Groß Denken! Oder doch kleiner? Wie sich Ziele optimal formulieren lassen

Bei der Handball-Europameisterschaft ist die deutsche Nationalmannschaft keiner der Favoriten. Oder doch? Schließlich ist das Team von Bundestrainer Alfred Gislason Gastgeber und weiß seine Fans im Rücken. Eindrucksvoll gezeigt hat sich dies schon beim 27:14-Eröffnungsspielerfolg gegen die Schweiz vor 53.586 Zuschauern – Weltrekord für ein Handballspiel. Gislasons Spieler übten sich nach der Partie aber in Sachlichkeit. Mit Blick auf das Ziel im Turnier wurden große Worte von allen Beteiligten vermieden. Clever, um den eigenen Rucksack nicht unnötig zu füllen, oder zu vorsichtig, was die gerade entstehende Euphoriewelle bremsen könnte?

Zum Thema: Ziele bewusst wählen

Jeder Verein, jedes Team, jeder Trainer und Trainerin sowie viele reflektierte SpielerInnen kennen das Dilemma: Wie formuliere ich vor einem Turnier oder einer Meisterschaft das Ziel? 

Fragen wir unsere ExpertInnen mit Blick auf die Handball EM und im Rückgriff auf ihre eigene Erfahrungen: Aus welchen Gründen ist es sinnvoll, Ziele möglichst groß zu formulieren? Aus welchen nicht?

Anke Precht, Die Sportpsychologen
Anke Precht, Die Sportpsychologen

Antwort von Anke Precht (zum Profil)

Hohe Ziele sind gut und wichtig. Sie zu visualisieren und im Hinterkopf zu haben, ebenfalls. Sie dann wieder loszulassen, um sich auf das jeweils nächste Spiel zu fokussieren, genauso. 

Die andere Frage ist: Sollte man die wirklichen Ziele auch kommunizieren? Und da steht für mich ein ganz großes Fragezeichen. Erzähle ich, dass ich ins Finale kommen möchte und wackle dann bei einem Vorbereitungsspiel, kommen sofort zweifelnde und kritische Fragen auf. Bin ich nach außen hin dagegen sachlich, im Moment und lasse offen, wo ich hin möchte, muss ich mich nicht permanent rechtfertigen, wenn nicht alles rund läuft, ein wichtiger Spieler kurzfristig ausfällt oder ein Ballwechsel schief geht.

Ich empfinde Zurückhaltung im Hinblick auf Ziele deshalb für sehr wichtig, gerade in einer Sportart, die medial aufgeheizt sein wird und zu der jeder seine Meinung kundtun wird, egal ob gefragt oder nicht. 

Ich hoffe deshalb, dass die gesteckten Ziele hoch sind, dass gleichzeitig der Fokus auf der aktuellen Aufgabe liegt und sich die Verantwortlichen im Dialog mit den Medien auf das beschränken, was sie wirklich zum Nutzen der Spieler und der Mannschaft kommunizieren möchten. Das ist Teil der Taktik, weil auch das Umfeld mitspielt – die Fans, die Medien, ausgesprochene und unausgesprochene Erwartungen.

Janosch Daul, Die Sportpsychologen

Antwort von Janosch Daul (zum Profil)

Viel entscheidender für mich als die Frage nach der “Größe” des Ziels ist die nach der Stimmigkeit dessen. Ziele sind dann gut formuliert, wenn sie motivieren und antreiben, greifbar und realistisch sind, Energien freisetzen und das Team zu einer wahren Gemeinschaft vereinen. Zentral ist letztlich die Identifikation aller Teammitglieder mit dem Ziel und dessen Verknüpfung mit einem emotionalen Anker. Damit ein Teamziel seine zauberhafte Wirkung entfalten kann, ist in einem weiteren Schritt die Auseinandersetzung damit vonnöten, welche Erfolgsfaktoren und daraus resultierende Handlungsschritte es braucht, um das Ziel erreichen zu können. Der dritte Schritt, die Umsetzung der Handlungsschritte, die i.d.R. immer wieder angepasst werden müssen, ist der wichtigste, aber zugleich auch schwierigste. Denn hierfür müssen alle Beteiligten ins aktive Handeln kommen und dabei widerstandsfähig, diszipliniert, ausdauernd und manchmal auch flexibel sein. Erst aus der Kombination aller drei Schritte ergibt sich die Sogkraft, die ein Team weit tragen kann.

Maria Senz, Die Sportpsychologen

Antwort von Maria Senz (zum Profil)

Denken Sie groß!“ ist ein großartiger Song von Deichkind, eine Hamburger Hip-Hop- und Electropunk-Formation. Die Lyrics bieten einen wunderbaren Impuls zum Thema. Groß denken bedeutet, dass ich meine gedanklichen Grenzen sprenge. Ich erweitere mutig und unbeschwert meinen Horizont. Und plötzlich wird das Unmögliche möglich.

Für die Zielformulierung kann dieser Ansatz Gold wert sein. Es wird ein imaginärer Raum eröffnet, der alles erlaubt und ermöglicht. Wenn ich es als Team schaffe, diesen Raum zu begehen, um dort zusammen und vollumfänglich an der Zielvorstellung zu arbeiten, wird eine faszinierende Energie freigesetzt. Diese Energie wirkt wie ein Sog, der das Team nahezu magisch zur Zielerreichung führt.

Die Kür ist anschließend, das Ganze realistisch zu fundieren, um mögliche Ausreißer von „zu groß Denkern“ zu minimieren: Für das gemeinsame Ziele-Agreement ist ein freiwilliges JA, ich mach mit! von jeder vertretenen Stimme aus dem imaginären Raum laut auszusprechen. Die psychische Ausrichtung setzt die physische Ausrichtung in Bewegung. Das System orientiert sich am Ziel und hangelt sich entlang der entrollten Schritte gen Erreichung. Wenn sich jeder einzeln damit verbunden fühlt, es vor dem inneren Auge sieht, die Jubelschreie hört und den tosenden Applaus spürt, dann fließt die Energie und der Sog zeigt Wirkung. 

Robin Köhler
Robin Köhler, Die Sportpsychologen

Antwort von Robin Köhler (zum Profil)

Gerne schließe ich mich meinen Vorrednern an. Sich anspruchsvolle Ziele zu setzen für eine Europameisterschaft, die man als Gastgeber austrägt, hilft Kräfte zu bündeln und sich fokussiert mit einer spezifischen “Turnierhaltung” von Spiel zu Spiel arbeiten zu können. 

Außerdem helfen große Ziele dabei, sich als Team zusammenzuschweißen und sich einer größeren Vision – z.B. dem Erreichen des Halbfinales – vor jedem Spiel bewusst zu sein und so die Motivation aufrechtzuerhalten. Neben dem großen allgemeinen Ziel als Mannschaft, halte ich jedoch auch individuell gehaltene Ziele für jeden einzelnen Spieler wichtig. 

Gerade mit Blick auf die vielen jungen Spieler der aktuellen deutschen Mannschaft ist es sinnvoll, ambitioniert nach vorne zu schauen. In Interviews lässt sich erkennen, dass viele dieser jungen Spieler dafür brennen, Deutschland International vertreten zu dürfen. Sie bringen so eine hohe intrinsische Motivation mit. Diese Motivation sollte durch hohe, aber trotzdem realistische Ziele zusätzlich befeuert werden. Im besten Fall entsteht so zwischen den kleinen individuellen Zielen und dem großen Ziel für das bestmögliche Abschneiden bei dieser EM eine natürliche Symbiose.

Im Hinblick auf die Kommunikation der Ziele bin ich ganz bei Anke. Der letzte Weltmeistertitel ist zwar schon eine ganze Weile her, jedoch werden viele Handballfans die „Generation Gold“ 2007 bei der WM im eigenen Land nicht vergessen haben. Die unbewusste Erwartungshaltung vieler Fans und Medien wird dadurch sowieso, auch ohne öffentliche Kommunikation, hoch sein. Aus diesem Grund halte ich die Zurückhaltung der eigenen Ziele gegenüber den Medien für eine kluge Lösung. Intern sind die Ziele der Mannschaft sowie die Ziele eines jeden Einzelnen hoffentlich klar kommuniziert worden, sodass jeder weiß, was zu tun ist, um einen maximalen Erfolg und eine individuelle Weiterentwicklung eines jeden Einzelnen bei dieser Europameisterschaft feiern zu können. 

Klaus-Dieter Lübke Naberhaus, Die Sportpsychologen

Antwort von Klaus-Dieter Lübke Naberhaus (zum Profil)

Nun, als involvierter im Rahmen des Deutschen Handballbundes (DHB) schaue ich vielleicht weniger von außen und mit Distanz auf diese Europameisterschaft, zumal ich im November Teil des Teams der Frauen A-Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft in Dänemark sein durfte. Hier wurden Minimalziele erreicht, jedoch das “große” Ziel, das Erreichen einer Medaille, verfehlt. So schreibe ich einmal aus dieser Perspektive heraus.

Einer der größten Denker dieser Welt, Albert Einstein, werden zwei folgende Zitate zugeschrieben: „Nur diejenigen, die das Absurde versuchen, werden das Unmögliche erreichen!“ und „Die Definition von Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten.“

Und somit möchte ich auf die Problematik von SMART eingehen, die gängige Formel für die Zielsetzung. Spezifisch sollen sie sein, messbar, attraktiv, realistisch und terminierbar.

Lassen wir uns diese Formel auf das Ziel, Europameister im eigenen Land zu werden, anwenden. Es ist definitiv sehr spezifisch und attraktiv, ebenso am Ende, nämlich spätestens im Finale messbar und damit auch klar terminiert. Kommen wir also am Ende zum eigentlichen Knackpunkt, wie realistisch es ist.

Und hier scheint es mir sinnvoll, vom Anfang der Mission an, sich Teilziele zu setzen, deren Erreichen Selbstwirksamkeit zeigt und damit Selbstvertrauen entwickelt. So wächst das Team zusammen und das Vertrauen in sich selbst und der Glaube an das anvisierte Ziel.

Ein zweiter Aspekt ist extrem wichtig, das Abgleichen individueller Ziele der einzelnen Spieler und Teammitglieder und das Ziel der Mannschaft, auf das sie sich festgelegt haben.

Das Problem mit Minimalzielen ist aus meiner Sicht, dass nach Erreichen dieser, ein, wenn auch unbewusster Spannungsabfall wahrscheinlich ist, und diese Prozente nachher für das Maximalziel fehlen.

Somit kann aus meiner Sicht es nur heißen, wir wollen Europameister werden, denn das ist, um bei Einstein zu bleiben, das mögliche Unmögliche, denn wir haben eine starke Truppe, auch wenn wir aktuell sicherlich nicht zu den Top-Favoriten zählen. Und dazu kann eine Euphorie der EM im eigenen Land kommen, die bekanntermaßen auch eher zu einem Flow als einem zu hohen Erwartungsdruck beitragen kann. Und da gebe ich Anke sehr recht, was ich nach außen kommuniziere und was ich intern verabrede, das sind zwei Paar Schuhe. Nach außen ist eine bescheidene und demütige Haltung und Zielsetzung durchaus angebracht, doch nach innen darf und sollte sehr klar, voller Feuer und Überzeugung gesprochen werden.

Und auch wenn Rituale wichtig sind, gilt es auch immer wieder, Anpassungen vorzunehmen, um Ziele letztendlich zu erreichen. Ganz im Sinne Einsteins, wenn ich ein anderes Ergebnis haben will, ist es ratsam, Veränderungen vorzunehmen, jedoch genauso wichtig, stabil funktionierende Systeme zu erhalten.

In diesem Sinne freue ich mich auf den Wahnsinn im Verlauf dieser Heim-Europameisterschaft und sehe dem vielfach zitierten “Wintermärchen” freudvoll entgegen.

Antwort von Dr. Jan Rauch (zum Profil)

Es ist weniger wichtig, ob gesetzte Ziele per se «hoch» sind oder nicht. Sondern es kommt darauf an, wie realistisch und erreichbar diese Ziele sind und wie gut sie auf die individuellen Fähigkeiten und Ressourcen zugeschnitten sind (dies gilt auch in Teams). Es gibt jedoch einige Gründe, warum es problematisch sein kann, sich zu grosse Ziele zu setzen:

Wenn Ziele zu gross oder unrealistisch sind, kann dies zu Überforderung führen. Dies kann zu Stress, Angst und Frustration führen. Ausserdem haben zu hohe Ziele häufig negative Auswirkungen auf die Motivation: Menschen neigen dazu, sich mehr zu engagieren und motiviert zu sein, wenn sie klare, erreichbare Ziele vor Augen haben. Wenn Ziele zu groß sind, könnten sie möglicherweise nie erreicht werden, was zu einem Gefühl des Scheiterns führen kann. Dies könnte langfristig das Selbstwertgefühl beeinträchtigen. Zu viele große Ziele nebeneinander zu verfolgen, kann außerdem zu einer Zersplitterung der Aufmerksamkeit führen. Es könnte schwierig sein, sich auf die Umsetzung eines einzelnen Ziels zu konzentrieren, wenn zu viele gleichzeitig verfolgt werden.

Das bedeutet jedoch nicht, dass man sich keine anspruchsvollen Ziele setzen sollte. Es ist wichtig, realistische, herausfordernde, aber erreichbare Ziele zu wählen und sie in kleinere Schritte zu unterteilen. So kann man Fortschritte besser messen und sich stetig motivieren, während man gleichzeitig Überforderung vermeidet. Es ist auch wichtig, flexibel zu sein und die Ziele bei Bedarf anzupassen.

Das Setzen hoher Ziele kann jedoch auch sehr positive Effekte haben, sofern die oben beschriebenen Bedingungen erfüllt sind:Hohe Ziele erfordern oft innovative Lösungen und kreative Herangehensweisen, um sie zu erreichen. Dies fördert die Entwicklung von neuen Ideen, Entwicklung neuer Standards usw. Das Streben nach hohen Zielen kann Individuen, aber auch ganze Teams dazu «zwingen», über die eigenen Grenzen hinauszugehen und neue Fähigkeiten zu entwickeln. Es kann dazu beitragen, den Antrieb aufrechtzuerhalten, selbst wenn Hindernisse auftreten. Mit anderen Worten: Es kann die Wettbewerbsfähigkeit in dem Sinne steigern, dass der Ehrgeiz erhöht wird, sich von anderen abzuheben und Spitzenleistungen zu erbringen.

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de