Thorsten Loch: Wenn aus weniger mehr wird – Wie schwache Teams auch gegen Top-Gegner bestehen können (und umgekehrt)

Auf dem Trainingsplatz und in Trainingslagern bereiten sich die 18 Bundesligisten akribisch auf die neue Saison 2019/20 vor. Neben Kondition bolzen, um sich die nötige „Härte“ sich für die kommende Runde zu erarbeiten, stehen ebenfalls auch spieltaktische Aufgaben fest in jedem Trainingsprogramm. Ganz nebenbei gilt es auch noch, Neueinkäufe in das bestehende Teamgefüge zu integrieren und ggf. Abgänge zu kompensieren. Und an dieser Stelle wird es spannend. Das Ungleichgewicht der Finanzstärke zwischen den Spitzenclubs und den vermeintlichen „Kleineren“ ist deutlich zu erkennen. Es braucht als kreative Lösungsansätze, um im Konzert Bundesliga nicht nur die zweite Geige zu spielen. Hier stelle ich mir die Frage, ob die vermeintlichen „Underdogs“ mehr den Mannschaftsgeist beschwören müssen als die Top-Clubs, die gespickt sind mit Nationalspielern? Denn wenn man sich die Etas der verschieden Vereinen vor Augen führt, wird deutlich, mit welchen finanziellen Möglichkeiten die Vereine ausgestattet sind. Formell scheint die Meisterschale auf Jahre vergeben zu sein. Viele Fans wünsche sich die Saison 2008/09 zurück. Sechs verschiedene Teams grüßten damals von dem Platz an der Sonne. Eine solche Spannung treibt jedem Fussball-Liebhaber Tränen in die Augen. Insbesondere in jener Zeit, wenn man sich darüber freut, dass überhaupt mal wieder ein Verein dem FC Bayern München über einen längeren Zeitraum Paroli bieten kann. Doch weshalb war es überhaupt möglich, dass vermeintliche Underdogs wie der VfL Wolfsburg oder aber der Überraschungsmeister aus England – Leicester City 2015/16 – den Top-Clubs ein Bein stellen konnten? Sicherlich spielen eine Menge Faktoren in eine lange Saison mit hinein, jedoch lässt sich eine Tendenz bei den Titelträgern ausmachen. 

Zum Thema: Psychische Antriebsfaktoren und Auswirkungen auf die Teamleistung

Man kann nicht verallgemeinernd feststellen, dass die Leistungsfähigkeit einer Mannschaft größer sei als die Summe der Einzelleistungen. Würde diese Hypothese belastbar sein, so wären die nationalen und internationalen Titel auf Jahre hinaus vergeben. Dem ist „Gott sei Dank“ nicht so. So finden sich immer wieder Mannschaften, die sich aus Spitzenspielern zusammensetzen und gegen vermeintlich schwächer aufgestellte Teams verlieren. Oder aber, die schwächeren Mannschaften „über sich hinauswachsen“ und Leistungen vollbringen, die über die Summe der objektiven Einzelleistungen hinausgeht. 

Ursachen dieser verschiedenen Erscheinungen liegt in den mehr oder weniger bewussten psychischen Antriebsfaktoren, die den einzelnen Spieler dazu veranlassen, das jeweilige Potenzial entweder voll auszuschöpfen, es nur teilweise zu aktivieren oder es gar nicht über die individuelle Leistungsgrenze hinaus mobilisieren zu können. Als Erklärung können zwei Phänomene angeführt werden, deren Kenntnis für Trainer wertvoll sein kann, wenn es darum geht, die potenzielle Leistungsfähigkeit einer Mannschaft zu entfalten. 

Mehr zu Thorsten Loch: https://www.die-sportpsychologen.de/thorsten-loch/

Ringelmann-Effekt

Unter bestimmten Bedingungen kann man feststellen, dass die durchschnittliche Eigenleistung nachlässt, wenn Personen in Gruppen oder Mannschaften zusammenwirken. Ringelmann hat schon vor 100 Jahren in einer Studie beobachtet, dass beim Tauziehen große Unterschiede zwischen Einzel- und Mannschaftsleistungen feststellbar sind. In seinem Experiment beobachtete Ringelmann einzelne Personen und Mannschaften von zwei, drei und acht Probanden beim Tauziehen. Die Arbeitshypothese war Folgende: Wenn es keine Leistungseinbuße durch fehlerhafte Gruppenprozesse gäbe, dann könnte man, wenn jede Person 100 Pfund ziehen kann, daraus schließen, dass Mannschaften äquivalent zu ihrer Gruppengröße 200, 300 bzw. 800 Pfund ziehen könnten. Die Untersuchungsergebnisse konnten diese Annahmen jedoch nicht bestätigen (Baumann, 2002). 

Trotzdem ließ die relevante Leistung jedes Mitglieds zunehmend nach, je mehr Mitglieder die Mannschaft bekam. Dies bedeutete in Zahlen, dass eine Gruppe von zwei Personen nur noch 93% ihre individuellen Leistungspotentials zogen. Eine Mannschaft von drei Teammitgliedern nur noch 85% und acht Personen zogen nur noch 49%. Ingham et al. (1974) wiederholten die Untersuchungen und kamen zu ähnlichen Ergebnissen (siehe Tab. 1). 

Beziehung zwischen Gruppengröße und Leistung (Tauziehen)
Prozent der potenziellen Leistungsfähigkeit bei Mannschaften mit unterschiedlichen Mitgliederzahlen
Mitgliederzahl: 12345678
RINGELMANN-Studie1009385



49
INGHAM (Studie I)1009182787878

INGHAM (Studie II)1009085868485

Tabelle 1: Ringelmann – Studie 

Um herauszufinden, ob Leistungsverluste bei steigender Mitgliederzahl in der Mannschaft auf mangelnde Koordination oder geringer Motivation zurückzuführen seien, hat man die Koordination als Faktor heraus genommen. Man verband den Einzelnen die Augen und ließ sie in dem Glauben, dass die übrigen Mitglieder ebenfalls mitziehen würden, was diese aber nicht taten. Auch unter diesen Bedingungen fiel die Leistung bis zu einer Gruppenstärke von drei Mitgliedern ab. In der Psychologie wird dieses Phänomen – wenn Einzelne in der Mannschaft sich weniger als 100% anstrengen – als „Trittbrettfahrer“ bezeichnet. Weinberg und Gould (1995) sehen hierfür Gründe in unbewussten Motivationsverlusten.

Soziale Faulheit

Wie bereits erwähnt, konnte man in Untersuchungen feststellen, dass die durchschnittliche Einzelleistung nachlässt, wenn Mitglieder in Gruppen zusammenarbeiten und dabei ihre eigene Leistung nicht klar beurteilen können – wie beispielsweise beim Tauziehen oder innerhalb einer Rudermannschaft. Dieser als „soziale Faulheit“ (Oehlert, 2009) bezeichnete Leistungsabfall ist ebenfalls feststellbar, wenn die Leistung des Einzelnen auch von Außenstehenden nicht klar beurteilt werden kann. Zum Beispiel ist die individuelle Leistung eines Spielers innerhalb einer Mannschaft meist nicht eindeutig feststellbar, es sei denn, er sticht durch besonders brillante Einzelaktionen hervor. Wenn eine Mannschaft eine geschlossene Mannschaftsleistung zeigt, fällt es dem Beobachter schwer, den Beitrag den Einzelnen zu erkennen und zu bewerten. 

Die Neigung, sein volles Leistungspotential in der Mannschaft nicht auszuschöpfen, wird also begünstigt, wenn Vergleichsprozesse mit anderen fehlen oder der Sportler in einer gewissen Anonymität des Kollektivs untergeht.

Nach Weinberg/Gould (1995) können die im Folgenden genannten Gründe als Ursachen für das Entstehen von „sozialer Faulheit“ angesehen werden:

  • Sportler glauben, dass die Mannschaftskameraden weniger motiviert sind als sie selbst und strengen sich weniger an, weil die nicht die Rolle des Trottels übernehmen wollen.
  • Sportler meinen, dass sie sich nicht wirklich anstrengen müssen, da die Teammitglieder ihren Part sowieso übernehmen.
  • Sportler haben den Eindruck, dass sich Anstrengung nicht lohnt, da sie sowieso in der Menge untergehen.
  • Sportler versuchen, sich in der Menge zu verstecken, um so die negativen Folgen des Faulenzens zu vermeiden („Trittbrettfahrer“).

Fazit 

Was heißt das jetzt für die Underdogs in der Liga? Die vermeintlich Kleinen müssen sich also kreative Lösungen einfallen lassen, damit sie im Konzert mit den Großen bestehen können. Neben den ganzen individuellen fussballspezifischen Fähig- und Fertigkeiten haben wir feststellen können, dass der Mannschaftsgeist eine nicht zu unterschätzender Rolle einnimmt. Wenn man die Ergebnisse von Ringelmann zu Rate zieht, ist es erstaunlich, welches Potential verschenkt wird. Fast die Hälfte der individuellen Leistungsgrenze wird nicht abgerufen. Dieser Fakt stellt gleichzeitig auch eine große Chance da, wie Friedhelm Funkel (siehe Literatur) deutlich machte: 

„Wir wollen Spieler, die sich bei uns beweisen wollen. Wichtig ist für Fortuna, dass wir Mentalitätsspieler holen, dass wir charakterstarke Spieler holen – und dann ist es meine Aufgabe, diese in die Mannschaft einzubauen.“

Friedhelm Funkel, Trainer Fortuna Düsseldorf

Funkel hat erkannt, welche Rolle insbesondere der Trainer in diesem Prozess einnimmt. Welche Möglichkeiten dem Trainer zur Verfügung stehen, um „soziale Faulheit“ innerhalb des Teams zu umgehen, wird Gegenstand meines nächsten Beitrages sein. Wer schon früher etwas zum Thema haben möchte, kann gern Kontakt aufnehmen (zum Profil von Thorsten Loch). Spannende Ideen haben darüber hinaus auch meine Kollegen und Koleginnen zum Thema zu bieten (zur Übersicht). 

Mehr zum Thema:

https://www.die-sportpsychologen.de/2017/06/29/elvina-abdullaeva-saisonvorbereitung-fuer-gewinner/
https://www.die-sportpsychologen.de/2019/07/18/kathrin-seufert-als-profi-einfach-mal-loslassen-geht-das-ueberhaupt/
https://www.die-sportpsychologen.de/2018/02/06/markus-gretz-fluch-und-segen-des-underdogs/

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Literatur: 

Baumann, S.: Mannschaftspsychologie – Methoden und Techniken. Meyer&Meyer Verlag, Aachen 2002.

Ingham, A. G., Levinger, G., Graves, J. & Peckham, V.: The Ringelmann Effect: Studies of Group Size and Group Performance. In: Journal of Experimental Social Psychology 1974, 371-384.

Ohlert, J.: Teamleistung. Social Loafing in der Vorbereitung auf eine Gruppenaufgabe. Verlag Dr. Kovac, Hamburg 2009

Weinberg, R. & Gould, D.: Formations of Sport and Exercise Psychology. Champaign 1995:

https://rp-online.de/sport/fussball/fortuna/fortuna-duesseldorf-die-kleinen-im-konzert-der-grossen_aid-22368119 Zugriff: 26.07.2019, 20:15. 

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Thorsten Loch
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