Mentale Stärke ist die Supereigenschaft, welche erfolgreiche Athleten von weniger erfolgreichen unterscheidet. Die Eigenschaft, die Trainer ihren Sportlern predigen und über die Sportpsychologen schwärmen – ja, sie theoretisch überflüssig machen – denn mental starke Athleten brauchen keinen Sportpsycho. Ist das wirklich so oder ist diese Vorstellung doch etwas Oldschool, gar eine Stereotypisierung in mental stark und schwach? Vielleicht keins von beidem, vielleicht einfach nur eine Vorstellung von mentaler Stärke als etwas Unerreichbares, etwas voller Anstrengung, etwas ganz Besonderes. Na eben etwas, das einem Respekt einflößt.
Zum Thema: Wie uns ein Stuhl aufzeigt, was uns vermeintlich stark oder schwach macht
Wenn man sich die zwölf Kerneigenschaften mentaler Stärke durchliest, ertappt man sich dabei, sie abzuhaken: Mache ich, habe ich, kenn ich – ups, mache ich nicht, ich denk nicht so, ich bin nicht immer überzeugt. Selten kann eine einzelne Person alle aufgelisteten Eigenschaften für sich verbuchen. Und da fängt es an, denn wenn man nicht alle hat, fühlt man sich schwach.
Selbstverständlich gibt es auch andere Definitionen von mentaler Stärke aber dieses Bündel von zwölf Kerneigenschaften trifft es am besten. Er ist dem Sportalltag einfach am nächsten. Jeder Sportler, egal ob im Leistungssport oder Breitensport, weiß ganz genau was gemeint ist. Wahrscheinlich wissen auch genauso Menschen mit besonderem Leistungsdruck im Beruf was es mit dieser Supereigenschaft auf sich hat.
Automatisierte Abläufe
Wenn also die Checkliste nicht hundertprozentig ausfällt, kommt man ins Schwanken. Vielleicht ist man doch nicht so stark und überhaupt, vielleicht muss man so geboren sein oder ganz früh gelernt haben, so zu denken.
Nun, nein und hier kommt der Stuhl ins Spiel: Stellt Euch vor, ihr steigt auf einen Stuhl. Ganz easy, stimmt’s? Da muss man nicht lange überlegen, linker Fuß, rechter Fuß, eventuell nimmt man die Hand zu Hilfe. Jeder weiß wie es geht und jeder kann ohne lang überlegen einfach auf einen Stuhl steigen. Ähnlich wie die sportliche Technik, der Bewegungsablauf, welche der Sportler längst automatisiert hat und problemlos abrufen kann.
Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten
Nun stellt Euch vor, dieser Stuhl, auf den ihr steigen wollt, steht nicht im Zimmer, sondern nahe einem Abhang. Die Technik, wie man auf den Stuhl steigt, ist dieselbe, aber das Draufsteigen wird in diesem Fall weniger leichtfallen.
Was genau unterscheidet also die Personen, die problemlos auf den Stuhl am Abhang steigen, von denen, die zögern? Eigentlich nicht viel: Die ersten tun das, was sie können, nicht mehr aber auch nicht weniger. Die, die zögern, möchten es besonders gut, besonders genau machen, denn es könnte ihnen ein Fehler unterlaufen, sie könnten fallen, daher zögern sie. Sie verlieren das Vertrauen in ihre Fähigkeit, auf den Stuhl steigen zu können, weil der Stuhl am Abhang steht, also wegen der äußeren Umstände. Erstere hingegen behalten ihr Vertrauen in ihre Fähigkeit und tun genau das, was sie können, gefühlt schon immer konnten: linker Fuß, rechter Fuß.
Eine Frage des Fokus
Die Technik und der Bewegungsablauf ändern sich also nicht. Das Umfeld ändert sich und somit selbstverständlich auch der Fokus. Im ersten Fall ist der Fokus auf der Technik, mit dem Vertrauen in die eigene Fähigkeit auf einen Stuhl steigen zu können. Im zweiten Fall ist der Fokus, auf den Abhang, auf die Angst und auf die möglichen Risiken und Konsequenzen.
Ganz ehrlich, der Fokus auf letztere würde wirklich jeden zögern lassen, aber es geht eben auch anders. Wenn man lernt, sich zu fokussieren und auf das Richtige zu konzentrieren, die Gefühle zu regulieren und weiß, was man kann – wird es kein Problem mehr, längst automatisierte Bewegungsabläufe unter allen Umständen abzurufen – stark nicht? Man kann die Supereigenschaft mentale Stärke doch lernen.
Das Wissen um die eigenen Fähigkeiten
Und woher weiß man, was man kann? Indem man sich mutig, aber auch ehrlich vor die Augen führt, was einem schon gelungen ist. Mutig sei betont, weil viele Sportler ihre Erfolge nicht auf sich und ihre Fähigkeiten zurückführen – das ist nicht optimal. Und ehrlich, weil es aber auch durchaus Erfolge gibt, wo man gewann, weil der andere nicht alles gab. Es geht also um eine ehrliche Selbsteinschätzung, um das Wissen über die eigenen Fähigkeiten. Steht dieses Wissen, geschöpft aus vergangenen Erfolgen, nutzt man es für zukünftige Herausforderungen: Nicht das Wissen über vergangene Erfolge, sondern das Wissen über die Fähigkeit, Erfolge erzielen zu können.
Das ist der Kern von Selbstbewusstsein – das Wissen, was man kann.
Die zwölf Kerneigenschaften der mentalen Stärke (Mentale Toughness im Sport)
- Unerschütterlicher Glaube, seine wettkampfbezogenen Ziele erreichen zu können.
- Unerschütterlicher Glaube an seine Fähigkeit, die einzigartigen Qualitäten und Fähigkeiten und zu besitzen, die einem im Vergleich zu seinen Gegnern überlegen machen.
- Unstillbares Verlangen und internalisierte Motive nach Erfolg.
- Fähigkeit, sich von Rückschlägen schnell zu erholen.
- Neigung, sich unter Wettkampfdruck (besonders) wohl zu fühlen.
- Akzeptanz, dass Wettkampfangst unausweichlich ist und Überzeugung, mit Unsicherheiten fertig zu werden.
- Fähigkeit, sich durch die (guten und schlechten) Leistungen anderer nicht beeinflussen zu lassen.
- Fähigkeit, bei Ablenkungen aus dem außersportlichen Leben weiterhin vollkommen fokussiert zu bleiben.
- Fähigkeit, den Fokus nach Bedarf schnell auf den Sport hin- und wegzurichten.
- Fähigkeit, sich bei Ablenkungen im Wettkampf vollkommen auf die bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren.
- Fähigkeit, seine physische und psychische Schmerztoleranzgrenze nach oben zu regulieren.
- Fähigkeit, nach unerwarteten und unkontrollierbaren Ereignissen schnell wieder psychologische Kontrolle zu erlangen.
(Gerber, M. (2011). Mentale Toughness im Sport: Ein Review. Sportwissenschaft, 41(4), 283-299.)
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