Prof. Dr. Oliver Stoll: An Tagen wie diesen…

Ich habe wirklich schon viel erlebt in meiner eigenen sportlichen Karriere, aber auch in meiner fast 30-jährigen Laufbahn als Sportpsychologe. Und eigentlich fällt mir auch immer etwas ein, was ich sagen könnte, aber am ersten Viertelfinaltag der Floorball-WM 2024 erlebte ich etwas, was so besonders war, sowohl sportlich auch als „mental“, dass selbst mir die Worte fehlen. Ich war sprachlos und ich suche noch immer eine Erklärung für das, was dieses deutsche Team in Malmö gezeigt hat. Aber beginnen wir mal etwas früher. 

Zum Thema: Turnierbeobachtungen eines Sportpsychologen

Wer meinen Blog-Beiträgen folgt, weiß, dass ich aktuell in Malmö bei der Floorball WM bin und die deutsche Herren-Nationalmannschaft begleite und berate. Kennen gelernt habe ich das Team und Staff vor knapp einem halben Jahr auf zwei Zusammenzügen der Mannschaft in der Slowakei und in Polen. Schon da habe ich gesehen, dass diese Mannschaft eine besondere ist. Keine Animositäten, sehr diszipliniert und offen in der Kommunikation, das Trainer-Athleten-Verhältnis sehr balanciert und alle hatten den Blick nach Malmö gerichtet.

Betrachtet man die Ergebnisse dieser Vorbereitungsturniere, dann könnte man zusammenfassen: Vieles läuft – wie erwartet, aber dennoch ist „Luft nach oben“. Im Prinzip ordneten sich die Jungs unter den Top-8-Teams der Welt ein. So waren eben auch die Ergebnisse. Schon in dieser Zeit hatte ich einige individuelle Gespräche, konnte einiges an Psychoedukation umsetzen, die Trainer in Sachen Kommunikation beraten und natürlich haben wir auch Entspannungsverfahren ausprobiert, die vor allen Dingen die mentale Erholung unterstützen sollten. 

Fehler in Malmö erkannt

In Malmö angekommen war die Vorfreude groß und natürlich war auch bei einigen Spielern die Anspannung anzusehen, die aber regulierbar war (und ja auch irgendwie dazu gehört). Wir trainierten einmal, und spielten dann. Das erste Gruppenspiel gegen die Schweiz sollte bestenfalls gewonnen werden, aber auch eine Niederlage wäre kein Beinbruch. Die 2:8-Niederlage klingt schlimmer als sie war. Im Debriefing wurden die Fehler eindeutig erkannt und von den Trainer sowie vom Team offen angesprochen. Das Ergebnis: Keinerlei Spannungsverlust, kein Stimmungsabfall und eine weiterhin positive Sicht nach vorn.

Es folgte ein sehr starker 8:3-Sieg gegen Norwegen. Auch das ist durchaus nicht selbstverständlich. Bis 2018 kassierte man noch zweistellige Niederlagen gegen Norwegen. Die jüngsten drei direkten Vergleiche wurden jedoch mit einem Sieg abgeschlossen. Auf dem Feld war eine geschlossene Gruppe zu beobachten, die Lösungen nach vorn entwickelte und umsetze. Damit war dann auch schon eine gute Grundlage für das weitere Turnier gesetzt.

Keine Klatsche, trotz 0:9

Am abschließenden Gruppenspieltag darauf ging es wieder gegen eine Top-4-Nation: Tschechien. Die 0:9-Niederlage könnte man auf den ersten Blick als eine „Klatsche“ bezeichnen, war sie aber nicht. Die Tore fielen im Wesentlichen auf der Basis individueller Fehler – das System an und für sich spielte stabil. Auch hier half das sehr offene und konstruktive Debriefing dieses Spiels. Das Team konnte einen „Haken“ dransetzen und das Gelernte mitnehmen.

Das Playoff-Match gegen Polen um den Einzug ins Viertelfinale wurde ziemlich souverän mit 10:2 gewonnen werden und im Debriefing wurden vor allen Dingen auf die eigenen Stärken fokussiert, insbesondere auf unsere Defensiv-Stärke. Und nun ging es – früher als erwartet – im Viertelfinale gegen Weltmeister Schweden.

Innen- und Außensicht

Das Team wusste natürlich genau, was und wer da kommt. Die deutschen Niederlagen seit 2004 bewegten sich so zwischen 0:13 und 4:19 vor zwei Jahren. Niemand gab im Vorfeld einen Pfifferling auf die deutsche Mannschaft in diesem Spiel. Innerhalb des Systems sah es ganz anders aus. Die Trainer stellten die Truppe aus meiner Sicht optimal ein. Vor allen Dingen ging es darum, so lange wie möglich mithalten zu können. Eine stabile Abwehrleistung zu zeigen und schnelle sowie konsequente Entscheidungen zu treffen, wenn es nach vorn gehen sollte. Und genau das ging direkt in die Köpfe der Spieler.

Hinzu kam der enorm hohe Mannschaftszusammenhalt, der sich im vergangenen Jahr entwickelt hat sowie die Freude – und auch hier bei den Rookies – gegen die Schweden spielen zu dürfen. Die Atmosphäre schon im Bus zur Anfahrt war sehr speziell. Der Gang durch die Katakomben in die Kabine war fokussiert, das Warm-Up zunächst gelassen und mit viel Spaß umgesetzt und das strukturierte Warmup erfolgte sehr konzentriert. Was ich dann beim „Walk-In“ in den Augen der Jungs gesehen habe, war sehr besonders. Der Respekt vor dem Top-4-Gegner, den sie noch beim Schweiz- und beim Tschechien Spiel hatten, war komplett verschwunden. Und dann folgten 60 Minuten „Weltklasse-Floorball“ vom Feinsten.

Energie mit Händen zu greifen

Das Team spielte – wie ein echtes und unglaublich überzeugtes Team. Da war eine Abwehrwand, die für die Schweden kaum zu überwinden war. Jeder erfüllte seine Aufgabe, das sehr physische Spiel der Schweden wurde angenommen und genau so zurückgegeben. Am Ende des 1. Drittels stand es 1:1. Die Energie, die in der Drittelpause in der Kabine in der Luft lag, ließ sich deutlich spüren – beinahe mit Händen zu greifen. Und trotzdem – sie blieben „auf dem Boden“ und wollten genau da weiter machen, wie man begonnen hat.

Im zweiten Drittel gab es keinen Bruch. Die Mannschaft machte genau da weiter, wo das erste Drittel endete. Jeder lief für jeden, jeder hielt dagegen mit allem, was er hatte. Das Abwehrbollwerk stand wie eine Wand und ein Rookie erlaubte sich kurz nach dem 1:2-Rückstand, erbarmungslos zurückzuschlagen: Ausgleich 2:2. So ging es in die Drittelpause und ich konnte das erste mal ein kleines Lächeln auf den Gesichtern einiger Spieler sehen. Aber immer noch war diese starke Präsenz zu spüren. Körperlich – mental – Energie pur. Und allen war in dieser Drittelpause klar, dass an diesem Tag etwas außergewöhnliches passieren konnte.

Nervöse Schweden

Und das nach fünf Spielen an fünf aufeinanderfolgenden Tagen (die Schweden hatte zuvor zwei Tage Pause) – also in einer reinen objektiv zu betrachtenden physischen und psychischen Ausnahmesituation. Und die Jungs gingen auf das Feld mit entschlossenem Blick, und der Überzeugung alles zu geben, was sie noch hatten.  Und so ging es weiter. Nach 50 Minuten rieb ich mir ungläubig die Augen – es stand noch immer 2:2. Was wäre hier wohl los, wenn wir in Führung gehen würden?

Die Bank der Schweden verhielt sich zunehmend nervöser. So richtig fand man keine Lösung gegen diese Deutschen. Dann fiel das 3:2 der Schweden und es hätte sein können, dass das Team jetzt einbricht. Nichts davon war zu sehen. Die Jungs, fighteten, rannten und unterstützen sich gegenseitig weiter, als stünde man in einem Finale.

Unbändiger Wille, bis zum Schluss

In den letzten Minuten fiel dann das 4:2 und das 5:2, weil der Coach den Goalie zugunsten eines zusätzlichen Feldspielers einsetzte. Man kassierte sogar noch eine Zwei-Minuten Strafe kurz vor Schluss und die Jungs stellten auf Manndeckung um. Was für eine mutige und energieaufwendige Entscheidung. Da unten spielte ein Mannschaft mit einem unbändigem Willen. Und die Uhr tickte nach unten – das Team lief und kämpfte.

Am Ende steht da eine 2:5-Niederlage. Gegen Schweden. Nie, niemals zuvor war es so knapp. Hätte man das den Jungs am Anfang des Spiels angeboten, wahrscheinlich hätten sie es genommen. Aber nach dem Spiel: Nein! Alle wussten, hier wäre an einem Tag wie diesem in Malmö mehr drin gewesen.

Kein Glück, ein Wunder

Ein kleines Detail fällt mir noch ein. Am frühen Nachmittag im Kabinengang. Da wünschten uns die Polen „Good Luck“. Daraufhin sagte einer unserer Trainer: “We don`t need luck, we need a fucking miracle“. Diese Märchen lag in der Malmö Arena wirklich in der Luft. 

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de