Schon nach drei Tagen Leichtathletik-WM in Budapest ist mir klar: Für meine Tätigkeit in der angewandten Sportpsychologie sind solche Wettkampfbesuche unerlässlich. Faktenwissen ist das eine, reflektierte Praxiserfahrungen das notwendige andere. Vor mehr als 30 Jahren durfte ich meine allerersten Berufserfahrungen in dieser Sportart machen. Den aktuellen Puls dieser Hauptsportart des Weltsports derart unmittelbar zu fühlen, erfüllt mich mit grosser Dankbarkeit. Einige Eindrücke zu bedenklichen Entwicklungen lassen mich aber auch zusammenzucken. Auf dieses Wechselbad der Gefühle möchte hier zu sprechen kommen.
Zum Thema: Wettkampfeinflussfaktoren und sportpsychologisches Debriefing
Die Rahmenbedingungen zu diesen Leichtathletik-Weltmeisterschaften sind wahrlich imposant: 2187 Athlet:innen aus 192 Nationen kämpfen in 49 Entscheidungen an insgesamt neun Wettkampftagen um Titel und Ehren. 147 Medaillengewinner:innen dürften Budapest mit sehr intensiven, positiven Gefühlen verlassen. Bei mindestens 49 Vierplatzierten, leistungsmässig betrachtet grandios performdende Athlet:innen, dürfte die Stimmungslage diametral unterschiedlich sein. 93% aller Teilnehmer:innen zählen schliesslich zum Feld der «Geschlagenen». Mit Ausblick auf die in weniger als einem Jahr beginnenden Olympischen Spiele werden auch sie sich fragen müssen, was notwendig sein wird, um in Paris erfolgreicher agieren zu können?
An welchen konkreten Punkten das sportpsychologische Debriefing einsetzen sollte, möchte ich an ausgewählten Beispielen darlegen, die sich an meinen persönlichen Eindrücken der zurückliegenden Tage orientieren.
Einflussfaktor klimatische Bedingungen:
Budapest erlebt grosse Hitze – schon am Morgen werden im Stadionkessel 40 Grad Celsius gemessen. Beim Start der 200m Vorläufe beobachtete ich, wie sich Athleten bis zum letztmöglichen Moment in kleinsten Schattennischen aufhielten – ein Prozedere, wie es kaum einem optimalen Vorbereitungsritual entspricht. Spannend dünkt mich hier der individuelle (mentale) Umgang mit extremen klimatischen Bedingungen. Entziehe ich mich der Hitze (und risikiere im entscheidenden Moment eine Überraschung) oder setze ich mich und meinen Körper bewusst diesem aversiven Reiz aus, damit sich dieser daran gewöhnen kann? Quasi als „Selbstversuch“ lief ich vorgestern 30km in brütender Hitze, trank dabei etwa sechs Liter Flüssigkeit, was meinen Organismus und mein Befinden deutlich spürbar an Grenzen führte. Schon gestern, bei noch höheren Temperaturen, fiel die psychopsyche Reaktion auf Hitze anders aus, fühlte ich mich schon wesentlich besser angepasst. Ich bin gespannt, welche Rückmeldungen mir Athlet:innen und Betreuer:innen – z.B. besonders „betroffene“ Athlet:innen wie die Mehrkämpfer:innen – hierzu geben werden.
Einflussfaktor Bahn:
Es kann sein, dass mich mein Eindruck täuscht. Ich kann mich aber an keinen Grossanlass mit derart vielen Verletzungen gerade in den Laufdisziplinen erinnern. Die Bahn sei schnell – aber knallhart. Die im Schuhwerk neu verwendete Carbontechnologie verspricht einen effizienteren Krafteinsatz und höhere Geschwindigkeiten. Aber zu welchem Preis? Als Sportpsychologe interessiert mich weniger die technische Entwicklung, dafür umso mehr die individuellen mentalen Auswirkungen in der Belastungssteuerung. Aus wissenschaftlicher Betrachtung lohnt sich im Olympiajahr nicht die Belastungserhöhung, sondern hauptsächlich die Entlastungssteigerung. Eine 400m Läuferin könnte sich folglich im hochintensiven Trainingsbereich des Stehvermögens nach alternativen Trainingsmethoden – z.B. mit Wassertraining – umsehen. Hier sehe ich auch eine Verantwortung der Sportpsychologie im Hinblick auf eine durchdachte Verletzungsprävention.
Einflussfaktor Wettkampfatmosphäre:
Als ich am Mittwoch die «Morning Session» mit einigen Vorläufen (800m, 200m) und Qualifikationswettkämpfen in den technischen Disziplinen (z.B. Weitsprung, Speer) anschauen ging, war ich vom guten Stadionbesuch überrascht. Viele ungarische Familien nutzten offensichtlich die Gelegenheit, für wenig Geld der WM einen Besuch abzustatten. Immer wenn ungarische Athlet:innen am Start waren, erschallte ein überschwänglicher Applaus, der auch – sehr untypisch für einen Vertrauten der Diamond-League-Veranstaltungen – in der Phase der Startvorbeitungen im Sprint, nicht abflaute! Merke: Es lohnt sich immer, sich mit den besonderen Bedingungen der Wettkampfstätte und des Publikums zu befassen. Dies könnte sich u.a. in der individuellen Anpassung des Wettkampf-Countdowns manifestieren.
Einflussfaktor Umfeld:
Nicht immer ist es für mich als Sportpsychologe möglich, mit einer WM-Delegationsleitung (Funktionäre, Trainer) sowie weiteren Verbandspartnern (politische Vertreter, Sponsoren) in Kontakt zu treten. Eine solche Möglichkeit bot sich am Mittwoch, als die Schweizer Botschaft, das ganze Team sowie einige Gäste zum Empfang einlud. Natürlich erhielt ich die Einladung als Familienmitglied von Catia (und nicht als Vertreter der Sportpsychologie). Meine Tochter wird am kommenden Samstag über 4x400m im Einsatz sein. Auf meiner individuellen Agenda standen spannende «Smalltalks». Sich auf diesem Parkett einigermassen sicher – eben kompetent und nicht aufdringlich – zu bewegen, erachte ich als eines der Kernanliegen in der Entwicklung unseres Arbeitsfeldes. Mein Gefühl sagt mir, dass ich nach der WM interessante Telefonanrufe bekommen werde.
Einflussfaktor Debriefing: Wie geht’s weiter?
Wie eingangs beschrieben, werden viele Athlet:innen Budapest unzufrieden verlassen. In Anbetracht der grossen Aufwände vor und während des Saisonhöhepunkts ist eine gute WM-Nachbereitung zwingend notwendig – auch im Hinblick auf die Qualitätssicherung sportpsychologischer Interventionen. Auf welche mentalen Stärken konnte sich der/die Athlet:in verlassen? Wie hat er/sie die Zeit in Budapest erlebt, welche waren die Highlights, welches die Lowlights? Welche Konsequenzen ergeben sich – kurzfristig – für den weiteren Saisonverlauf und mittelfristig im Hinblick auf ein mögliches Karriereziel Olympische Spiele 2024 in Paris?
Wohin wird mich meine Reise hier in Budapest noch führen? Ich bin gespannt auf weitere spannende Erlebnisse und den aussergewöhnlichen Höhepunkt am Samstagabend, wenn Catia mit ihrem 4x400m-Team im ausverkauften Stadion erstmals die Bühne des Weltsports betreten wird. Schon die Vorstellung lässt mich sehr emotional werden. Mehr dazu dann in meinem nächsten Tagebucheintrag!
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