Trainingslagertagebuch von Janosch Daul: Tag 1, Raus aus der Routine, rein ins Krisenmanagement: Oder wie ich mit Spielern arbeite, die eine Leiche im Fluss treiben sahen 

Als sportpsychologischer Experte berichte ich (zum Profil von Janosch Daul) vom Trainingslager mit dem U17 Team des Halleschen FC im Saarland.

Kribbeln und Aufregung ist da. Es geht ins Trainingslager! Es fühlt sich immer nach etwas Besonderem an, mit einer coolen Truppe einige Tage gemeinsam zu verbringen. Eine tolle Möglichkeit, als Team weiter zusammenzuwachsen, Beziehungen zu gestalten und weitere mentale sowie fußballerische Grundlagen für die lange Saison zu legen. Lagerkollergefahr inklusive.

Janosch Daul (Mitte) unterwegs mit dem Nachwuchs des Halleschen FC

Früh morgens geht es los, wir fahren gemeinsam mit der U15, die ebenso ein Trainingslager bezieht, in einem proppevollen Bus gen Südwesten. Die Zeit auf der Fahrt versuche ich bewusst zu nutzen, indem ich die im Laufe des Trainingslagers anstehenden Workshops durchgehe, mich auf das noch heute anstehende Testspiel gegen Wormatia Worms vorbereite und einen Neuzugang in die Sportpsychologie einführe. Zudem unterstützen mich einige Spieler dabei, mich mit Snapchat und TikTok auseinanderzusetzen. Ich melde mich schließlich an und möchte diesen Plattformen, denen ich bisher eher skeptisch gegenüberstand, eine Chance geben. Auch, um auch auf diesem Weg in guten Kontakt mit der heutigen Jugend treten zu können. Es gibt mir die Möglichkeit, an ihrer Lebenswelt teilhaben zu können. Dies zeigt den Spielern, dass ich mich für sie als Menschen interessiere und sie wertschätze. 

Beobachter beim Spieltag

Die Zeit im Bus vergeht somit wie im Flug und nach einigen Zwischenhalten treffen wir am Spielort ein. Ich bin mir meiner Aufgaben bewusst. An Spieltagen nehme ich primär die Rolle des Beobachters ein, mache mir viele Notizen und gebe den Trainern und Spielern anschließend Feedback im Hinblick auf mentale Aspekte. Im Rahmen der bislang durchgeführten Austausch- und Kennenlerngespräche habe ich mit den Spielern einen Rahmen für eine gelingende Zusammenarbeit erarbeitet, im Sinne einer höchst bedürfnisorientierten Vorgehensweise. So weiß ich bei diesen Spielern inzwischen genau, was ich wann wie im Wochenverlaufs zu tun habe, damit ich in der Wahrnehmung des Spielers ein bestmöglicher Unterstützer sein kann. Die Rollen, die ich einnehmen soll, sowie die damit verbundenen Aufgabenstellungen sind somit auch für den Spieltag definiert. So bin z.B. für einen Spieler ein Gesprächspartner im Bus, andere Spieler wünschen sich ein Kurzfeedback im Hinblick auf mentale Auffälligkeiten in der Halbzeit, mit einem Spieler gehe ich während der Platzbesichtigung noch einmal seine Ziele und Erwartungshaltungen für das anstehende Spiel durch und einen anderen Spieler versuche ich vor der Partie noch einmal mit einem Motivationsspruch zu erreichen. Teilweise findet vor der Halbzeit-Ansprache noch ein kurzes Briefing mit den Trainern statt, in dem ich ihnen zentrale Eindrücke aus der ersten Halbzeit spiegele, die sie für ihre Ansprache nutzen können. 

Nach dem Spiel werte ich meine Notizen aus und schicke den Spielern und Trainern – entsprechend der erfolgten Auftragsklärung – Whatsapp-Sprachnachrichten, in denen ich ihnen jeweils individuell meine Spiel-Wahrnehmungen spiegele. Meine Beobachtungen kombiniere ich dann zumeist mit Ratschlägen und/oder Reflexionsfragen, mit denen der jeweilige Trainer bzw. Spieler arbeiten kann. Auch hier wähle ich eine Vorgehensweise basierend auf den Bedürfnissen des Gegenübers. Ich hätte nie gedacht, dass diese Form von „Whatsappcoaching“ jemals eine so große Rolle einnehmen würde, doch Fakt ist, dass dieses Vorgehen viele Vorteile mit sich bringt: Die Trainer und Spieler können sich zu einem für sie passenden Zeitpunkt mit dem Feedback auseinandersetzen, es findet eine niederschwellige Auseinandersetzung mit sportpsychologischen Themen statt und für mich ergibt sich daraus die Möglichkeit, viele Spieler auf einmal bedienen zu können. Rein zeitlich gesehen ist es schließlich unmöglich, mit jedem Spieler individuell über das Spiel im Gespräch zu sein. 

Alles unter Zeitdruck

Da unsere Fahrt etwas länger als geplant dauert, haben wir massiven Zeitdruck in allen Vorbereitungen auf das Spiel. Eine optimale Einstimmung auf den Wettkampf sieht anders aus. Doch wahrscheinlich ist es gar nicht so verkehrt, auch so etwas mal zu erleben. Denn so kannst du proben, wie du als Spieler, Trainer und Team mit widrigen, unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Umständen umgehen kannst. Und schauen, ob du dann dennoch in der Lage bist zu performen? Bei unfassbar schwülem Wetter und auf einem hohen, schmierigen Rasen kommen wir gar nicht gut ins Spiel, entscheiden die erste Halbzeit zwar mit 2:1 für uns, erreichen aber lange nicht unser Leistungsmaximum. In der zweiten Halbzeit läuft es flüssiger und wir gewinnen letztlich 6:2 gegen einen Gegner, dem wir eigentlich hochüberlegen sind. 

Insbesondere zwei Fragen beschäftigen mich aus psychologischer Sicht ganz besonders: Warum brauchen wir so lange, um zu unserem Spiel zu finden? Und warum gelingt es uns erneut nicht, ein Spiel konzentriert zu Ende zu führen? Warum schleichen sich in den letzten 15 Minuten des Spiels immer wieder vermeidbare Nachlässigkeiten ein, die in einem Gegentor münden? Ein wiederkehrendes Muster in der Vorbereitung. Auf diese Fragen gilt es, gemeinsam mit den Spielern und Trainern Antworten zu finden. Auf individueller Ebene beeindruckt mich ganz besonders das Auftreten eines Neuzugangs, der eine Souveränität und Körpersprache an den Tag legt, als habe er sein Leben nichts anderes getan, als für den Halleschen FC wie eine Katze die Bälle von der Torlinie zu kratzen. Dies kommuniziere ich ihm nach dem Spiel, worüber er sich sehr freut. 

Jugendliche Leichtigkeit

Dann geht es weiter in unser Trainingslagerquartier nach Saarbrücken. Im Bus herrscht bei den Jungs ein unglaubliches Energielevel, die Stimmung ist ausgelassen. Ich kümmere mich unterdessen primär um die individuellen Feedbacks für die Spieler und Trainer. Beim Abendessen mische ich mich bewusst unter die Spieler, um gut mit ihnen im Gespräch zu sein, die Beziehungen weiter zu stärken und einfach eine gute Zeit zu haben. Ich versuche, zu jedem einzelnen Spieler eine maximal vertrauensvolle Bindung und Beziehung aufzubauen – auf dieser Grundlage kann ich auch inhaltlich wirksam werden. Ich schätze diese (noch jungen) Menschen, die sich mitten in einem Entwicklungsprozess befinden, extrem wert. Ich schätze ihre unterschiedlichen und so spannenden Charaktere, ihre vielfältigen Meinungen, Ansichten und Perspektiven, aber auch ihre Wertschätzung und Dankbarkeit mir und meiner Arbeit gegenüber, extrem wert. Ich liebe es, mich mit ihren Wünschen, Sehnsüchten, Träumen, aber auch ihren sie herausfordernden Themen aktiv auseinanderzusetzen. Außerdem ist diese Jugendlichkeit so ansteckend! Sie lässt mich selbst sehr jung fühlen. 

Das Abendessen kann ich so richtig genießen; es findet auf einem Boot statt. Anschließend plane ich mit den Trainern die kommenden Tage und plötzlich sollte alles anders kommen als erwartet. Zwei Spieler mit kreidebleichen Gesichtern stürmen in den Hotelraum, in dem ich mich gerade mit den Trainern befinde, und sagen mir, sie bräuchten mich dringend. Ich stehe auf und folge den Spielern. In der Hotellobby erzählen sie mir von einem unglaublichen Erlebnis: In der frei zur Verfügung stehenden Zeit unmittelbar im Anschluss an das Abendessen sahen sie eine auf dem Fluss treibende Leiche, welcher der Kopf fehlte. Sie berichten mir hochemotional davon, wie die Leiche schließlich von Spezialisten geborgen und in einem Sack verstaut wird. Zahlreiche Spieler unseres Teams haben den Vorfall hautnah miterlebt. Sie sprechen von Angst- und Schockzuständen. Davon, das Hotel nie wieder verlassen zu wollen. Davon, heute definitiv nicht eine Sekunde schlafen zu können. Schlimme Bilder sind präsent und drehen sich in einer Dauerschleife. Plötzlich bin ich als Krisenmanager gefragt. 

Im Krisenmodus

So richtig sicher fühle ich mich in meinem Handeln nicht, da ich so etwas auch noch nie erlebt habe. Ich versuche, Ruhe auszustrahlen und den Jungs zuzuhören. Ich ermutige sie, alles auszusprechen, was ihnen auf der Seele brennt, alles da sein zu lassen, was sich gedanklich und emotional gerade ins Bewusstsein drängt. Langsam, aber sicher, habe ich das Gefühl, dass die Jungs wieder zu sich kommen. Nachdem vieles ausgesprochen worden ist, sehnen sie sich danach, das an diesem Abend stattfindende UEFA Supercupspiel zwischen Manchester City und Sevilla anzuschauen. Ein Spieler bittet mich explizit, mit dabei zu sein. Dem folge ich, sodass wir in einer immer größer werdenden Runde schlussendlich mit ca. 12 Nachwuchsspielern das Match zu Ende schauen. Ich habe das Gefühl, dass die Gemeinschaft guttut. Die Spieler verabschieden sich voneinander und gehen, genauso wie ich, auf ihre Zimmer. Zugleich kommuniziere ich über unsere Whatsappgruppe, dass ich den Spielern auch weiterhin als Gesprächspartner zur Verfügung stehe. 

Ich hoffe sehr, dass ich den Spielern eine Stütze sein konnte. In meinem Zimmer angekommen, teilt ein Elternteil mit mir ihre Sorgen, nachdem ihr Sohn ihr von dem Vorfall berichtet hatte. Ich versuche sie emotional zu entlasten. Zudem kommuniziere ich den Trainern, wie ich den morgigen Tag angehen würde, nämlich an den Bedürfnissen der Spieler orientiert anstatt eine Normalität einzufordern, die einfach noch (lange) nicht wieder gegeben ist. Nun bin ich extrem müde und versuche einzuschlafen.

Hinweis: In den kommenden Tagen informiert Dr. Hanspeter Gubelmann von der Leichtathletik-WM in Budapest. Hinzu kommen weitere spannenden Beiträge aus dem Netzwerk. Unser Ziel ist es, aus einem besonderen Blickwinkel von unserer Arbeit zu berichten. Wir wollen zeigen, wie wir die Sportpsychologie leben und erleben.

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Janosch Daul
Janosch Daul

Sportarten: Fußball, Handball, Basketball, Volleyball, Leichtathletik, Schwimmen, Tennis, Tischtennis, Badminton

Halle/Saale, Deutschland

+49 (0)176 45619041

E-Mail-Anfrage an j.daul@die-sportpsychologen.de