Es ist Samstag, 26. August 2023 – raceday! Ich sitze spätmorgens entspannt in der Lobby meines Hotels und nippe an einem Cappuccino. Heute um 20.07h werde ich im Budapester WM-Stadion sitzen und zusammen mit 35’000 weiteren Zuschauern dem zweiten Vorlauf im 4x400m Staffelevent entgegenfiebern. Ich bin gespannt darauf, wie ich die kommenden Stunden „des Wartens“ erleben werde. Einen Teil dieser spannenden Zeit möchte ich selbstreflektierend nutzen und mir Gedanken zu einer Schlüsselfrage stellen: Bin ich hier als Sportvater oder erlebe ich mich nicht eher als Sportpsychologe?
Zum Thema: Sportvater vs. Sportpsychologe
Der Countdown läuft. Auch ich spüre: the heat is on. Damit meine ich nicht nur die Aussentemperaturen, die heute auf weit über 30 Grad steigen werden. Selbst am Abend im Stadion wird es noch sehr heiss sein, durchaus erfreulich für die Sprinterinnen, die im Einsatz stehen werden. Das Schweizer 4x400m-Team startet in einer Aussenseiterposition. Von 18 teilnehmenden Teams sind sie mit ihrer Saisonbestleistung an zwölfter Position geführt. Eine Finalqualifikation käme einem Exploit gleich. Es ist ein sehr junges, aufstrebendes CH-Team mit Potential für eine Überraschung.
Wer bin ich aber hier? Als Orientierung für diese Gegenüberstellung benutze ich die sportwissenschaftliche Perspektive (vgl. Fredricks & Eccles, 2004), die den Sporteltern vor allem drei entscheidende Rollen zuschreiben: Als Unterstützer, als Vorbilder und als bewertende Instanz. Ähnlich könnte auch die Funktion eines Sportpsychologen beschrieben werden, der eine Sportlerin an einem Zielwettkampf vor Ort begleitet.
Unterstützung, Vorbild und Bewertung
Unterstützung: Ich weiss, dass Catia mich hier vor allem als moralische Unterstützung wahrnimmt, dass sie weiss, dass ich da bin. Einmal hat sie mir kurz davon berichtet, wie sie ihren Lauf visualisieren werde. Als Sportpsychologe hätte ich nachgefragt, als Sportvater lasse ich mich hier nicht auf eine fachliche Diskussion ein.
Vorbild: Hierzu fällt mir ein spannendes Zitat von Roger Federers Eltern ein: «Wir versuchten im täglichen Leben als gutes Vorbild für unseren Sohn voranzugehen. Uns war wichtig, ihm Werte wie Anstand, Respekt, Fairness und Ehrlichkeit – auch auf dem Tennisplatz – mitzugeben. In kritischen Situationen verhielten wir uns immer positiv unterstützend, halfen beim Verarbeiten von Enttäuschungen und Niederlagen.» Wäre ich als Sportpsychologe in Budapest tätig, würde ich eine von Skisprung-Weltmeister gemachte Aussage als Orientierung zur Hand nehmen. „Wenn ich den Anspruch entwickle, Weltmeister zu werden, erwarte ich die allerhöchste fachspezifische Qualität auch von meinem Betreuerteam“ – also auch von mir als damaligem Sportpsychologen.
Bewertung: Als Sportpsychologe weiss ich, dass jetzt im Hinblick auf den Wettkampf ausschliesslich „positive Aktionen“ zählen. Als Sportvater will ich mich auf eine positive Haltung und Ausstrahlung konzentrieren und meiner Tochter vor allem meine grosse Freude ausdrücken. Eben sagte ich ihr am Telefon: „Hey, das ist doch alles so toll, was ihr als Team und du als junge Athletin hier an der WM erleben dürft!“
Mit Plan und Vorstellungsarbeit
Die Taschen sind gepackt, der Countdown läuft. Catia weiss genau, was sie wann zu tun hat und bleibt trotzdem gedanklich flexibel, um auf Eventualitäten kurzfristig reagieren zu können. Selbstverständlich bin ich im Bilde, wie Catias Tagesablauf sein wird. Sie hat mir Folgendes geschrieben:
First part of the day free
15h00 lunch together
17h35 bus
18h40 warm up
19h39 call room
20h07 heat 2, lane 9
Catia arbeitet in der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung auch sehr intensiv mit Visualisierung, indem sie ihren Lauf detailliert mental durchgeht und durchlebt. Gespannt bin ich dann auf ihre Rückmeldungen in der Nachbetrachtung zum Erleben ihres Einsatzes.
Es wird sehr emotional werden…
Im Nachgang zu meinem zweiten Tagebuch-Eintrag (Link siehe unten) erhielt ich eine sehr spannende Rückfrage: „Du warst ja selbst einmal Leichtathlet. Ist es aufwühlender selbst anzutreten oder für deine einzigartige Tochter mental da zu sein.“
Visualisierung der 400m-Strecke: Catia anlässlich ihres Auftritts an der Athletissima in Lausanne – Die Taschen sind gepackt! – Vater und Tochter beim Bummel durch Budapest – happy faces! – Quelle Dr. Hanspeter Gubelmann
Vorausschicken muss ich, dass ich selbst sportlich nicht annähernd so erfolgreich war wie Catia heute ist. Zudem habe ich meine kurze Zeit in der Leichtathletik als Sprinter und Mehrkämpfer schon vor Erreichen des 20. Geburtstags beendet. Sinnigerweise mit einem 1500m-Lauf als letzte Disziplin des Zehnkampfs am Eidgenössischen Turnsfest 1984, dem grössten Sportfest in der Schweiz. Dort wollte ich richtig gut sein und war es auch. Die beiden Befindlichkeiten – damals zu heute – sind aber ziemlich unterschiedlich. Meine Antwort lautete: „Es ist anders. Mein Puls ist erstaunlich tief (das war natürlich als Sportler nicht so!), ich bin so zehn Minuten vor Catias Start sehr emotional, musste an der U23-EM sogar eine Träne verdrücken!“
Wenn ich mir das nochmals überlege, wird mir sogleich klar: Ich bin hier vornehmlich als Sportpapi im Hier- und Dasein. Okay, der Sportpsychologe ist in der Rolle des interessierten Beobachters auch dabei! Gut möglich, dass es heute Abend um 19:57 zwei Tränen sein werden… Und ein strahlendes Herz dazu!
Literatur:
Fredricks, J. A., & Eccles, J. S. (2004). Parental Influences on Youth Involvement in Sports. In M. R. Weiss (Ed.), Developmental sport and exercise psychology: A lifespan perspective (p. 145–164). Fitness Information Technology.
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