Schauplatz Schladming, Skiweltcup-Nachtsalom der Superlative, zweiter Durchgang: 40.000 Zuschauer verwandeln die im gleissenden Scheinwerferlicht erstrahlende Skiarena in einen brodelnden Hexenkessel. Mitfavorit Henrik Kristoffersen (NOR) katapultiert sich als 5. Platzierter des 1. Durchgangs hinein in den Stangenwald und scheidet schon nach wenigen Toren aus, hadert mit sich und dem Schicksal. Das Rennen wird kurz unterbrochen, was dem Kameramann im Starthaus die Möglichkeit eröffnet, den nachfolgenden Slalomläufer in seiner ultimativen Vorbereitungsphase zu filmen. Ein Millionen-TV-Publikum wird so Zeuge, wie Ramon Zenhäusern (CH) „wie ein Tier auf dem Sprung“ agiert und ein ohrenbetäubendes Gebrüll erschallen lässt. Wieso macht er dieses „Theater“, ähnlich jenem von Manfred Pranger (AUT), der sich einst am Start vergleichbar „tierisch wild“ verhielt? Wie entsteht ein derartiges Handlungsmuster, welches im Idealfall zur leistungsfördernden Handlungsroutine oder zum Ritual wird?
Zum Thema: Den optimalen Vorstartzustand herstellen
Im Anschluss an seinem hervorragenden Slalomlauf wird Ramon Zenhäusern vom Schweizer Fernsehen zu seinem Vorstartverhalten befragt: „Ich bin wie ein Tier vor dem Sprung und schreie meine Angst heraus.“ In einem weiteren Kommentar meint der Walliser, dass ihm dieses laute „Rumoren“ Sicherheit und Kraft verleihe, ihn aber auch von störenden Gedanken fernhalte.
Zum Video von Ramon Zenhäusern (https://www.bernerzeitung.ch/sport/wintersport/so-schreit-sich-ramon-zenhaeusern-warm/story/27889945)
Routine und Rituale
Zunächst gilt es, die Begriffe «Ritual» und «Routine» inhaltlich zu unterscheiden. Eine Routine ist eine Handlungskette, die zum Beispiel ein Tennisspieler bei der Vorbereitung des Aufschlags vollzieht. Der gewohnte Bewegungsablauf hilft ihm, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und sich in einen Zustand zu bringen, in dem er optimal leistungsfähig ist. Bei Ritualen nähern wir uns einem ursprünglich religiös besetzten Thema. Hier spielt vor allem der Glaube an eine wirkmächtige Vitalkraft eine Rolle, die z.B. beim Haka, dem rituellen Tanz der neuseeländischen Rugby-Nationalmannschaft sehr offensichtlich wird. Haka hat einen kulturhistorischen und religiösen Hintergrund, der Tanz soll Kräfte mobilisieren und emotionalisieren. Für die Mannschaft ist der Haka elementar wichtig, er schafft Identität.
Info:
Link zum Artikel “Rituale sind kein Hokuspokus” der Berner Zeitung: https://www.bernerzeitung.ch/sport/tennis/rituale-sind-kein-hokuspokus-sondern-selbstkontrolle/story/14785810
Im Sport werden die beiden Begrifflichkeiten sehr häufig synonym verwendet. Am Beispiel des Slalomfahrers wird erkennbar, dass sein Verhalten selbstgeleitet ist und mutmasslich in Eigenregie entwickelt wurde. In der Sportpsychologie sprechen wir von so genannten „naiven psychoregulativen Techniken der Selbstbeeinflussung“ (Nitsch & Allmer, 1979). Passend zum Individuum dienen diese Verhaltensweisen der Stärkung der Widerstandskraft (Persistenz) und der Selbstwirksamkeitsüberzeugung, was sich wiederum positiv auf die Wettkampfleistung auswirken soll.
Übrigens: Marcel Hirscher macht es auch!
Marcel Hirscher in Schladming 2019 (Quelle: Eurosport)
Ein ähnliches Vorgehen, wenn auch etwas ruhiger und gefasster, wählt Marcel Hirscher. In seinem Verhalten widerspiegelt sich ein hoher Grad an Fokussierung, Selbstbekräftigung und Handlungsplanung. Seine auffordernden Selbstgespräche sind hörbar und führen ihn in jenen idealen Vorstartzustand, aus dem jene formidable Leistung entspringt, die ihn schliesslich zum überlegenen Sieg führt.
Beispiel: Idealer Vorstartzustand beim Stabhochsprung (vgl. Gubelmann, 1999)
Das Erreichen eines idealen Wettkampfzustandes in der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung gelingt im Spitzenbereich hauptsächlich mittels Einsatz gut funktionierender Handlungsroutinen. Konkrete Handlungsanweisungen und Umsetzungshilfen für Athleten und Trainer sind rar. Ein methodisches Vorgehen in der Ausgestaltung des Vorbereitungs-Dreiklangs „Handlungsplanung, -sicherheit und –aktivierung“ skizziert Kratzer (2013) in Form einer „PsychoRegulativen Einheit“ (PRE). Dieses in der Sportpraxis bewährte Verfahren basiert auf Atemübungen, Selbstbefehlen (Selbstinstruktionen) und mentalen (Vorstellungs-)Übungen. Das nachfolgende PRE-Beispiel erläutert die Vorgehensweise in der Disziplin Stabhochsprung im Rahmen der unmittelbaren Sprungvorbereitung im Wettkampf. In der Anwendung müssen immer die individuellen Bedingungen (Leistungsniveau) und disziplinenspezifischen Voraussetzungen (Sportart, Disziplin) berücksichtigt werden. Erst mit einer systematischen Entwicklung der passenden Inhalte (z.B. Atem- und Vorstellungsübungen) und dem Beherrschen der Technik (Training) erarbeitet sich der Athlet jene Zuverlässigkeit, die in der Vorstartphase des Wettkampfsprungs unabdingbar ist.
Beispiel Stabhochsprung (vgl. Lobinger, Hohmann & Nicklisch, 2010): Nach Ansage des Funktionärs (Kampfgericht) stehen dem Springer 60“ Sekunden Zeit bis zur Sprunginitiierung zur Verfügung. Davor orientiert sich der Stabhochspringer am vorherigen Springer und beginnt frühzeitig mit einigen Orientierungsmassnahmen (Stabwahl, Kleber prüfen, Bekleidung ablegen, usw.) Anschliessend betritt er die Anlaufbahn und macht sich bei seiner Ablaufmarkierung bereit. Er überprüft den Wind, stellt den Stab in Position und kontrolliert seinen Griff am Stab. Rund 45 sec vor Anlaufinitiierung setzt die PRE ein.
„PsychoRegulative Einheit“ (PRE)
- Der Athlet konzentriert sich auf seine Atmung und nutzt eine eher beruhigende Form mit Betonung der Ausatmung, verbunden mit formelhaften Vorsätzen „Ich bin ganz ruhig, voll konzentriert!“,
- anschliessendes Vorstellen des optimalen Bewegungsablaufes (z.B. Anlaufgestaltung, Kontrollmarke, Absprung/Einstich, Einrollen, Lattenüberquerung)
- verbunden mit einer energetisierenden Selbstinstruktion („hoher, schneller Anlauf, explosiver Abdruck! – go!” (zusätzlich unterstützt mit 2 schnellen Atemstössen und körperlicher Aktivierung) – Anlaufinitiierung.
Wichtig ist, dass es sich bei der beschriebenen PRE nicht um ein starres System handelt. Vielmehr empfiehlt sie sich als eine vielseitig anwendbare Strategie der Wettkampfvorbereitung, die eine Anpassung an die Problemspezifik der jeweiligen Disziplin erlaubt und in wettkampfnahen Trainingseinheiten entwickelt und modifiziert wird. Selbstsicherheit in schwierigen Wettkampfsituationen verbunden mit der Überzeugung, die „Sache im Griff zu haben“ sind häufig genannte Vorzüge dieser Vorbereitungsroutine.
https://www.die-sportpsychologen.de/2019/01/04/kathrin-seufert-nutzung-von-vorstartroutinen/
Quellen:
Gubelmann, H. (1999). Psychoregulatives Training im Zehnkampf: Eine Fallstudie. In: D. Alfermann & O. Stoll (Hrsg.). Motivation und Volition im Sport – Vom Planen zum Handeln. Köln: bps-Verlag, S.237-243.
Kratzer, H. (2013). Psychologie für Sportschützen. Berlin: epubli GmbH.
Lobinger, B., Hohmann, T. & Nicklisch, A. (2010). Analyse subjektiver und objektiver Auswirkungen von Regeländerungen im Stabhochsprung. Zeitschrift für Sportpsychologie 17, pp-12-20. https://doi.org/10.1026/1612-5010/a000002
Nitsch, J. & Allmer, H. (1979). Naive psychoregulative Techniken der Selbstbeeinflussung. Sportwissenschaft 9/2, pp.143-163. https://doi.org/10.1007/BF03177089
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