Dr. Hanspeter Gubelmann: Comeback im Spitzensport – Wenn sich der innere Zwang nicht mehr bremsen lässt

Lindsey Vonn, Therese Johaug, Marcel Hirscher, Iouri Podladtchikov – vier Olympiassieger*Innen und Aushängeschilder ihrer Sportarten, die neben ausserordentlichen sportlichen Meriten aktuell vor allem eine Gemeinsamkeit in den Schlagzeilen der Sport-News teilen: Sie kehren praktisch zeitgleich zurück ins Scheinwerferlicht des Spitzensports. 10vor10, die News-Sendung des Schweizer Fernsehens, wollte von mir wissen, ob dies einem neuen Trend entspräche? – „Eher zufällig,“ meine Antwort. Viel Raum für eine psychologische Einordnung blieb nicht. Weshalb das Phänomen Comeback eine besondere Herausforderung für mich darstellt, möchte ich am Beispiel dieser Medienanfrage darlegen.

Zum Thema: Von einer Medienanfrage zur mentalen Checkliste für Comebacker*Innen

Auch das gehört zu meinem Arbeitsalltag als Sportpsychologe! Freitagmorgen um 09.45 Uhr bekomme ich vom Schweizer Fernsehen einen Anruf mit der Anfrage, ob ich mich für eine Expertenmeinung in der Sendung 10vor10 zur Verfügung stellen würde. Thema: die sportpsychologischen Hintergründe zahlreicher Comeback-Versuche sehr bekannter Sportgrössen, die aktuell die Sportszene entzücken. Es entwickelt sich ein kurzes Gespräch zu Erklärungsansätzen, die mir spontan einfallen. Dann bitte ich die Produzentin um eine halbstündige Pause, damit ich meinen Tag so organisieren kann, dass der Dreh möglich wird. 

Wir verabreden uns auf einen Treff um 14.00 Uhr im Fernsehzentrum Leutschenbach. Ich nutze die Zeit (drei Stunden!), um mich auf den Take vorzubereiten. Ich ordne die „Fälle“: Zuvorderst, weil Aufhänger der Story: Iouri Podladtchikov (36), CH-Olympiasieger 2014, Marcel Hirscher, Austria-Ski-Überflieger der alles gewonnen hat (36), Lindsey Vonn, US-Ski-Ikone wie Hirscher (40), Therese Johaug, lebende Ski Nordisch-Legende (36), Lucas Pinheiro Brathen, Neo-Brasil-Stangenakrobat mit Starpotential (25). Eine höchst illustre Gruppe denke ich und überlege mir verschiedene Perspektiven, wie ich das Phänomen Comeback beschreiben kann, ohne den Athlet*Innen etwas „anzudichten“. Keine Ferndiagnose also, sondern der ernsthafte Versuch zu erklären und zu erläutern, was die Sportpsychologie an Erkenntnissen bereithält. Am Ende habe ich viel nachgelesen, zusammengefasst und einige Statements vorbereitet. Ich mache mich auf den Weg nach Zürich, gutes Material im Gepäck und ready für eine spannende Diskussion. Mir ist aber auch klar: Es werden maximal zwei Sätze sein, die am Ende in den Bericht einfliessen werden. 

Comeback ist nicht gleich Comeback

Und genauso geschieht es. Der Dreh ist kurz und animiert, ich sage viel und erkläre leichtfüssig, zuweilen fühle ich mich in einem schönen Redefluss. Zuhause angekommen beginne ich mit dem Vertexten meiner Gedanken. Die Beispiele passen sehr gut zum Themenschwerpunkt „Karriere im Leistungssport – und danach“ meiner Vorlesung Sportpsychologie an der ETH Zürich. Dazu will ich eben diesen Blog schreiben. Abends um 10vor10 wird der Beitrag (siehe Link unten) gesendet, bildgewaltig mit vielen Sportszenen der Protagonist*Innen und wenig Kommentar. So viel Arbeit für gerade mal 30 Sekunden TV-Zeit – grandioser Aufwand und sonst?

Zunächst eine Anmerkung zur Frage nach einem Trend in der Comeback-Thematik. Mein „zufällig“, welches ich spontan der SRF-Journalistin entgegnete, bezieht sich auf den Umstand, dass es auch schon früher namhafte Comeback-Versuche gab. Zu den im deutschsprachigen Raum vielbeachteten zählten sicher jene von Michael Schumacher, Katharina Witt und Martina Hingis. Auch sie Weltstars in ihren Sportarten kehrten auf die internationale Bühne zurück, der grosse sportliche Erfolg blieb indes aus. Einen möglichen Grund zur aktuellen Häufung sehe ich im Fakt, dass in einem Jahr die Olympischen Spiele 2026 in Mailand anstehen. Im Alter von 35 Jahren oder mehr dürften die zeitlichen Ressourcen für eine 2. Sportkarriere auf wenige Jahre beschränkt bleiben. Andererseits braucht es ein trainingstechnisch und zeitlich optimal gestaltetes Vorbereitungsprogramm, um sich nach jahrelanger Wettkampfabstinenz wieder in Richtung Weltspitze zu orientieren. Wichtig: Hinsichtlich der Erfolgsaussichten der individuellen Comeback-Versuche will ich mich nicht äussern, wohl aber zu Einflussgrössen, die die Erfolgswahrscheinlichkeit mitbestimmen. Dazu zähle ich den zeitlichen Abstand zum damaligen Karriereende, die besonderen Umstände, die damals zum zwischenzeitlichen Laufbahnende geführt hatten, die technische Weiterentwicklung der Sportart seither, aber auch das spezifische Anforderungsprofil der Disziplin. So scheinen Spitzenleistungen in Ausdauersportarten in höherem Alter einfacher zu erreichen als in technisch-schnellkräftigen, kompositorischen Sportarten. Oder anders ausgedrückt: Der 36-jährigen Therese Johaug dürfte es eher gelingen, den anvisierten WM-Titel über 50km in Trondheim zu gewinnen als dem gleichaltrigen Snowboarder Iouri Podladtchikov ein Medaillengewinn an den kommenden Olympischen Spielen. 

Mentale Checkliste für Comebacker*Innen

Die Zusammenarbeit mit Spitzensportler*Innen setzt voraus, dass ich mich mit dem Thema „Karriere im Spitzensport – und danach“ auseinandersetze. Das Thema „Comeback“ – also das Wiederaufnehmen einer ursprünglich beendeten Karriere im Spitzensport zählt für mich zu den möglichen Ausprägungsformen einer sportlichen Laufbahn. Interessanterweise habe ich in den 35 Jahren meiner Berufstätigkeit im Spitzensport noch nie ein Comeback der oben beschriebenen Art begleitet. Ich verweise hier ausdrücklich auf andere Comeback-Situationen – wie z.B. nach überstandener Kreuzbandverletzung – mit denen ich häufiger konfrontiert war, die sich aber in ihrer mentalen Bedingtheiten deutlich von jenen der Johaugs & Co. unterscheiden. Im Übrigen fristet das Thema „Comeback im Spitzensport“ im wissenschaftlichen Kontext ein Mauerblümchendasein. Anhand einer Medienanalyse fassen Cosh et al. (2012) die Gründe für ein Comeback im Spitzensport folgendermassen zusammen: „Returning to compete in elite sport was routinely depicted in media accounts as something that is not chosen, but as driven by emotion, compulsion and a need to play.“ 

Comeback nur aus Zwang, getrieben von Emotionen und dem Bedürfnis zu spielen und performen? Alternativ und um im Bedarfsfall als Sportpsychologe gewappnet zu sein, schlage ich eine „mentale Checkliste für Comebacker*Innen“ mit sieben Fragestellungen vor. Hinzu kommen selbstverständlich (da zwingend notwendig) weitere medizinische, sportspezifische, trainingstechnische, finanzielle u.a. Überlegungen, auf die ich hier nicht eingehen kann.

Mentale Checkliste für Comebacker*Innen

  • Sinnhaftigkeit: Was bedeutet mir die Rückkehr ins Scheinwerferlicht des Spitzensports?
  • Athlet*Innen Identität: Wie sehe, erlebe, spüre ich mich als Comebacker*in. Wie hat mich die Zeit ohne den Spitzensport verändert?
  • Erwartungshaltung, Motive und Zielsetzungen: Wo stehe ich heute und welche Erwartungen habe ich an mich? Was möchte ich erreichen?
  • Rückschau auf meine erste Karriere und das damalige Karriereende: Wie erlebe/beschreibe ich den damaligen Rücktritt aus heutiger Sicht? Was hat sich heute verändert, was möchte ich mit meinem Comeback für mich verändern?
  • Aktualisierung Wettkampf-Ich: Mein Mindset: Wie bekomme ich meine mentale Stärke wieder auf Weltklasse-Niveau? Wie stärke ich meine mentale Gesundheit?
  • Soziales Umfeld: Unterstützt mein privates Umfeld meine Comeback-Absichten? 
  • Öffentlichkeitsarbeit: Wie gestalte ich meinen Umgang mit den (sozialen) Medien und der öffentlichen Erwartungshaltung? Was sind meine Kernbotschaften?

Comeback als Wagnis

Je mehr ich mich in die Thematik vertiefe, desto stärker wird mir bewusst: Ob und allenfalls wie Comebacks im Spitzensport erfolgreich verlaufen, dürfte von zahlreichen Faktoren und Zusammenhängen beeinflusst sein. Die beiden Comeback-Versuche von Marcel Hirscher und Lucas Pinheiro Braten – obwohl auf exakt gleicher Sportbühne im Ski alpin ausgetragen – könnten unterschiedlicher nicht sein. Ihnen gemeinsam ist, dass beide Skifahrer mit grossem Einsatz erneut nach sportlichem Erfolg streben. Gemeinsamer Begleiter ist aber auch das Wagnis, welches beide eingehen. Ein Restrisiko hinsichtlich eines Scheiterns bleibt. Aus sportpsychologischer Sicht möchte ich diesem Restrisiko die Idee verstärkter Selbstreflexion entgegenhalten und die beiden Sportler fragen: Was denkst du, wenn du in den Spiegel schaust?

Ein Blick in die aktuellen Resultatlisten zeigt: Therese Johaug gewinnt souverän die Tour de Ski. Lindsey Vonn nähert sich in den Speeddisziplinen den Podestplätzen, die Lucas Pinheiro Braten schon erreicht hat. Marcel Hirscher hingegen reisst sich im Training das Kreuzband und muss seine Ambitionen zumindest für dieses Jahr begraben. Bleibt Iouri Podladtchikov, der in wenigen Tagen in Laax sein Comeback geben will. In einem Interview im Schweizer Fernsehen (12.1.2025) sagt der Zürcher zu Gründen seines Comebacks: „Die Idee wieder Wettkämpfe zu fahren ist ziemlich frisch. Ich stehe an der Pipe und muss mich bremsen, dass ich es nicht mache!“ Sein innerer Drang sagt ihm heute, sich nicht mehr bremsen zu können. „Mein Comeback – es muss sein“. Das sagt einer, der in seiner aktiven Karriere neben einem schweren Schädel-Hirntrauma zahlreiche gravierende Verletzungen erlitten hatte. Insgeheim hoffe ich für Iouri, dass er im Anschluss an die Olympischen Spiele 2026 in den Spiegel schauen und sagen kann: Es hat sich gelohnt.

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Quellen:

Cosh, S., LeCouteur, A., Crabb, S., & Kettler, L. (2012). Career transitions and identity: a discursive psychological approach to exploring athlete identity in retirement and the transition back into elite sport. Qualitative Research in Sport, Exercise and Health5(1), 21–42. https://doi.org/10.1080/2159676X.2012.712987

Sendung 10v10, Comeback Iouri Podlatchikov

https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/10-vor-10-vom-10-01-2025?urn=urn:srf:video:ba875bd7-85c8-4d21-ae14-1528d5f35571

https://www.facebook.com/ORFSport/videos/929376945810102

https://www.srf.ch/play/tv/sportpanorama/video/studiogast-iouri-podladtchikov?urn=urn:srf:video:2e099aee-2709-46a7-b505-f7c4987478b0

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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