Für die-sportpsychologen.ch berichtet:
Simon Brechbühler
Der 29-Jährige ist seit 2010 Trainer der deutschen Floorball Damen-Nationalmannschaft. In dieser Zeit führte der Schweizer das Team bis auf Platz sechs der Welt. Als Vereinstrainer war er lange Jahre im Nachwuchsbereich aktiv und coachte das Damen-Team der Burgdorf Wizards in der Nationalliga A. Aktuell gehört zum Trainerstab des Herren Nationalliga A-Teams Waldkirch St. Gallen.
Info: Fairplaid-Kampagne des deutschen U19 Floorball Damen-Nationalteams
Die Dynamik war unglaublich. “Wie eine Lawine erwischte uns der Moment”, erinnert sich Simon Brechbühler an den 8. Dezember 2011. Vier Minuten vor dem Ende des Platzierungsmatches gegen Russland führte sein deutsches Team sicher mit 6:4, dann passierte ein sportlich folgenschwerer Unfall: Die damals 17-jährige Pauline Baumgarten flog nach einem Zweikampf im hohen Bogen über die Bande, landete auf drei verwaisten Stühlen der Wechselzone und schleuderte von dort gegen die Tribünenwand. Sie erlitt eine Platzwunde, blutete stark und war zwischenzeitlich bewusstlos.
Mit Wiederbeginn der Partie wurde Pauline Baumgarten gerade regungslos auf einer Trage an der deutschen Bank vorbei zum Krankenwagen transportiert – in diesem Moment fiel der Anschlusstreffer. Wenige Sekunden später glichen die Russinnen per Fernschuss von der Mittelinie zum 6:6 aus und erzwangen damit die Verlängerung, in der die Osteuropäerinnen passiv auf die zu erwartenden deutschen Fehler warteten. Und diese kamen. In der achten Minute der Overtime setzte Russland den Schlussakkord einer denkwürdigen Partie.
Simon Brechbühler, in den deutschen Medien äußertest du damals, dass die Mannschaft mit der Verletzung mental zusammengebrochen sei. Wie hast du die Situation erlebt?
Das war eine sehr besondere Situation. Die Mannschaft war von einer Sekunde auf die andere nicht mehr vorhanden. Ich habe zwar mit den Spielerinnen gesprochen, sie allerdings mit keinem Wort erreicht. Wir standen sogar vor dem Problem, eine physisch spielfähige Mannschaft auf das Feld zu bekommen, da zahlreiche Spielerinnen kurz zuvor mit Weinkrämpfen regelrecht zusammengebrochen waren.
Wie hast du versucht, zu reagieren?
Die Bilder des Unfalls haben uns alle erschüttert, keine Frage. Allerdings informierten die Betreuer sehr schnell, dass es nicht so schlimm sei wie es aussah. Allerdings gelang es nicht, diese Nachrichten weiterzugeben. Es kamen einfach viele Dinge zusammen: Pauli war mit 17 Jahren damals das Küken der Mannschaft, insofern hatte sie im Team eine besondere Rolle und wurde sozuagen von allen anderen beschützt. Dazu war die Szenerie gespenstisch: Das Anfahren des Rettungswagens ließ zum Beispiel die gesamte Glasfront der Arena flackend blau erstrahlen. Und ebenso ungünstig war, dass unsere Verletzte dann von den Rettungskräften direkt an allen Spielerinnen vorbeigetragen wurde, anstatt sie im Rücken der Wechselbank vorbeizutragen.
Was hast dich diese Erfahrung gelehrt?
Dass es immer wieder Situationen geben wird, die nicht vorauszusehen sind.
Kurios: Damals saß der deutsche Sportpsychologe Prof. Dr. Oliver Stoll auf der Tribüne. Der Leipziger war langjähriger Präsident von Floorball Deutschland und verfolgte nach einer Tagung des Weltverbandes die Schlussminuten der Partie live in der Halle. Stoll entschied sich in der konkreten Situation, nicht zu intervenieren: “Wenn ich dort vor die Mannschaft getreten wäre, ohne im Team als Sportpsychologe vorgestellt und akzeptiert zu sein, hätte ich den Trainer innerhalb von wenigen Sekunden entmachtet”.
Simon Brechbühler, hättest du dir in der konkreten Situation einen Sportpsychologen an deiner Seite gewünscht?
Nicht unbedingt in der konkreten Situation. Ich würde mir vielmehr sportpsychologische Inhalte in der täglichen Trainingsarbeit und in der Ausbildung wünschen. Hier haben wir sowohl in der Schweiz und auch in Deutschland noch echten Nachholebedarf. Allein aus finanziellen Gründen sind wir noch weit davon entfernt, mit Sportpsychologen im Trainerteam zu arbeiten.
Was können Sportpsychologen, was ein Trainer nicht kann?
Sportpsychologen haben einen anderen Zugang zu Spielern, als dies Trainer haben. Als Trainer bist du Entscheidungsträger. Dies verunmöglicht in gewissen Situationen ein bedingungslos ehrlicher Austausch zwischen Spieler und Trainer, die Spieler müssten gegebenenfalls mit einer Konsequenz rechnen. Weiter hast du als Trainer eine Verantwortung gegenüber dem Team. Egal wie wertvoll ein einzelner Spieler ist. Du entscheidest immer für eine Mannschaft und nicht für einen Spieler. Der Sportpsychologe kann ohne Entscheidungsgewalt und ohne Teaminteressen sich vollumfänglich um die Unterstützung eines einzelnen Spielers kümmern und dadurch im mentalen Bereich viel mehr in die Tiefe arbeiten, als dies ein Trainer erreicht. Dazu kommt, dass das fachliche Wissen von Trainern oft beschränkt ist.
Siehst du Besonderheiten zwischen Damen- und Herren Teams im Umgang mit dem Thema Sportpsychologie?
Ich denke, dass beide Geschlechter sehr empfänglich sein können für Sportpsychologie. Bei Jungs im adoleszenten Alter muss vermutlich zuerst etwas Nähe geschaffen werden, während bei den Mädels die Schamgrenze in diesem Alter überwunden werden muss. Bei erwachsenen Leistungssportlern wird jedoch kaum ein stereotyper Unterschied ausgemacht werden können.
Gemeinsam mit Pauline Baumgarten feierte Brechbühler im Dezember 2015 den grössten Erfolg des deutschen Damen-Unihockeys: Bei der WM in Finnland wurde das Team Sechster. Aktuell bereitet Brechbühler als Verantwortlicher von Floorball Deutschland für den Damenbereich die U19 Damen-WM in Kanada vor. Brechbühler: “Unsere finanzielle Situation schaut so aus, dass wir eine Crowdfunding-Kampagne starten mussten, um sicherzustellen, dass alle Nationalspielerinnen mitfliegen können. Denn einen Großteil der Kosten tragen die Aktiven selbst. Dieser Gesamtumstand macht es also schwer über Sportpsychologen im Funktionsteam nachzudenken: Aber vielleicht können wir in der Schweiz oder in Deutschland zukünftig Studenten oder Berufseinsteiger begeistern, Vereins- oder Auswahlteams begeistern. Unserer Sportart würde der fachliche Input zweifelsfrei nutzen.”
Hinweis: Autor Mathias Liebing, Redaktionsleiter von die-sportpsychologen.ch, ist seit 2008 bei Floorball Deutschland verantwortlich für den Marketing- und Öffentlichkeitsarbeitsbereich.
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