Prof. Dr. René Paasch und Prof. Dr. Oliver Stoll: Die Rolle der Sportpsychologie im Deutschen Fußball – Zwischen Tradition und Transformation

In einem Podcast sprach Matthias Sammer ein Jahr vor der Heim-Europameisterschaft aus, was viele Fans, Beobachter und auch Insider fühlen und befürchten: Der deutsche Fußball steckt in einer tiefen Krise. In der Sportpsychologie kennen wir uns mit Krisen aus, sie gehören fast ein wenig zum täglich Brot. Aber auch wir müssen uns fragen, ob wir in dieser schwierigen Phase mit alten Traditionen brechen und neue Wege gehen sollten? 

Zum Thema: Sportpsychologie im Fußball

Während andere Disziplinen sich ständig weiterentwickeln und neue Höhen erreichen, hält die Sportpsychologie oft an bewährten, aber längst überholten Ansichten und Strategien fest. Konzepte, die vor zwei Jahrzehnten ihren Ursprung fanden, üben weiterhin Einfluss aus und scheinen in einer unerwarteten Lethargie gefangen zu sein, anstatt als Wegbereiter für nachhaltige Entwicklung zu dienen. Die Sportpsychologie befindet sich scheinbar in einer “unsichtbaren Feuerwehrrolle”, die häufig nur bei akutem Bedarf zum Einsatz kommt, anstatt proaktiv wegweisende und ganzheitliche Begleitung zu bieten – zumindest spiegelt sich dies in den Erfahrungen der Autoren dieses Beitrags wider. Diese Erscheinung wirft zweifellos Fragen auf bezüglich ihrer wahren Funktion und ihres Engagements in den strategischen Entscheidungsprozessen des Fußballs. Die moderne Sportpsychologie verlangt nach einer tiefgreifenden, umfassenden Herangehensweise. Doch bedauerlicherweise sind wir seit geraumer Zeit Zeugen von Schwierigkeiten, die durch veraltete Denkmuster und Ansätze verursacht werden. Dies führt dazu, dass der eigentliche Bedarf verschleiert wird und nur wenig Raum für Innovationen und Neuerungen bleibt. Insbesondere der deutsche Fußball, sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen, zeigt diese Diskrepanz auf. 

Die “weichen” Faktoren wie mentale Gesundheit, Teamdynamik, Leistungsoptimierung und Persönlichkeitsentwicklung wurden bisher nur oberflächlich angegangen, auch wenn dies der DFB thematisch relativ “hoch hängt”. Die Anzahl der angestellten Sportpsychologen im Profifußball spiegelt diese stagnierende Haltung wider – gerade einmal 10% der Vereine in den ersten drei Ligen haben Zugang zu einem Sportpsychologen, und selbst diese Positionen sind oft nur Teilzeit oder auf Stundenbasis besetzt. Ein bezeichnendes Zitat eines Managers aus der ersten Liga bringt diese Haltung auf den Punkt: “Wenn ich überschüssiges Geld hätte, würde ich lieber einen Spieler kaufen, als einen Sportpsychologen einzustellen.” Dies verdeutlicht das mangelnde Vertrauen und die andauernde Priorisierung physischer Leistung über mentale Unterstützung. Trotz der jahrelangen Integration sportpsychologischer Ausbildung in Trainerlizenzen im deutschen Fußball scheint das Interesse seitens der Trainer und Vereinsverantwortlichen nach wie vor begrenzt zu sein. Wie ein deutscher Fußballlehrer aus einer europäischen Topliga uns gegenüber treffend sagte: “Was interessierten mich die Gütekriterien eines Fragebogens oder die Evidenz einer Studie, wenn ich meinem Stürmer helfen will, seine Torflaute zu überwinden. Spannend wären auch Informationen, wie ich einzelne Spieler in ihrer Persönlichkeit entwickeln kann? Stattdessen werden uns Prüfungsfragen gestellt, wie wir in Kürze eine erfolglose Mannschaft auf das Wochenende vorbereiten sollen, damit sie wieder Spiele gewinnen.” 

Feuerwehrrolle, Teilzeit Dilemma oder Neuausrichtung?

Die Aussage lässt sie wie folgt deuten: Die Sportpsychologie bedient also, offenbar auch in der Lehrmeinung, eine Feuerwehrfunktion mit teilweise fehlendem praktischem Bezug. Aber es geht noch weiter: Auch die Implementierung von Sportpsychologen und -psychologinnen in den Nachwuchsleistungszentren erscheint auf den ersten Blick als ein wohlüberlegter Schritt, um die mentalen Aspekte der aufstrebenden Trainer*innen und Spieler*innen zu fördern. Jedoch wirft dieses Vorhaben bei genauerer Betrachtung gewisse Fragen auf, die eine umfassende Analyse erfordern. Die Anwesenheit von Teilzeitkräften oder gar einer Einzelperson in diesem Kontext mag zweifellos ihre eigenen Vorzüge haben, doch stellt sich die grundlegende Frage, ob diese Ressourcen tatsächlich ausreichen, um eine nachhaltige Betreuung für die beträchtliche Anzahl von bis zu zehn Jugendmannschaften zu gewährleisten. Nicht minder bedeutend ist die Erkenntnis, dass lediglich ein äußerst bescheidener Bruchteil der aufstrebenden Fußballtalente den begehrten Status eines Profifußballers erreicht. Die präzisen statistischen Werte mögen zwar leicht variieren, doch gemäß vielfältigen Quellen beläuft sich dieser Anteil auf etwa 2 bis 3,5 Prozent. In Anbetracht der schier unübersehbaren Fülle von Fußballvereinen, Spielern und Ausgaben in Millionen mag diese Zahl in der Tat geringfügig wirken. Doch drängt sich eine valide Frage auf: Können wir eine größere Anzahl aufstrebender Talente nachhaltig auf ihrem Weg zum Profifußball begleiten, indem wir tatsächlich vermehrt in ihre Mentalität und Persönlichkeitsentwicklung investieren? 

Die gegenwärtig aufgeworfene Frage drängt sich nunmehr mit Berechtigung auf: Ist eine fundamentale Neubewertung unvermeidlich erforderlich? Inwieweit sollten sämtliche beteiligten Parteien, insbesondere diejenigen, die an überkommenen Vorstellungen festhalten, sich einem Wandel gegenüber öffnen und ihn akzeptieren? Statt impulsiver Maßnahmen und ausschließlichem Streben nach sportlicher Leistungssteigerung sollte die Sportpsychologie eine proaktive Rolle einnehmen, die über reaktive Lösungen hinausreicht. Damit unterstreichen wir eine Forderung von Dr. Hans-Dieter Hermann (2023), der in einem Beitrag auf der Seite der DFB-Akademie einen Beitrag zum Rollenverständnis der Sportpsychologie verfasst hat. Es ist, unseres Erachtens, höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel in der sportpsychologischen Beratung und Betreuung im Fußball. Eine umfassende Betreuung, die mentale, emotionale, soziale und humanistische Elemente einschließt, muss als unerlässlich erachtet werden. Nur so kann die Sportpsychologie ihre volle Unterstützungsfunktion für alle Beteiligten im (Leistungs-)Sport entfalten und einen wahren Beitrag zur Entwicklung des deutschen Fußballs leisten.

Systemdiskussion

In einem aktuellen und sicherlich wegweisenden Beitrag hat Hans-Dieter Hermann, der Sportpsychologe der Deutschen Männer-Nationalmannschaft, über die Rollen und die damit verbundenen Dilemmata der Sportpsychologinnen und Sportpsychologen, die im deutschen Fußball arbeiten, reflektiert (Link siehe unten). Hier berichtet er unter anderem von den Vorteilen, aber auch von den Nachteilen, essentieller Teil des “Systems” zu sein. Der Vorteil besteht darin, viele Informationen aus dem System zu bekommen und somit ein “ganzes Bild” des Systems sehen zu können. Der Nachteil besteht in der Tatsache, dass sich viele Spielerinnen und Spieler eben nicht dem Sportpsychologen anvertrauen, da dieser “zu nahe am Trainer” – also dem finalen Entscheider über Aufstellung und Einsatzzeiten – ist, was wann häufig dazu führt, dass neben dem Teampsychologen, häufig noch individuelle Beratung und Betreuung gesucht wird, die unabhängig vom System operiert. Hermann fordert, “falschen Aktionismus”  zu vermeiden. Damit meint er, dass die Einsatzbereitschaft nicht aufdringlich werden darf und dass Aktionismus nie ein Stilmittel sein darf, um die eigene Position zu rechtfertigen. Zum zweiten betont er eine reine Sicht auf Leistungsoptimierung als kritisch zu betrachtende Grundhaltung eines Sportpsychologen an. Im weiteren formuliert er “Leitlinien”, für deren Umsetzung er die Selbstreflexionsfähigkeit als zentrale Fähigkeit zugrunde legt. Zum Thema “Vertrauenswürdigkeit” führt er weiter aus: “Es ist kein leichter Spagat: zwischen Vertrauen und Schweigepflicht auf der einen Seite und Transparenz und Teamplay auf der anderen.” Sportpsychologen*innen sollten die Gespräche mit ihren Spieler*innen immer vertraulich behandeln, sind gleichzeitig aber auch dazu angehalten, über bestimmte Themen zu berichten (Hermann, 2023).  Und zum Thema Professionalität schreibt er: “Nahbar sein und gleichzeitig Distanz halten – darin besteht eine der großen Herausforderungen für Sportpsychologen*innen. Insbesondere in einer Mannschaftssportart, in der das Prinzip “Gemeinsam erfolgreich” gilt, müssen Grenzen gehalten werden. Sportpsychologen*innen sind in der Verantwortung, diese immer wieder zu ziehen und vertrauliche Informationen zu schützen. Professionalität bedeutet auch, unabhängig und standhaft zu bleiben und den Versuchen von Einflussnahme zu widerstehen. Ein durchaus schwieriges Unterfangen, schließlich handelt es sich um eine Position, die nicht selten zwischen verschiedenen Interessen steht. Umso wichtiger ist es, seine eigene Rolle immer wieder zu verlassen und eine neue, andere Perspektive zu wählen. Der regelmäßige Blick von Außen auf die Organisation und das eigene Handeln können helfen, den Anspruch an die eigene berufliche Professionalität neu zu überprüfen” (Hermann, 2023).

Berufsethisch ist Dr. Hans-Dieter Hermann hier eindeutig zuzustimmen. Es bleibt jedoch die Frage, wie realistisch eine solche Grundhaltung in einem System, das von hoher gesellschaftlicher Sichtbarkeit sowie “finanzieller Überhöhung”  geprägt ist, umsetzbar ist, vor allen Dingen dann, wenn sich die Sportpsychologie nur unauffällig im Hintergrund hält und somit auch nach außen,  seinen Einfluss unterschätzt.   

Fazit

Die facettenreiche Welt des deutschen Fußballs, geprägt von einem subtilen Zusammenspiel zwischen Tradition und Wandel, enthüllt ein faszinierendes Spannungsfeld, in dem die Sportpsychologie eine oft unterschätzte, jedoch unseres Erachtens essentielle Rolle einnimmt. Während die Bühne des deutschen Fußballs von glühendem Ehrgeiz, taktischer Finesse und unermüdlichem Training beherrscht wird, verweilt die Sportpsychologie oft im Schatten dieser Bühne. Trotz ihres potenziellen Einflusses und ihrer kritischen Bedeutung für die Optimierung individueller und kollektiver Leistung, verbleibt ihre Wirkung oft im Hintergrund, während bahnbrechende Veränderungen nur sporadisch eintreten. In einer Szene, die von konstantem Fortschritt in allen Bereichen geprägt ist, scheint die Sportpsychologie mitunter an veralteten Konzepten und überholten Auffassungen festzuhalten. Diese vermeintliche Lethargie steht im Kontrast zur raschen Evolution anderer Disziplinen. Die Zurückhaltung der Sportpsychologie, sich im Profifußball zu etablieren, spiegelt diese stagnierende Mentalität wider. Hier stellt sich die zentrale Frage: Ist es nicht längst an der Zeit für eine tiefgreifende Neubewertung? 

Ein neuer Weg

Wir von Die Sportpsychologen haben einen neuen Weg entwickelt, wie Profi-Vereine und Verbände die Sportpsychologie in ihrem System integrieren können. Interessenten bekommen nach kurzer Anmeldung einen Link zu einer nicht-öffentlichen Seite, wo alle Informationen aufbereitet sind.

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    Diese Frage verlangt von allen Akteuren im Fußball, sich zu öffnen, Veränderungen anzunehmen und den Weg für eine Erneuerung zu ebnen. In dieser Reflexion über die Rolle der Sportpsychologie wird deutlich, dass ein Paradigmenwechsel unausweichlich ist. Die Integration der Sportpsychologie in sämtliche Facetten des Fußballs – sei es im Training, im Wettkampf oder im Umgang mit Druck – könnte das Potenzial jedes Einzelnen, sei es Spieler, Trainer oder Funktionär, auf dem Spielfeld und jenseits davon revolutionieren. Es bedarf einer tiefgehenden Akzeptanz dieser Disziplin, um die Leistungsgrenzen zu erweitern und eine neue Ära der Exzellenz im deutschen Fußball einzuläuten. In diesem Streben nach Transformation und Optimierung im Einklang mit den traditionellen Werten des deutschen Fußballs eröffnet sich eine aufregende Chance. 

    Eine Synergie zwischen altem Erbe und neuem Denken könnte den Weg für eine glorreiche Zukunft ebnen. Indem die Sportpsychologie aus dem Schatten heraustritt und als unverzichtbarer Teil des Spiels anerkannt wird, könnte sie dazu beitragen, das kollektive Streben nach Spitzenleistungen zu befeuern. Die Geschichte des deutschen Fußballs wird nicht nur durch Tore und Titel geschrieben, sondern auch durch den Geist, die Entschlossenheit und die mentalen Stärken, die das Spiel auf höchstem Niveau antreiben. Oder etwa nicht, Matthias Sammer?

    Verweise:

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    Prof. Dr. René Paasch
    Prof. Dr. René Paaschhttp://www.die-sportpsychologen.de/rene-paasch/

    Sportarten: Fußball, Segeln, Schwimmen, Handball, Volleyball, Hockey, Eishockey, Tennis

    Gelsenkirchen, Deutschland

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