Dr. Hanspeter Gubelmann: „Wir fördern Leistungssport – aber nicht um jeden Preis!“

Die Meldungen zu Missbrauch, Gewalt, Angstkultur und sexuellen Übergriffen im Schweizer Sport reissen nicht ab. Der jüngst in den Medien publik gemachte Fall im Männer-Kunstturnen belegt nur eines von offensichtlich vielen Schicksalen, welche sich gehäuft in kompositorischen Sportarten zutragen. Die unabhängige Meldestelle Swiss Sport Integrity (SSI), an die sich betroffene Athlet:innen in ihrer Notlagen wenden und Unterstützung finden können, wird mit Anfragen überschwemmt. Wie hoch muss der Preis eigentlich sein, bis Leistungssport, der solches Leid offensichtlich zulässt, nicht mehr gefördert wird? Das News-Team des Schweizer Fernsehens (SRF) bat mich um eine Stellungnahme. Wie die Story ausging und welche Learnings sich daraus für die Angewandte Sportpsychologie ergeben, möchte ich anschliessend darlegen.

Zum Thema: Der sportpsychologischer Fokus auf drängende Veränderungen im Nachwuchs-Leistungssport

Vor ziemlich genau drei Jahren erschütterten die „Magglingen Protokolle“ die Schweizer Sportwelt. Was viele gewusst, geahnt oder einfach verdrängt hatten, drang an jenem 30. Oktober 2020 schockartig ins Bewusstsein der Schweizer Gesellschaft. Es folgten umfangreiche wissenschaftliche Studien und vielbeachtete Berichte in den Medien. Das hieraus gewonnene Verständnis im „neuen“ Umgang mit Nachwuchs-Leistungssport gipfelte im Statement von Sportministerin Viola Amherd (siehe Quellen): «Wir wollen und fördern Leistungssport – aber nicht um jeden Preis!»

Was ist seither geschehen? Ist der Nachwuchs-Leistungssport seither gesünder, ethisch vertretbarer oder kindgerechter? Die zahlreichen Berichte der letzten Wochen lassen mich daran zweifeln. Die News-Redaktion von SRF hat mich angefragt, dazu Stellung zu nehmen. Entstanden ist ein zweiteiliger Bericht, der einleitend einen aktuellen Fall darlegt und anschliessend die Thematik aus mehreren Perspektiven beleuchten soll. Dieser Blog ist quasi mein persönliches „Debriefing“ einer Medienanfrage, die mich bis heute drei Tage Arbeitszeit (inklusive Verfassen dieses Blogs!) kostete und letztlich zu drei Statements im Beitrag führte. 

Zur inhaltlichen Verortung zum Interview schickte mir die News-Redaktion folgende vier Fragen, welche den Themenkatalog eingrenzen sollten. 

Das Thema im SRF

Scann den QR-Code und schau dir den Insta-Clip des SRF zum Thema an.

Link: https://www.srf.ch/news/schweiz/missstaende-im-kunstturnen-turner-trainer-missachtete-aerztliche-anweisungen

Ist Erfolg im Spitzensport nur mit Härte und Drill zu erreichen?

Der aktuell weltbeste Skifahrer Marco Odermatt hat einmal gesagt, dass er als Bub nicht der Beste sein wollte. Er hatte offensichtlich grossen Spass am Skifahren und strebte danach, sich zu einem sehr guten Skifahrer zu entwickeln. Um einen jungen Menschen mit seinen Talenten optimal zu fördern, braucht er weder die erwachsene Sichtweise einer (zu frühen) Erfolgsoptimierung, noch die Vorstellung eines „zu schleifenden Rohdiamanten.“ Stattdessen haben die jungen Odermatts, Federers, Holdeners – eben alle sportbegeisterten Jugendlichen von heute das Anrecht einer kind- und jugendgerechten Unterstützung und Förderung. Statt Härte und Drill – ein Klima des Empowerments, das wahrhaftige Unterstützen junger Menschen in ihrer Entwicklung, welches seinen Anfang immer im Elternhaus nimmt.

Wo muss der Hebel angesetzt werden, um im Sport sicherzustellen, dass ethische Verstösse nicht mehr vorkommen?

Zunächst geht es um ein gemeinsames Verständnis dessen, was gutes – eben ethisch vertretbares – Handeln im Sport beinhaltet. Diesbezüglich bin ich froh um das klare Statement unserer Sportministerin Viola Amherd: „Wir fördern Leistungssport – aber nicht um jeden Preis!” 

Ich interpretiere ihre Aussage dahingehend, dass die Förderung dort aufhört – aufhören muss! – wo die Integrität, die Sicherheit, die Gesundheit und/oder die kindgerechte Entwicklung der jungen Menschen gefährdet sind. Aus psychologischer Perspektive müsste dies zu einem eindeutigen und bindenden Statement aller Beteiligten im Nachwuchssport führen: Der junge Mensch mit seinen Anliegen und seine gesunde Entwicklung stehen im Mittelpunkt – die sportliche Leistung ist zweitrangig! Im Weiteren geht es um ein klares Verständnis dessen, was junge Menschen brauchen, um sich gut entwickeln zu können. Der entscheidende Treiber ist das Selbstvertrauen der jungen Sportlerin. Dieses entsteht aus einer wachsenden Autonomie, aus Kompetenzerleben und sozialem Miteinander. Dagegen bewirken übermässiger Druck, Härte und Drill genau das Gegenteil. Es entsteht Angst. Das Kind entwickelt Versagensängste, es zieht sich in eine innere Welt zurück und vielleicht das Schlimmste: es verliert den Mut, den Glauben an sich und in seine Fertigkeiten. Sport unter diesen Vorzeichen ist ethisch nicht vertretbar, darf also nicht gefördert werden.

Man spricht von einem Kulturwandel im Sport: Wie konkret muss dieser bewerkstelligt werden

Die Sensibilität hinsichtlich der Thematik „umsichtig fördern anstatt überfordern“ ist im Schweizer Sport angekommen. Dies belegen ganz viele Aktivitäten in zahlreichen Sportarten. Die Curricula der Trainer- und Leiter:innen-Ausbildungen werden angepasst, es entstehen auch inhaltliche Leitfäden, die Eltern, Trainer Funktionäre und Sportpsychologinnen in ihrem Tun unterstützen. Das jüngst publik gewordende Beispiel gravierender Missstände im Bereich Artistic Swimming des Schweizerischen Schwimmverbands (Swiss Swimming) zeigt aber auch, dass die Hauptverantwortung bei den Verbänden und Organisationen liegt. Da braucht es in Zukunft an einigen Stellen noch mehr Leadership, bessere Strukturen und eine lernfähige Organisation, die einen Kulturwandel überhaupt ermöglichen. Zuoberst sind es aber die Erwachsenen, die Präsidenten und Verantwortlichen. Da erwarte ich deutlich mehr Klarheit, Veränderungswillen und Zivilcourage, als ich aus den Statements unserer Schweizer Spitzenfunktionäre jüngst in den Interviews von 10vor10 gehört habe. Mich würde schon interessieren, wie unsere Sportchefin diese interpretiert!

Reichen die vorhandenen Mittel aus, um diesen Kulturwandel sicherzustellen – oder muss der Druck erhöht werden?

Druck erzeugt Gegendruck. Druck ist kein guter Partner, wenn es um Entwicklung und letztlich um Lernen geht. Im Zentrum steht die Frage, was wir daraus lernen, wenn zu oft ethisch nicht vertretbarer Missbrauch und Überforderung auf junge Menschen im Sport einwirken. 

Fragwürdig: 4 Turnerinnen waren im Mehrkampffinal der weltbesten Kunsturnerinnen jünger als 17 Jahre – zwei Drittel aller Turnerinnen wären in der Leichtathletik für die U23-Weltmeisterschaften startberechtigt… (Quelle: Dr. Hanspeter Gubelmann)

Wenn ich mir die „Charta der Rechte von Kinder und Jugendlichen im Sport“ als Orientierungsmassstab nehme, müsste ich die Verantwortlichen im Kunsturnen fragen: Warum müssen die Athletinnen schon dermassen früh in ihrem Leben diese ausserordentlich schwierigen Übungen turnen, ihren Leistungszenit meist schon im Alter von 20 erreichen, was oft zu einem frühen Karriereende führt? Ist dies aus ethischer Sicht statthaft – und zwar aus Sicht des jungen Menschen und seiner gesunden Entwicklung. 

Die Antwort ist für mich eindeutig: die Leistungsmaximerung im Kunstturnen den Frauen erfolgt viel zu früh, das Risiko von Entwicklungsschäden ist viel zu hoch. Folgerichtig wäre u.a. ein Alterslimit für Teilnahmen an internationalen Elite-Meisterschaften von mindestens 18 Jahren. Angesprochen auf die Notwendigkeit eines Alterslimits im Kunstturnen antwortete Matthias Remunds (Direktor des Bundesamts für Sport) im Interview mit „10vor10“ kurzsilbig: „Das können wir nicht entscheiden, das kann nur der internationale Kunstturnverband festlegen“.   

Die Rolle der Eltern/Trainer: wo muss hier der Hebel angesetzt werden?

Die Rolle der Eltern gerade am Anfang einer Sportkarriere ist immer dreifaltig: Sie dienen als Vorbild, sie sind die grossen Unterstützer und meist auch Bewerter, indem sie die Leistungen ihrer Kinder interpretieren. Ich erlebe viele Sporteltern sehr interessiert und aktiv. Sie wollen informiert sein und haben auch Anrecht darauf. Auf der anderen Seite stehen die Trainer:innen, die mit ihrem Alltagsgeschäft häufig am Rand ihrer Belastbarkeit stehen und auf ein einvernehmliches Miteinander mit den Eltern hoffen. 

Grundsätzlich möchte ich für eine stärkere Integration der Eltern in den Sport ihrer Kinder plädieren. Wie das gehen könnte, zeigt u.a. das Sportland Norwegen. Die Sportpsychologie sollte hier als vermittelnde Instanz mitwirken, indem sie beispielsweise psychoedukative Angebote im Austausch von Eltern und Trainer:innen organisiert und moderiert. Eine spannende Frage könnte lauten: wo braucht es die Eltern, wo braucht es sie eher nicht! Ein offener Austausch hinsichtlich eines partnerschaftlichen Rollenverständnisses dürfte auf beiden Seiten hilfreich sein, um gegenseitiges Vertrauen und Verständnis füreinander zu vertiefen.

Learnings für Sportpsychologie

Die Auseinandersetzung mit der Thematik „Safe Sport“ zeigt, dass die Sportpsychologie ein bedeutsamer Akteur in der aktuellen Diskussion um gesunden, ethisch vertretbaren Leistungssport ist. Andererseits müssen wir unsere Standpunkte insbesondere im Nachwuchsbereich zukünftig noch akzentuierter einbringen. Die Missstände sind vielerorts massiv, vor allem auch in kompositorischen Sportarten, wo Mädchen enorme psychische und physische Belastungen bewältigen müssen. Wie virulent die Thematik ist, zeigt sich an den  jüngst in der NZZ am Sonntag (siehe Quellen) dargestellten Missständen in der Rhythmischen Gymnastik. In der momentanen Situation erkenne ich folgende drei Entwicklungsbereiche, denen sich die Sportpsychologie weiterhin – und noch verstärkt! – widmen muss.

1) Wir müssen den fundamentalen Anliegen, den Voraussetzungen und notwendigen Rahmenbedingungen für einen gesunden, ethisch vertretbaren Leistungssport im Nachwuchsbereich eine deutliche Stimme geben;

2) Wir brauchen eine klare, breit abgestützte Haltung dazu, wie wir mit den besonderen Herausforderungen bezüglich „Safe Sport“ umgehen – ein entsprechender Katalog mit Handlungsanweisungen im Handlungsfeld der Angewandten Sportpsychologie ist in der Schweiz (SASP & BASPO) in Bearbeitung;

3) Wir benötigen ein „Schärfen“ unserer Expertise und zwar in Verbindung von wissenschaftlichen Erkenntnissen mit einer Optimierung unserer Handlungskompetenzen. Genau dazu erhoffe ich mir von der Veranstaltung  „Sexualisierte und interpersonale Gewalt im Sport“ an der Spoho Köln (Veranstaltung: Sexualisierte und interpersonale Gewalt im Sport, 23.10.23, Köln – mehr Infos) einen schönen Mehrwert!

Mehr zum Thema:

Quellen:

https://www.tagesanzeiger.ch/wie-turnerinnen-in-magglingen-gebrochen-werden-170525604713

https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/viola-amherd-prasentiert-massnahmen-nach-turn-skandal-66042485

https://www.swiss-aquatics.ch/wp-content/uploads/2022/09/T9_AS_Bericht_formatiert_def_D.pdf

https://www.nzz.ch/nzz-am-sonntag/krankenakte-wirkt-wie-anklageschrift-die-fortsetzung-des-magglingen-debakels-ld.1759830

https://weiterbildung.dshs-koeln.de/details.jsp?id=2913&kurs=sexualisierte-und-interpersonale-gewalt-im-sport

https://www.srf.ch/news/schweiz/missstaende-im-kunstturnen-turner-trainer-missachtete-aerztliche-anweisungen

Veranstaltungshinweis:

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Dr. Hanspeter Gubelmann
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