Kürzlich habe ich im Magazin des Tagesanzeigers ein spannendes Interview mit dem „Lebensglück“-Forscher Albert C. Brooks gelesen. Sein Postulat ist simpel: Wer in seinem Leben alles dem Erfolg opfert, einseitig und unausgeglichen lebt und seine Zeit in die falschen Dinge investiert, wird – spätestens im Alter – unglücklich scheitern. (Lebens-)Glück sei nicht die Folge von Erfolg, sondern die Voraussetzung. Wie sich Brooks Anleitung auf den Sport und unsere Arbeit in der Angewandten Sportpsychologie übertragen lässt, versuche ich nachfolgend an vier Beispielen zu erläutern.
Zum Thema: Lebensglück im sportlichen und sportpsychologischen Sinne
Vielleicht hat es auch mit meinem Alter und meiner heutigen Lebenssituation zu tun, dass Brooks’ These verfängt und mich zum Nachdenken anregt. Seine Botschaft ist klar: Wir können und sollen an unserem Lebensglück arbeiten und uns bewusster mit den Veränderungen in der eigenen Biographie auseinandersetzen.
Der springende Punkt dabei ist, zu erkennen, dass uns in der Mitte des Lebens der „unaufhaltsame Verfall der eigenen Brillanz” einholt und uns zu einem Umdenken auffordert. Er spricht von der „fluiden Intelligenz“, die uns in der ersten Lebenshälfte auf unserer „Ich-Kurve“ zu besonderen Leistungen befähigt und einer „kristallinen Intelligenz“, die ab 40 Jahren das Potential entwickelt, uns sehr viel glücklicher zu machen. In der zweiten Lebenshälfte profitieren wir insbesondere von Wissen, Einschätzungen und Erfahrungen.
Die Kurve kriegen – auch für Sportler:innen
Grundlage einer positiven Entwicklung im weiteren Lebensverlauf sei, sich von seinen alten Erfolgsrezepten der fluiden Intelligenz zu verabschieden. „Wir springen also von der überehrgeizigen Ich-Kurve zur eher zwischenmenschlich orientierten Wir-Kurve (…) Wir werden vom Erfolgsjunkie zum Lehrer.“ Insbesondere hinsichtlich des beruflichen Karriereendes sieht Brooks sehr bedeutsame Veränderungen, um auch diese „Kurve“ zu kriegen: „Jeder Karrieremensch verfügt über ein umfassendes Netzwerk an «Deal»-Freunden. (…) Früher hatte man echte Freunde, jetzt nur noch «Deal»-Freunde. Also sollte man in der Vergangenheit kramen und die alten Freunde von früher wieder kontaktieren.“
„Lebensglück“ – „Karrieremensch“ – „Erfolgsjunkie“ – „Wir-Kurve“ – „echte Freunde“: Wenn ich diese Schlagwort-Liste durchgehe, fällt es mir wie „Schuppen von den Augen“. Da spricht jemand von Lebenserfahrungen und wissenschaftlich gestützten Zusammenhängen, die uns auch im Kontext des Sports und mich in der Substanz meiner Arbeit als Sportpsychologe zentral tangieren. Ich möchte dies an vier Beispielen erläutern und interessante Handlungsmöglichkeiten aufzeigen:
1) Elterncoaching – „echte Freunde“
Als „Sportvater einer ambitionierten Tochter habe ich es hautnah erlebt, welche Auswirkungen eine Fokussierung auf den Sport auf das soziale Umfeld eines jungen Menschen hat. Dabei haben wir als Eltern versucht, eine „Handlungsanweisung für Sporteltern“ (vgl. Gubelmann, Baldasarre & Müller, 2021) ganz bewusst zu befolgen, nämlich: „Eltern fördern gesunde Beziehungen zu signifikanten Anderen“. Damit meine ich insbesondere auch zu Freund:innen ausserhalb des Sports!
2) Karriereübergang im Spitzensport – „Erfolgsjunkie“
Sportliche Erfolge, Rekorde, Spitzenleistungen und Medaillen wirken berauschend und sind wichtige „Treiber“ in der Karriere eines Spitzensportlers. Die „fluide Intelligenz“ manifestiert sich hier sehr oft in einem egozentrischen Streben nach Erfolg und im Erleben sportlicher Leistungsfähigkeit. Gerade im Übergang in eine nachsportliche Karriere würde ich der Athletin die Brooks’sche Frage stellen wollen: „Wie gedenkst du, die Kurve zu kriegen?“
3) Netzwerk „die-sportpsychologen.de“: „Wir-Kurve“
Bald feiert unser Netzwerk sein 10-jähriges Bestehen. Unsere Plattform hat sich in den Jahren prächtig entwickelt und verfügt über eine beeindruckende Reichweite im deutschsprachigen Raum. Brooks würde dazu sagen: Die „Deal“-Freunde leisten tolle Arbeit! Letztes Wochenende verbrachten sieben Netzwerk-Freund:innen ein launiges Workshop-Wochenende in Würzburg. Hauptthema auch dort: Wir!
4) Selbstreflexion – „Lebensglück“
Ich fühle mich im „indian summer“ meiner beruflichen Karriere. Ich würde meinem Leben als „Sportmensch“ gerne noch ein paar schöne Kapitel hinzufügen. Mit 50 Jahren stand ich ein letztes Mal mit einer Startnummer am Start und erkannte, dass die einst ziemlich „fluide“ Bewegungsintelligenz abhandengekommen war. Heute, rund zehn Jahre später, entdecke ich im Text von Albert C. Brooks spannende Parallelen zu meiner persönlichen Entwicklung. Diese Ideen dienen mir als Mittel zur Selbstreflexion. Vielleicht taugt die Wir-Kurve auch dir!?
Quellen:
Gubelmann, H., Baldasarre C. & Müller, P. (2021): Wie Eltern in der Schweiz ihre Kinder erfolgreich auf dem Karriereweg nach Olympia begleiten: https://sems-journal.ch/10123
https://www.tagesanzeiger.ch/psychologie-und-glueck-mitte-40-kriegen-wir-die-2-chance-914852517994
(Für eine Kopie des Artikels bitte mich kontaktieren unter: hgubelmann@ethz.ch)
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