Prof. Dr. René Paasch: Gute Kinderstube im Leistungssport

Wie gehen wir mit den Beteiligten im Leistungssport und in unserer Gesellschaft um? Woran liegt es, dass uns der Begriff „gute Kinderstube“ mittlerweile veraltet erscheint? Man braucht nur einmal zu einem Revierderby in der Fußball-Bundesliga gehen oder nebenan bei Ihrem Lieblings-Amateurclub sich ein Spiel anschauen, um festzustellen: Respektvolles Miteinander ist in unseren Stadien und auf unseren Sportplätzen nur noch selten zu finden. Einige Fans oder Eltern verhalten sich erst angepasst und freundlich, wenn sie dazu aufgefordert werden. Sobald jemand im Weg steht oder nicht demselben Verein angehört, wird er verachtend angeschaut oder beleidigt. Und das sind nur die harmlosen Symptome eines viel größeren Problems: nämlich einer allgemeinen Respektlosigkeit, an der unser Sport und unsere Gesellschaft immer mehr erkrankt. Ignoranz, Narzissmus, Ellbogen ausfahren, Menschen beleidigen, fremdsteuern, der Bessere mögen gewinnen oder das Leistungsprinzip höher, schneller, weiter bringen zunehmend die moralischen Grundtugenden des gemeinsamen Zusammenlebens ins Wanken. Tagtäglich werden Menschen und Akteure im Leistungssport aufgrund ihrer fehlenden Leistungsfähigkeit, ihrer Spiel- und Verhaltensweisen bei verlorenen Spielen, ihres Aussehens, ihrer Herkunft oder ihrer Gedanken diskriminiert, persönlich beleidigt oder schlecht behandelt. Doch woher kommt diese augenscheinliche Demontage der guten Kinderstube? Die folgenden Anregungen gehen dieser Frage nach und zeigen, was wir alle dagegen tun können? 

Zum Thema: Ein respektvoller Umgang in der Gesellschaft und im Sport 

Haben Sie schon mal versucht, den Schiedsrichter beim Spiel umzustimmen, obwohl Sie wussten, dass dieser mit seiner Entscheidung recht hatte? Oder haben Sie dies unterlassen, weil es sich nicht richtig angefühlt hat? Grund für Ihr zögerliches Verhalten war sicherlich Ihre gute Kinderstube. Sie bedeutet, trotz Ihrer individuellen Wünsche, Bedürfnisse und Zugehörigkeit stets das Wohlbefinden Ihrer Mitmenschen im Blick zu haben. Es bedeutet aber auch, sich der weitreichenden Folgen alltäglicher und sportlicher Handlungen bewusst zu sein. 

Können Sie sich noch an die Diskussion bezüglich der WM 2022 in Katar zum Thema „Menschenrechte“ erinnern? Wenn ja, hatten Sie beim Schauen des Eröffnungsspiel ein schlechtes Gewissen?  Hunderttausende von meist südasiatischen Wanderarbeitern im Baugewerbe wurden in Katar ausgebeutet und nicht nur in seltenen Fällen misshandelt. Hausangestellte, oft arme Frauen aus südostasiatischen Ländern, haben wenig Rechte und können Opfer von Menschenhandel werden. Trotz dieser schweren und weitreichenden Menschenrechtsverletzungen schauten Millionen Menschen die WM in Katar. Waren sie sich darüber bewusst, welchen Beitrag wir alle damit leisten oder fühlen Sie sich dabei nicht wohl, entgegen Ihrem moralischen Wertesystem zu handeln? 

Genau das ist mit „Gute Kinderstube“ gemeint: Die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Handeln und die eigenen Privilegien zu reflektieren und Verantwortung für das Allgemeinwohl und des Einzelnen zu übernehmen. Ein Fußballtrainer, der zu einem Großteil seiner Spieler höflich und zuvorkommend ist, einige jedoch wegen ihrer Herkunft oder Leistungsfähigkeit schlechter behandelt, verhält sich unmoralisch. Welche Entwicklungen die Respektlosigkeit im deutschen Fußball aus meiner Sicht durchlaufen hat und was uns droht, erfahren Sie jetzt! 

Respektlosigkeit im Deutschen Fußball

Über 70 Jahre liegen die Verbrechen der NS-Zeit inzwischen zurück. Noch immer schockieren die Gräueltaten und es fällt sehr schwer, nachzuvollziehen, wie eine ganze Gesellschaft jegliches Gespür für Moral verlieren konnte. Umso erschreckender ist es, dass sich viele der Überzeugungen von damals bis in unsere heutige Gesellschaft gehalten haben. Jeden Tag werden Menschen zu Opfern von Diskriminierung und Selbstherrlichkeit. Rassismus ist eine der gefährlichsten Formen, was Verstöße gegen die Menschenwürde angeht. Fußball-Nationalspieler Antonio Rüdiger ist mehrmals Opfer rassistischer Beleidigungen geworden. Im Umfeld des Confed Cups spricht er sehr offen darüber. Rüdiger: „Der Schiri sollte den Stadionsprecher darauf ansprechen, dass das passiert. Dann ist eine Verwarnung angemessen. Und wenn es danach immer noch nicht eingehalten wird, finde ich es gut, wenn ein Spiel abgebrochen wird“. 

Zudem wurden im Jahr 2016 fast 1.000 Anschläge auf Asylbewerberheime gezählt, von denen nur einige wenige öffentlich bekannt wurden und auch in Stadien dieser Welt ist dies keine Seltenheit mehr. Mehr dazu:

https://www.die-sportpsychologen.de/2017/06/dr-rene-paasch-ruediger-und-der-hass/.

Rassismus und Homophobie

Neben Rassismus ist auch Homophobie ein Ausdruck der aktuellen Respektlosigkeit. Auch im 21. Jahrhundert müssen sich Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung gegen verbale und physische Übergriffe wehren – trotz der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe. Homosexualität ist noch immer ein Tabuthema im Fußball. Trotz des Coming-outs von Thomas Hitzlsperger hat sich bislang kein weiterer deutscher Nationalspieler oder Topspieler aus der Bundesliga geoutet. Und das aus Angst und weiteren nachvollziehbaren Gründen. Mehr dazu:

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/09/dr-rene-paasch-coming-out-im-fussball/.

Medien berichten über Krieg und Krisen in diversen Formen: den Ukraine-Krieg, die Corona-Pandemie, den Klimawandel, die Sicherung unserer Energieversorgung, die Störung der globalen Lieferketten und die sich auch aus diesen Faktoren ergebenden Turbulenzen. Wir alle haben eine gesellschaftliche Pflicht, uns für ein respektvolles Miteinander einzusetzen und uns gegen menschenverachtende Einstellungen zu positionieren. Kommen wir dieser Pflicht nicht nach, greift die Unmenschlichkeit um sich, und zwar mit schwerwiegenden Folgen für uns alle. Wie und warum das passiert, erfahren Sie im nächsten Abschnitt.

Fehlverhalten ist ansteckend 

Bestimmt gab es auch Ihrem Verein einen Trainer oder Manager, der respektiert oder gar gefürchtet ist, weil er anderen Menschen das Leben schwer gemacht hat. Oder kennen Sie Personen aus Führungsebenen eines Vereins, die bei fehlender Leistungsfähigkeit Spieler in der Kabine beleidigen oder sie in den Medien schlecht darstellen lassen? Offenbar hatte man sich auf solchen Ebenen vielerorts wortlos darauf geeinigt, dass man Personen oder Spieler nach Belieben schlecht behandeln darf. Genau so funktioniert die Dynamik der Respektlosigkeit. Wenn dieses Verhalten einmal Erfolg verspricht, greift dies schnell um sich. Daher ist es wichtig, ihr von Anfang an die Stirn zu bieten. Natürlich wird es immer Menschen geben, die sich anderen gegenüber respektlos verhalten, die versuchen, die Schwächen einiger Menschen auszunutzen. Das ist auch eigentlich kein Problem – jedenfalls nicht, solange die Würde des Gegenübers unantastbar bleibt. Mehr dazu:

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/12/dr-rene-paasch-die-wuerde-der-nachwuchsspieler-ist-unantastbar/.

Wird respektloses Verhalten jedoch geduldet und unter Umständen sogar mit Erfolg oder Bewunderung belohnt, gibt es in der Regel schnell Nachahmer. Damit so etwas nicht geschieht, muss Respektlosigkeit sanktioniert werden. Stellt sich bspw. bei einem Wettkampf heraus, dass ein Spieler auf verbotene Schmerzmittel oder leistungssteigerden Mittel zurückgegriffen hat oder eine Person des öffentlichen Lebens betrogen hat (Profitrainer fälscht den Impfausweis oder Ärzte verschreiben unerlaubte Mittel) sollten nachhaltige Konsequenzen folgen. 

Das gilt im Übrigen auch für Mobber, Schläger, pöbelnde Trainer u.v.m. am Spielfeldrand, die Ihre Emotionen und ihren Sprachgebrauch nicht im Zaum halten können. Dies sendet ein klares Signal an die übrigen Akteure im Sport und in der Gesellschaft. Geschieht das nicht, werden sich beim nächsten Mal auch andere ähnliche Verhaltensweisen zeigen. Und dabei bleibt es noch nicht: Der nächsten Generation wird auf diese Weise von ihren Idolen suggeriert, dass es in unserer Gesellschaft oder im Sport nur ums Gewinnen geht, und nicht um den fairen Wettkampf. Ähnliches erkennen wir dieses Phänomen auch in anderen Lebensbereichen (Kita, Schule, Betriebe u.v.m.). Wenn Führungskräfte im Unternehmen oder Manager im Sport sich nicht moralisch verhalten, gilt dies als Maßstab dafür, was zulässig ist und was nicht. Ihr Handeln wird von wesentlich mehr Menschen wahrgenommen als das des Durchschnittsbürgers, weshalb sie sich auch mehr Gedanken darüber machen sollten, wie sie handeln und welche Signale sie damit in die Welt und ganz besonders in den Sport senden. Dieser Beitrag wäre ein kleiner Meilenstein zu mehr Menschlichkeit in unserem Leben:

https://www.die-sportpsychologen.de/2023/01/prof-dr-rene-paasch-drei-tugenden-fuer-herausfordernde-zeiten-im-sport-job-und-alltag/.

Fazit

Eine gute Kinderstube basiert auf vielen wichtigen Tugenden, die das menschliche Zusammenleben im Sport und in der Gesellschaft regeln. Der momentan fortschreitende Verlust dieser Werte hat weitreichende und alarmierende Folgen. Zum moralischen Verfall tragen schlechte Vorbilder in allen Lebensbereichen bei. Lassen Sie dies nicht zu. Die Aussagen von gestrandeten Akteuren im Sport und die steigenden Zahlen psychischer Belastungen in unserer Gesellschaft lassen sich nicht monokausal auf die geschilderten Zusammenhänge zurückführen, sie dürfen aber als mehr als alarmierend wahrgenommen werden.  

Take Home Message

Wenn die nächste Stelle in Ihrem Verein oder Unternehmen zu besetzen ist, wie bspw. der Manager, Abteilungsleiter, Trainer- oder auf Teamebene Spielerverpflichtungen anstehen, überlegen Sie sich sehr genau, welche Werte und Verhaltensweisen sie inhaltlich am meisten überzeugen und dass ist unabhängig von dem Lebenslauf und der öffentlichen Wirksamkeit. Lassen Sie sich nicht nur von Erfolgen oder Auffälligkeiten mancher Personen beeindrucken. Wenn wir uns alle „Schritt für Schritt” aufeinander zubewegen und uns an der guten Kinderstube orientieren, stehen bald wieder Vorbilder auf und neben dem Platz, die ihre Rolle und Verantwortung ernst nehmen. Und wenn Sie jetzt große Sorge haben, dass sich dies auf die Leistungen und die Wirtschaftlichkeit auswirken könnte, dann empfehle ich Ihnen diesen Beitrag: 

https://www.die-sportpsychologen.de/2021/08/dr-rene-paasch-rentabilitaet-und-menschlichkeit-im-fussball/.

Ich freue mich auf Ihr Feedback und eine Diskussion in Ihrem Verein, in Ihrer Gruppe und in unserem Netzwerk. Herzlichst, René. 

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