Katharina Petereit: Gelbe Gefahr für Island

Ganze neun Spieler der isländischen Nationalmannschaft sind im EM-Viertelfinale gegen Frankreich akut gefährdet, in einem möglichen Halbfinale zuschauen zu müssen. Und so, wie die Isländer bislang aufgetreten sind, ist dieses verrückte Szenario nicht ganz unwahrscheinlich: Zum einen, dass sich die großen Außenseiter und internationalen Sympathieträger am Sonntagabend so manchen weiteren gelben Karton abholen werden. Zum anderen, dass selbst gegen Frankreich der Einzug ins Halbfinale möglich ist. Aber wie sollen die Spieler, die gefährdet sind und fast alle zum absoluten Stammpersonal gehören, nun in diese Partie gehen? Werden Sie, wegen des Traums einer persönlichen Teilnahme am Halbfinale gehemmt agieren, oder geben Sie im Viertelfinal kompromisslos wie bislang im gesamten Turnier Vollgas? 

Zum Thema: Wie lässt sich mit der Angst vor einer Sperre befreit aufspielen?

Bildschirmfoto 2016-07-03 um 12.13.27Eine gelbe Karte impliziert eine persönliche Verwarnung seitens des Schiedsrichters hinsichtlich eines harten Fouls oder unsportlichen Verhaltens eines Spielers. Laut einer Studie von Memmert et al. (2008) wird diese in der ersten Viertelstunde eines Spiels signifikant weniger verteilt als im restlichen Spiel. In dieser Zeit entwickelt der Schiedsrichter eine Art Kalibrierungsverfahren für das laufende Spiel. Ob diese Zeit auch von Seiten der Spieler taktisch genutzt wird und in den Anfangsminuten mehr Fouls gewagt werden, hängt sicherlich von dem Spielsystem und der Bedeutung des Spiels ab. Für Island hat das Spiel gegen Frankreich eine große Bedeutung, auch wenn sie bisher schon Großes geleistet haben und bereits sehr stolz auf sich sein können. Dieser Erfolg könnte die isländische Mannschaft so sehr beflügeln, dass sie mehr wollen und sich mit “allen Mitteln” ins Halbfinale kämpfen wollen. Die neun gelben Karten sind nicht zuletzt der recht defensiven Spielweise geschuldet. Frankreichs Defensive hat in den letzten Spielen aber immer mal wieder gewackelt. Mit Blick auf die gelben Karten und Frankreichs Spielsystem, wäre eine Umstellung der Spielweise der Isländer also möglich. Allerdings würde damit auch die Gefahr für die isländischen Spieler steigen, bei Ballverlusten taktische Fouls zu begehen, die laut Regelwerk zwingend gelbe Karten nach sich ziehen.

Angst vor Gelbsperre = Sperre im Kopf?

Wie bereits oben erwähnt, können Gelb-Vorbelastungen sicherlich den ein oder anderen Spieler in seinen Zweikämpfen hemmen. Wenn der Gedanke an eine mögliche Gelbsperre sein Spiel dominiert, kann dies zu einem Fokusverlust führen und die Konzentration aufs Wesentliche stark beeinflussen. Ohne Frage ist hier auch wichtig, wie die Trainer Lars Lagerbäck und Heimir Hallgrimsson mit vorbelasteten Spielern umgehen und welche Ansagen sie vor dem Spiel und gegebenenfalls in der Halbzeitpause machen. Der funktionale Umgang mit einer gelben Karte ist unumgänglich für das folgende Spiel. Gewiss sollte ein vorbelasteter Spieler sich darüber Gedanken machen, wie er sich verhalten wird und sich eventuell innerhalb des Spiels Grenzen setzen, wenn er merkt, dass er gefährdet ist, eine weitere gelbe Karte zu kassieren. Allerdings muss dabei immer die jeweilige Phase des Spiels, der Spielstand und die vorangegangenen Aktionen berücksichtigt werden. Vor allem im Fall der Isländer ist es wichtig, dass die Mannschaft befreit aufspielt, so als sei es ihr letztes Spiel und die Spieler versuchen, das mögliche Halbfinale auszublenden. Dysfunktionale und somit störende Gedanken können zur einer Leistungsminderung und unnötigen Zurückhaltung führen. Wenn die vorbelasteten Spieler ausschließlich darauf achten, dass keine, aber häufig notwendige Fouls passieren, kann sowohl die Defensive darunter leiden als auch die gesamte Teamarbeit, die die isländische Nationalmannschaft doch so besonders macht.

Die gelben Karten stellen sicherlich in gewisser Weise eine Art Bremse dar. Doch hoffentlich können die Isländer trotzdem Vollgas fahren und die “gelbe Gefahr” wird nicht zum Handicap.

 

 

Weiterführende Literatur:

Memmert, D., Unkelbach, C., Ertmer, J. & Rechner, M. (2008). Gelb oder kein Gelb? : Persönliche Verwarnungen im Fußball als Kalibrierungsproblem. Zeitschrift für Sportpsychologie, 15, 1-11.

Weiterführende Links:

http://www.psychologie-fussball.de/2013/05/16/wie-du-st%C3%B6rgedanken-ausschalten-kannst/

http://www.psychologie-fussball.de/2013/05/29/mit-ungerechtigkeit-leben-lernen/

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Katharina Petereit
Katharina Petereithttp://www.die-sportpsychologen.de/katharina-petereit/

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Münster, Deutschland

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