Eigentlich war ich schon in allen Sphären des Spitzensports unterwegs – Olympische Spiele, Weltmeisterschaften, Europameisterschaften, Schweizermeisterschaften… bis hin zum Wald- & Wiesensportfest habe ich als Sportpsychologe die ganze Bandbreite kennenlernen dürfen. Trotzdem betrete ich mit dem Besuch der LA-WM in Budapest absolutes Neuland: ich begleite meine Tochter Catia, die als Athletin den Sprung auf die Weltbühne der Leichtathletik geschafft hat. Ich bin sehr neugierig – und spüre am Eröffnungstag der Titelkämpfe ein eigenartiges Kribbeln. Daran – und an einigen spannenden Themen – möchte ich die Leser:innen meines WM-Tagebuchs teilhaben lassen. Hautnah – vielfältig – unzensiert.
Zum Thema: Sportpsychologie in der Praxis
Es ist Samstagvormittag und ich sitze zuhause vor dem TV. Die LA-WM hat begonnen und bald startet der Vorlauf der Mixed-Staffel über 4x400m. Catia ist da erste Ersatzläuferin und wird wohl nicht zum Einsatz kommen. Bestimmt eine gute Möglichkeit, sich als WM-Rookie mit der Aufgabe vertraut zu machen. Wie abgeklärt sie agieren kann, hat sie an der U23-Europameisterschaften im finnischen Espoo bei ihrem ersten Start auf internationaler Bühne unter Beweis gestellt; EM-Silber über 4x400m, was ihr letztlich auch das WM-Ticket eingetragen haben dürfte. Wie aber werde ich als WM-Rookie in der Rolle des Sportvaters agieren? Und mein Kribbeln bekommt eine leicht angespannte Note! Eben, diese Rolle hatte ich noch nie!
Ein erster (rettender?) Gedanke geht in Richtung Hans-Dieter Herrmann, der in seinem Keynote-Referat anlässlich der asp-Tagung 2019 „Sportpsychologie in der Praxis – Versuch einer Rollendefinition“ (vgl. Blog!). Es mögen mindestens zwei Dutzend unterschiedliche Rollen gewesen sein, die der Doyen der angewandten Sportpsychologie auf seiner Übersichtsdarstellung aufgeführt hat. Die des Sportvaters fehlte.
Ich bin „nur“ Catis Vater…
An dieser Stelle ist eine persönliche Einordnung zweckdienlich. Obwohl ich selbst ein passabler Leichtathlet war, später als LA-Nachwuchstrainer fungierte, zudem über die höchste Fachtrainerausbildung der Schweiz verfüge und als Sportpsychologe zahlreiche Sprinter:innen betreut habe – nie war ich im sportlichen Umfeld unserer Tochter tätig. Als Catia kürzlich im Rahmen unseres asp-Workshops „Wettkampfvorbereitung – der Countdown“ (siehe unten) darauf angesprochen wurde – wie es denn sei, die Tochter eines Sportpsychologen zu sein – antwortete sie: „Mein Vater hat sich immer im Hintergrund gehalten, was ich sehr schätzte. Heute weiss ich, dass ich mit jeder Frage zu ihm gehen kann und eine sehr hilfreiche Antwort bekomme.“ Damals musste ich natürlich etwas schmunzeln, weil es doch auch Situationen gab, in welchen es mir schwer fiel, meine zurückhaltend-neutrale Position nicht aufzugeben.
Der Wettkampf-Countdown läuft. Ich schreibe meiner Tochter eine SMS und versichere ihr und dem Mixed Team 4x400m, dass wir die Daumen drücken. Sie antwortet sogleich: „Alles gut, Danke! Ich bin tatsächlich Ersatz heute. Hier schüttet es wie aus Kübeln“. Vorteil Schweiz, denken wir – doch sie meint: „Wir haben nur Jacken dabei, die im Nieselregeln tauglich sind!!“
Die Rolle der Sporteltern an internationalen Meisterschaften
Mit 21 Jahren hat unsere Tochter gelernt, mit solchen Situationen selbstbestimmt umzugehen. Andererseits wissen wir, dass sie diesen Austausch sehr schätzt und aktiv sucht. Auch aus wissenschaftlicher Perspektive kennen wir die Facts, dass Athlet:innen an Grossanlässen auch unter den teilweise rigiden Einschränkungen leiden, sich unwohl oder gar einsam fühlen. Sozialen und mentalen Support suchen sie dann vor allem bei ihnen nahestehenden Menschen, oft bei Freund:innen und Verwandten, manchmal auch zu mir in meiner Funktion als Sportpsychologe.
Stichwort „unwohl“: Ich frage mich gerade, wie gut ich mich als Sportvater für den bevorstehenden Anlass schon vorbereitet habe. Okay, Flug und Hotel sind längstens gebucht, meine beruflichen Verpflichtungen habe ich so arrangiert, dass ich am Montag für eine Woche an die WM reisen kann. Wie sieht mein „Game-Plan“ aus? Habe ich denn schon eine genauere Vorstellung, was mich in Budapest erwarten wird und wie ich denke, damit umzugehen? Ein kurzer Literatur-Search zu „die Rolle der Sporteltern an Grossanlässen“ oder „Parenting at international sports event“ liefert zwar Hinweise für den Jugendbereich, mehr aber nicht. Ich konsultiere noch schnell ChatGPT. Auf die Frage „Was ist die Rolle der Sporteltern ab Sport-Grossanlässsen wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spiele?“ lese ich:
Die Rolle der Sporteltern bei Sport-Grossveranstaltungen wie Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen kann von emotionaler Unterstützung bis hin zur logistischen Organisation reichen. Sporteltern sind oft die grössten Fans ihrer Kinder und bieten ihnen moralische Unterstützung, indem sie anfeuern und ermutigen. Sie können auch eine wichtige Rolle bei der Bewältigung des Drucks und der Aufregung spielen, die mit solchen Veranstaltung verbunden sind (…) Die genaue Rolle der Sporteltern kann jedoch von Familie zu Familie unterschiedlich sein und hängt von den individuellen Bedürfnissen und Wünschen der Athlet:innen ab.“ (ChatGPT 3.5; 19.8.2023)
Los geht’s – 12:17 Start 4x400m mixed Relay
Nach einer wetterbedingten Verzögerung von einer Stunde geht’s jetzt los. Ich spüre die Anspannung, die ich aber eher mit meiner Leichtathletik-Vergangenheit in Verbindung bringe. Die Schweizer Staffel hält sich in ihrem Heat lange Zeit gut, schnuppert an der Finalqualifikation… und scheitert am Ende knapp.
Jetzt bin ich gespannt, was ich von Catia als nächstes zu hören bekomme. Als Ersatzläuferin war sie im Stadion anwesend. Moralischer Support dürfte vor allem gefragt sein. Andererseits nehme ich mir noch etwas Zeit, um anzudenken, welches die individuellen Bedürfnisse und individuellen Wünsche unserer Tochter sein könnten und diese bei ihr nachfragen. Ich fühle mich schon heute dankbar für diese WM-Erfahrung als Sportvater! Und von Catia belohnt, indem sie mich gebeten hat, sie in Budapest moralisch zu unterstützen.
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