Bogomil Poliakov: Flow-Erfahrungen sind für mich nur ein Nebenprodukt

Schon auf den ersten Blick ist Bogomil Poliakov (zur Profilseite) ein sehr interessanter Neuzugang im Team von Die Sportpsychologen: Pendelt der junge Mann doch zwischen der fränkischen Metropole Nürnberg und der bulgarischen Hauptstadt Sofia durch die Sportpsychologiewelt. Spannend sind auch seine eigenen sportlichen Erfahrungen, die er in seine Arbeit einfließen lässt. Etwa in Bezug auf Entspannungstechniken. Mehr dazu im Interview, welches Redaktionsleiter Mathias Liebing geführt hat.

Bogomil, du pendelst zwischen Nürnberg und Sofia. Was unterscheidet die fränkische Metropole und Bulgariens Hauptstadt auch in Bezug auf das sportpsychologische Arbeiten?

Also erstmal generell wird die fränkische Metropole durch ein gemütliches Lebensgefühl, traditionelle und leckere Küche, gesellige, bodenständige und herzliche Menschen, womit man auch ganz toll über alles mögliche reden könnte, wunderschöne Ausflüge ins Grüne, und zwar direkt mit den Öffis, v.a. mit den S-Bahnen  (nach Bamberg, Bayreuth, Ansbach, in den Landkreis Nürnberger Land, in die fränkische Schweiz zum (Bier-)wandern, Klettern etc.) gekennzeichnet. Man kann entlang der vielen hervorragend ausgebauten Wege und Pfade schön wandern, radeln, an Sportgruppen in der Stadt, z.B. Capoeira, Feldenkrais etc., teilnehmen, in einem Sportverein am Tag der offenen Tür aktiv werden. Ich war zusätzlich Gründungsmitglied einer Zweigstelle der Capoeiragruppe in Ansbach. Leider war das Projekt kurzlebig. Ich habe Selbstverteidigung und Krav Maga danach in denselben Fitnessräumen bis zu einem wichtigen Schnittpunkt, genauer: meiner sportlichen Verletzung, trainiert. Man kann schön und gemütlich in die Therme im Nürnberger Umfeld fahren, nach Bad Windsheim, Bad Staffelstein usw., in tollen Hallenbädern der Stadtwerke, z.B. im Nordosten Nürnbergs, schwimmen und im Warmbecken nach dem Training die Muskeln entspannen. 

Das sportliche Angebot in und um Nürnberg ist für mich sowohl für Individualsportler als auch für Teamevents enorm und vielfältig. 

Ich habe bis zum Beginn meiner freiberuflichen Tätigkeit als psychologischer Berater im Jahr 2022 vor allem Erfahrungen im klinisch-psychologischen Bereich gesammelt und mich mit verschiedenen Experten und Supervisoren im Feld der klinischen Psychologie und Psychotherapie vernetzen können. Seit Mitte 2022 bin ich in meiner alten Heimatstadt Sofia ansässig und seit ca. Anfang 2023 pendele ich zwischen Sofia und Nürnberg. Die Entscheidung ist mir nicht leicht gefallen, jedoch schöpfe ich Kräfte aus sinnvollen privaten Aufgaben, die ich hier vor Ort neben der beruflichen Tätigkeit übernehmen kann. Der Fokus auf konstruktive Alltagsgestaltung hält mich auf Trab.

Damit zu Sofia: Das moderne Lebensgefühl ist durch Großstadtfeeling, Hektik, positiven Stress und eng bebaute Räume gekennzeichnet. Jeder eilt irgendwohin, keiner grüßt so richtig und nimmt sich selten Zeit für ein Schwätzchen. Das sportliche Angebot wächst beständig und ich bin überrascht über die Vielfalt und die kurzen Meldewege. Mittlerweile praktizieren z.B. in Wiener Akademien ausgebildeten Feldenkraispädagogen in Gruppen- und Einzelunterricht. Das Angebot an Capoeiravereinen, Physiotherapie- und klassische TCM Praxen war bereits vor ca. zehn Jahren groß. Die Infrastruktur von Hallenbädern ist ausbaufähig und manche Anlagen sind sanierungsbedürftig. Sanierungsstau in Sporthallen ist keine Ausnahme, jedoch könnte man top ausgestattete neue Sportanlagen finden, vorausgesetzt man nimmt sich ausreichend Zeit zum Recherchieren und zum Ausprobieren. Saunalandschaften gibt es auch zu Genüge. Klassischerweise werden Gruppensportarten wie Fußball, Basketball, Volleyball (auch die internationalen Erfolge) gesellschaftlich hoch angesehen und die Sportler erreichen auch mal Kult- und Werbungsstatus (Dimitar Berbatow mit einer Akademie für Jugendtalente oder Hristo Stoitschkow mit dem Ball D’Or sind nur einige bekannte Beispiele).

Allerdings fehlt auch dem Fußball Berufsverband an Mitteln für Drittprojekte, was ein brandaktuelles Thema in den lokalen Sportmedien ist. Kurzum: Hervorragende Leistungen von Einzelsportlern und Krisen durch fehlende Finanzierungen für Ausbildung und Training im Gruppensport prägen das sportliche Bild vor Ort. 

Deswegen stellt sich das sportliche Arbeiten vor Ort in Sofia vor allem als eine Privatinitiative dar, dass heißt üblicherweise in einer (sport-)psychologischen Privatpraxis mit Einzelpersonen oder als Zusammenarbeit mit NGO-Initiativgruppen, z.B. mit einer Jugendtalentakademie usw. 

Du arbeitest sportpsychologisch gern und häufig digital. Welche Vorteile bietet die digitale sportpsychologische Praxis im Gegensatz zur Arbeit in Präsenz?

Meine digitale sportpsychologische Praxis bietet mir die Vorteile der räumlichen und zeitlichen Flexibilität. Ich könnte morgens und abends, z.B. ab 17 Uhr nach den üblichen Arbeitszeiten, Beratungstermine anbieten. Ich kann die Beratungsschwerpunkte und -ziele gemeinsam mit den Kunden bestimmen und Beratungsprozesse flexibel begleiten, z.B. intensive wöchentliche Beratungen zu Beginn oder phasenweise Follow-Up Termine je nach Bedarf der Kunden anbieten. 

Ich kann mir mehr oder minder die Fort- und Weiterbildungsthemen und -zeitpunkte frei wählen bzw. mit Supervisoren vor Ort oder digital absprechen und daran teilnehmen. 

Mit Hilfe der Online-Praxis konnte ich meinen Lebensstil mit dem Beruf relativ erfolgreich vereinbaren. Ich nehme mir beispielsweise lieber drei Mal in der Woche Zeit fürs entspannte Kochen als auswärts zu essen. Das ist mir wichtig! 

Anfangs dachte ich, dass ich im Gegensatz zur Präsenzarbeit mehr reisen könnte und möchte. Das ist allerdings abgesehen von Fortbildungen und wenigen Auszeiten im Vergleich dazu fast identisch geblieben, was ja okay ist, denn Routine und Struktur im Alltag erlebe ich für mich nahezu ausschließlich positiv. Die Freiberuflichkeit beansprucht sogar verhältnismäßig mehr mentale “Präsenzzeit” von mir, denn die Nachrichten trudeln schnell ein und ich bin gerne für alle Anfragen irgendwie schon bald ansprechbar. 

Du praktizierst selbst interessante Entspannungstechniken, zum Beispiel das “stille Sitzen”. Beschreib bitte bitte die Methode und welche Erfahrungen machst du damit?

Da ich bisher keine Schwimm- und Saunalandschaft für geeignet erklärt habe, konzentrierte ich mich auf Entspannungstechniken, die mir in der Vergangenheit zu mehr Ruhe verholfen haben. Mit dem stillen Sitzen bezeichne ich eher eine klassische Form der Meditation und Kontemplation. Die klassische Meditation bezieht sich vor allem auf die privaten Ich-bezogenen Erfahrungen, z.B. die Wahrnehmung der eigenen Gedanken, Emotionen, Körperempfindungen und Impulse, z.B. nehme ich manchmal einseitige Muskelverspannungen während der 25 minütigen Sitzeinheiten wahr. In der Regel geht es mir danach körperlich und mental besser. Ich kann freier atmen und mich schwungvoller bewegen. Genauso ordnen sich meine Gedanken, dazu lasse ich einige negative Gedankenkreise automatisch von mir fallen.

Die Grenzen zwischen Meditation und Kontemplation sind sehr fließend und theoriegeleitet. Dazu empfehle ich ein klassisches Werk von W. Massa “Kontemplative Meditation. Die Wolke des Nichtwissens. Präzise Anleitung zur kontemplativen Meditation in Parallele zum Zen.” Also beim kontemplativen, stillen Sitzen geht es darum, alle privaten Erfahrungen von sich zu weisen (“unter die Wolke des Vergessens zu stellen”), mit dem konzentrierten, sinnenhaften und emotionalen Fokus (mit einem “liebenden Aufmerken”) und wenn nötig mit einem fokussierenden Wort, sich an die Ganzheit der Erfahrung (“die Wolke des Nichtwissens zu durchbrechen”) zu richten. Sobald ich Sorgen und anderweitige Emotionen auf die Wolke werfen kann, stellt sich häufig eine entspannende Wirkung ein. Ich übe mich in einer Kombination aus emotionaler Durchlässigkeit und professioneller Distanz.

Neben der oben beschriebenen kontemplativen Entspannung könnte man sich genauso gut durch ein aktives Leben auf die Ganzheit der Erfahrung im Alltag fokussieren, z.B. im sportlichen Flow wird man ja teilweise ein Teil vom Ganzen der Erfahrung, Grenzen der eigenen Leistung verschwimmen und manchmal werden Höchstleistungen erbracht usw. Wobei die Flow-Erlebnisse (“die Gipfelerfahrungen”) kein eigentliches Ziel, sondern Nebenprodukte der Meditation, Kontemplation und des aktiven Lebens darstellen und ruhig schnell von sich gewiesen werden könnten. 

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