Pro oder Contra NLZ – Wo sind Talente besser aufgehoben?

Kürzlich hat Fußball-Nationalspieler Robin Gosens bei LinkedIn (Link zum Post unten) eine spannende Frage aufgeworfen: Sind Nachwuchsleistungszentren Fluch oder Segen? Gosens ist fernab von NLZ-Strukturen zu dem Menschen und Fußball-Profi geworden, der er heute ist. Und er ist nicht der einzige, der sich abseits der fußballerischen Rundumversorgung zu einem Top-Spieler entwickeln konnte. Sollten wir als Die Sportpsychologen also jungen Talenten empfehlen, den Weg an den Nachwuchsleistungszentren vorbei zu suchen? Oder spricht doch zu viel für ein NLZ? 

Zum Thema: Nachwuchsleistungszentren – Fluch oder Segen?

Pro NLZ:

Janosch Daul, Die Sportpsychologen

Janosch Daul (zum Profil)

Fakt ist, dass jeder Karriereweg individuell höchst unterschiedlich verläuft. Ob der “klassische NLZ-Weg” DER Weg schlechthin ins Profigeschäft ist, ist von zahlreichen Bedingungsfaktoren abhängig, wie u.a. von den im NLZ vorherrschenden (Trainings-)Bedingungen, den dort angestellten Führungspersönlichkeiten, dem dort vorherrschenden Klima, der Persönlichkeitsstruktur und dem Reifegrad des Spielers, seinem sozialen System und dem Zusammenspiel zwischen Schule und Fußballverein. 

Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass die Ausbildung in einem NLZ eine vielversprechende Möglichkeit darstellen kann, um als Fußballer Schritt für Schritt wachsen zu können (vielleicht sogar bis zum Profi) – unter der Grundvoraussetzung, dass das Zusammenspiel der im System Beteiligten (Mannschaftstrainer, Spezialtrainer, Nachwuchsleitung, Spieler, Eltern, Sportpsychologe etc.) auf höchstem Niveau abläuft und als wahres Unterstützungssystem für den Spieler fungiert. Es braucht ein wirkliches Talentumfeld, damit der Spieler seine Potenziale voll entfalten kann. Gelingt es einem NLZ, ein genau solches mit Leben zu füllen, den Spieler dabei spielerzentriert und bedürfnisorientiert in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns zu rücken, so findet dieser ideale Grundvoraussetzungen für seine Weiterentwicklung vor. Was dieser daraus entstehen lässt, liegt dann primär in seiner Hand. Gleichzeitig bin ich völlig bei Robin Gosens – im Hinblick darauf, wie wichtig eine frühzeitige proaktive Auseinandersetzung mit einem Plan B ist. 

Idealerweise gilt es, alles für den Traum Profifußball zu geben, sich auch erlauben zu träumen, aber dennoch einen gesunden Realismus an den Tag zu legen, der dem Spieler hilft, alternative berufliche Möglichkeiten ins Auge zu fassen. Wir beim Halleschen FC führen über die Altersklassen hinweg regelmäßig Workshops zur Förderung der mentalen Stärke durch. Einer dieser Workshops lautet “Aus der Vergangenheit in die Gegenwart in die Zukunft”. Hierbei setzen sich die Jugendlichen bewusst u.a. mit folgenden Fragen auseinander: Welche Lebensereignisse haben mich geprägt? Welche Leidenschaften und Hobbys pflege ich neben dem Fußball? Wofür kann ich mich (noch) begeistern? Und auf dieser Grundlage: Was könnte ein Plan B sein? Und: Was konstituiert meine Identität? 

Ich wünsche mir, dass neben Sportpsychologen insbesondere die Elternteile in engem Austausch mit Ihrem Sohn stehen im Hinblick auf ihre Zukunftsplanung und dabei als Wegbegleiter vor allem wertvolle Reflexionsräume schaffen, aus denen (irgendwann) eine Klarheit erwachsen kann.

Contra NLZ:

Sebastian Ayernschmalz
Sebastian Ayernschmalz, Die Sportpsychologen

Sebastian Ayernschmalz (zum Profil

Mit dem NLZ werden vertraute Strukturen aufgebrochen. Neue Bezugspersonen rücken in den Vordergrund. Dabei müssen die sportlichen Betreuer:innen sich die Fragen stellen: Bin ich mir bewusst, welche Rolle ich jetzt im Leben des/der Sportler:in spiele? Bin ich mir bewusst, dass ich mehr als nur ein(e) Trainer:in bin? Dies bedeutet in der Organisation aber auch die Frage: Bringen meine Trainer:innen das nötige Handwerkszeug mit, um diese Lücken zu schließen?

Mit einer verpflichtenden Einstellung eines Sportpsychologen ab den Top-Ligen ist sicher eine Maßnahme getroffen worden, um Halt und Sicherheit zu geben. Allerdings ist dies leider auch eine Symptombehandlung. Wenn Psychologen und Therapeuten involviert werden müssen, um die mentale Gesundheit herzustellen, ist vor allem die Ursache zu suchen. Die sportpsychologische Betreuung der Sportler:innen ist grundsätzlich immer sinnvoll. Die Frage der Wirksamkeit bei einer Stelle für x-Mannschaften und lediglich von Kurzinterventionen ist aber mit in den Raum zu werfen. 

Nachwuchsleistungszentren sind dann eine gute Möglichkeit zur Förderung, wenn alle Beteiligten einen Blick über ihren Tellerrand hinaus werfen. Wenn sich Trainer:innen aber zu sehr auf den sportlichen Teil fokussieren und die Bindung und psychologische Sicherheit und Entwicklung anderen überlassen, dann ist das zumindest sehr kurzfristig gedacht und wird im schlimmsten Fall auf den Rücken der Athleten ausgetragen. Das “ewige Talent”, das es leider nicht geschafft hat, ist mit Sicherheit ein gängiges Wording. Wenn man dies aber auch kritisch betrachtet, muss man sich auch die Umwelten der Sportler:innen anschauen und hier ggf. Ursachensuche betreiben. 

Ein NLZ, das nur da ist, um Auflagen zu erfüllen, ist sicher völlig am Ziel vorbei und die ein oder andere Leitung sollte sich selbst hinterfragen und prüfen, welche Maßnahmen ergriffen werden, um die Sportler:innen auf das Leben (auch außerhalb des Platzes) vorzubereiten. Wenn am Ende des(zerplatzten) Traumes gebrochene Seelen in die Realität entlassen werden, haben nur wenige Menschen etwas gewonnen.

Kathrin Seufert, Die Sportpsychologen

Kathrin Seufert (zum Profil)

Ich kann mich auf beiden Seiten wiederfinden. Es gibt einige positive Aspekte des Systems Nachwuchsleistungszentrum, von denen Jansoch auch einige aufzählt. Für mich besteht aber eine große Schwierigkeit darin, dass die individuelle Entwicklung auf Grund des Leistungssystem nicht vollends beachtet wird. Es ist leistungsorientiert. Wer nicht gut genug ist, muss gehen. 

Dabei fehlt mir der Gedanke, du bist NOCH nicht gut genug oder strukturierte Optionen, damit der/die Jugendliche weiter seinem/ihrem Hobby nachgehen kann. Wir müssen froh sein, dass so viele junge Menschen diese Sportart lieben. Diese Liebe soll nicht getrübt werden, weil es für eine bestimmte Mannschaft derzeit nicht reichen soll. Es haben genug Fußballer bewiesen, auch ohne ein NLZ ganz oben anzukommen.

Daher glaube ich, es gibt kein klassisches Pro und Contra. Jeder Jugendliche muss selbst für sich schauen, ob das System, der Verein, das Umfeld, die Verantwortlichen und deren Philosophie zu einem passen und dies immer wieder neu reflektieren. Der Zusammenhalt, die professionelle Begleitung auf allen Ebenen kann natürlich auch den entscheidenden positiven Effekt haben.

Am Ende sind die NLZ-Kicker mehr als Fußballer, es sind Menschen, die auf ihrem Weg begleitet werden sollten und meistens auch begleitet werden wollen. Daher ganz klar die Antwort: Es gibt diese klare Antwort nicht. Im Vordergrund sollte vielmehr die individuelle Begleitung stehen, um den Weg eines Jugendlichen optimal zu gestalten. 

Kyle Varley, Die Sportpsychologen
Kyle Varley, Die Sportpsychologen

Kyle Varley (zum Profil)

Für die NLZ-Strukturen spricht, dass in den NLZ der Fußballer als Fußballer voll und ganz gefördert wird. Dies umfasst heutzutage nicht nur das Technische und Taktische der Sportart, sondern reicht in einem modernen NLZ von Sportpsychologie, bis hin zur Ernährungsberatung oder Einblicke in verschiedene Regenerationsmöglichkeiten wie Yoga und dergleichen. Der Sportler bekommt ein alles umfängliches Wissen mitgegeben, das ihm hilft, auf sportlicher Ebene sein Potenzial abzurufen. 

Jeder individuelle Fußballer kann für sich dann auch die Learnings mitnehmen, die ihm am meisten helfen. Gleichzeitig werden blinde Flecken durch professionelle Betreuung aufgedeckt, wodurch frühzeitig Verletzungen vermieden werden und Probleme mit dem Umgang mit Druck und Stress präventiv gelernt werden können. Dies egal aus welchem Hintergrund und welcher finanziellen Situation die Familie des Fußballers kommt.

Der Fußballer profitiert also vom NLZ. Gleichzeitig kann dadurch der Mensch leiden. Denn die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ist in dem Alter, wo die Fußballer ins NLZ gehen, am absolut wichtigsten. Die Entwicklung wird am ehesten gewährleistet, wenn Jugendliche verschiedene Lebensbereiche kennenlernen und sich über verschiedene Rollen und Persönlichkeitsmerkmalen identifizieren können.

Wachsen die Fußballer aber ab Jugendalter in der Rolle als “Fußballer” auf und werden ausschließlich mit dem Thema Fußball konfrontiert, dann fehlt die Entwicklung der anderen Bereiche. Sich alleine durch einen Bereich zu identifizieren mag im Fußball nicht zwingend ein Nachteil sein, bei Verletzungen, Bänkeln oder Karriereende, aber erst recht. Weil nach wie vor ein Großteil der Jugendspieler den Sprung auf die professionelle Ebene nicht schaffen, werden sie also nicht darauf vorbereitet, mit dem umzugehen und haben Mühe, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

Link zum LinkedIn-Beitrag von Robin Gosens: Link

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de