhindern zu können, muss ich wissen, was ich verhindern will. Darum ist ein Sportpsychiater so wichtig.“
Hinsichtlich der grundsätzlichen Bedeutung der psychischen Gesundheit gebe ich Claussen Recht. Küttel & Larsen (2019) bezeichnen in ihrem kürzlich veröffentlichten Übersichtsartikel «mental health» „… as a resource for a successful and sustainable sports career. We advocate that future studies include the whole spectrum of the mental health continuum (i.e. from languishing to flourishing; Keyes, 2002) with an increased focus on the role of the (sport) environment and the athlete-environment fit.“
Bedeutung der psychischen Gesundheit in der Praxis der angewandten Sportpsychologie
In der Praxis der angewandten Sportpsychologie gilt die Bedeutung der psychischen Gesundheit als unbestritten. Im Gegensatz zu Claussens Deutung wird die notwendige Koinzidenz von psychischer (seelischer) Gesundheit (gemessen an der Symptomstärke psychischer Störungen) und mentaler Stärke (mental toughness) schon seit vielen Jahren thematisiert (vgl. Abbildung 1).
Der Athlet blüht dann auf (flourishing), wenn psychische Gesundheit und mentale Stärke gleichermassen hoch und positiv ausgeprägt sind. In dieser optimalen Konstellation wächst und entfaltet sich die Sportler-Persönlichkeit: er/sie entwickelt hohe Selbstkompetenzen, sein/ihr Wohlbefinden ist positiv-stabil und es zeigen sich keine Krankheitssymptome. Die angewandte Sportpsychologie geht davon aus, dass ein Sportler/eine Sportlerin auf dieser Grundlage besonders befähigt sei, sein/ihr sportliches Potential langfristig auszuschöpfen, auch um ein persönliches Leistungsoptimum zu erreichen.
Haltlos, wie wenn man fällt
Was passieren kann, wenn der Spitzensportler psychisch erkrankt (z.B. Erschöpfungsdepression), der Athlet aber weiterhin auf seine ihm eigene mentale Stärke baut und sich durch weitere Wettkampfeinsätze überfordert, lässt sich anhand der Aussagen von Langläufer Jonas Baumann (Link zum Schweizer Illustrierte-Interview) sehr gut nachvollziehen. Seine psychische Erkrankung raubte ihm die Basis, unter Einsatz seiner mentaler Fähigkeiten rang er weiterhin um sportlichen Erfolg (struggling). Er machte weiter, bis er keinen Halt in seinem Leben vollends verlor (floundering). Langläufer Baumann formulierte es damals so: „Wenn ich mal abschalten wollte, konnte ich nicht. Ich war rastlos, meine Gedanken kreisten, ich konnte schlecht schlafen, war permanent unter Stress.“
Die von Claussen geäusserten, inhaltlich nicht haltbaren und geradezu selbstgefälligen Vorstellungen, möchte ich zum Anlass nehmen, um an vier einfachen Beispielen zu beschreiben, wie ein Sportpsychologe – auch am eigenen Beispiel – dazu beitragen kann, die seelische Gesundheit massiv zu unterstützen. Sowohl Athleten wie Trainer/Betreuer können gleichermassen ihren eigenen Nutzen daraus ziehen!
Retreat – sich zurückziehen hilft!
Sich zurückziehen (to retreat) bedeutet, sich aus dem alltäglichen Strom der Tätigkeiten auszuklinken, sich an einen Ort zu begeben, wo Ruhe, Gelassenheit und Wohlbefinden fernab vom Alltagsstress entstehen kann. Es handelt sich um eine aktive, selbstverantwortliche Massnahme mit dem Ziel, sich und der eigenen Seele Zeit zu schenken. Bekannt ist auch der „Jour de desert“ (retraite), der an einen „stillen Ort“ (ohne Kommunikation gegen aussen) führen will mit dem Ziel einer kontemplativen Selbstreflexion.
Wenn ich als Fischer meinen Zapfen auf dem glatten See treiben sehe, umrahmt von Bergriesen, die sich an der Wasseroberfläche spiegeln, verwischen sich manchmal Aussen- und Innenwelt!
Auf der Suche nach dem eigenen Refugium
Als Refugium (oft auch als „safe place“ bezeichnet) wird ein Ort in der Vorstellung eines Individuums bezeichnet, der durch eine geführte Anleitung geschaffen oder aus eigenem Antrieb heraus entwickelt wird. Es kann sich dabei sowohl um die mentale Repräsentation einer real existierenden Umgebung oder um eine völlig fiktive Örtlichkeit („Fantasiereise“) handeln. An diesen Ort kann sich der Übende immer wieder zurückziehen um innere Kraft, Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit zu finden. Beispiele dafür sind ein einsamer Strand, eine Auenlandschaft, ein schützender Wald, u.a.m. Positive Emotionen, selbstwirksame Kognitionen und die autogen wirksam werdende körperliche Entspannung wird durch die zielgerichte, wiederholte und planmässige Durchführung dieser Vorstellungsübung erreicht.
Mein persönliches Refugium liegt – wenn wundert’s – an einer für mich besonders eindrücklichen Stelle im Umland von Stanley, Idaho.
Langeweile – oder Zeit um wieder kreativ zu werden!
Tempo, vielfältige und Mehrfachbelastungen, Mangel an Zeit, Effizienzsteigerung: Wie Untersuchungen zeigen (vgl. Gubelmann 2011), wünschen sich viele Athleten*innen in ihrem anforderungsreichen Spitzensportalltag vor allem eines: mehr Zeit für sich selbst. Entspannungsinseln im Alltag können einen ersten Ausgleich schaffen, ebenso wichtig erscheinen mir eigentliche Zäsuren und längerwährende „Abwesenheiten“, die das Leben des Sportlers „entschleunigen“ können. Schon mehrfach lautete mein Interventionsvorschlag an hoch-belastete Athleten lapidar: geh’ in die Ferien, mach mal Pause, möglichst ohne grosses Programm! Give me a break!
Davon profitierte ich in Stanley in der oben beschriebenen Weise, wobei ich die aufkommende „lange Weile“ tatsächlich dafür geniessen konnte, mein Dasein vorüberziehen zu sehen. Und ich merkte, wie meine Seele nachkam!
Erholungs-Belastungs-Monitoring
Die im Spitzensport immens gestiegene psycho-physische Beanspruchung durch Training und Wettkampf schränkt die erforderliche Erholungszeit der Sportlerinnen und Sportler immer mehr ein und erhöht die Gefahr, dass die durch Training und Wettkampf hervorgerufenen psycho-physischen Beanspruchungszustände nicht angemessen ausgeglichen werden und gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen (vgl. Allmer & Kleinert, 2001). Im Wissen um die hohe Bedeutung einer optimalen Regeneration (Erholungskonzept!) und einer effizienten Nutzung der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten (Zeit, Massnahmen) erscheint der vermehrte Einsatz eines Erholungs-Belastungs-Monitorings (vgl. Kallus & Kellmann, 2016) äusserst ratsam. Eine verbesserte Selbsteinschätzung der eigenen Erholung seitens der Athleten sowie die Möglichkeit der Früherkennung kritischer Entwicklungen verbunden mit der Anordnung geeigneter Interventionen seitens der Betreuungsperson können einer ansonsten drohenden seelischen Erkrankung vorbeugen.
Nach einer Woche „Vollgas“ auf dem Rad folgte in Stanley eine Woche „slow go“. Noch bedeutsamer als körperliche Erholung war für mich die emotionale: Ich fühle mich lebendig und voller Tatendrang!
Ausblick
Es ist rufschädigend zu behaupten, die angewandte Sportpsychologie in der Schweiz würde sich nicht um die seelische Gesundheit der ihr anvertrauten Spitzensportler*innen kümmern! Gerade aus präventiver Sicht und mit Blick auf jugendliche Leistungssportler*innen ist diese Mitverantwortung zwingend notwendig. Wie ganz viele meiner Kolleg*innen auch, biete ich meine Dienstleistung im Austausch mit einem breiten Netzwerk therapeutisch geschulten und qualifizierten ExpertInnen an, um bei psychischen Erkrankungen unterstützend (und auch delegierend) weiterhelfen zu können. Eine Zusammenarbeit mit „gleichgesinnten“ Sportpsychiatern würde ich weiterhin begrüssen!
Auf der Suche nach dem passenden Refugium?
Hanspeter Gubelmann und Cristina Baldasarre haben dazu einen passenden Leitfaden entwickelt. Bitte bei den beiden AutorInnen anklopfen!
Zu den Kontaktdaten:
Quellen:
Tagesanzeiger-Interview mit Malte Claussen, https://www.tagesanzeiger.ch/sport/weitere/wer-nach-der-tour-de-france-kuchen-ablehnt-hat-ein-problem/story/30490640
Allmer, H., & Kleinert, J. (2001). Psychische Erholung nach Erfolg und Misserfolg. in R. Seiler, D. Birrer, J. Schmid, & S. Valkanover (Hrsg.), Sportpsychologie: Anforderungen – Anwendungen – Auswirkungen. Internationale Fachtagung für Sportpsychologie 2001, 24.-26. Mai 2001 in Magglingen/Schweiz (S. 57-59). bps-Verlag.
Gubelmann (2011). Die Analyse zentraler Aspekte der Umfeldgestaltung im Leistungssport. Eine Bedürfnisabklärung im Schweizer Spitzensport (2. Teil). ESK/ETH Zürich: unveröff. Forschungsbericht.
Kallus, K.W. & Kellmann, M. (2016). RESTQ: The Recovery-Stress Questionnaires. Frankfurt: Pearson.
Keyes, C.L.M. (2002). The mental health continuum: From languishing to flourishing in life. Journal of Health and Social Behavior, vol.43/2, pp.207-222.
Küttel, A. & Larsen, C.H. (2019). Factors affecting elite athletes’ health: a systematic review. In: Strauss, Halberschmidt et al. (Eds). Abstract Book of the 15. FEPSAC Kongress, 15.-19. Juli 2019 in Münster, p.184.
Zusätzliche Quellen:
https://www.cyclegreateryellowstone.com/route-overview
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