EM 2024: Was deutsche Nationalspieler für ein Sommermärchen leisten müssen

Die Fußball-WM 2006, das sogenannte Sommermärchen, war nicht nur ein sporthistorisches Ereignis. Es war vor allem gesamtgesellschaftlich ein großes, buntes und freudvolles Miteinander. Im Sommer 2024 steht nun das nächste fußballerische Großereignis zwischen Hamburg und München an. Aber wie kann es gelingen, dass diese Veranstaltung wieder ein so ein Fest wie 2006 werden kann? Schließlich steckt der DFB sportlich wie strukturell in einer Krise. Vielleicht der größten Krise seiner Geschichte. Hinzu kommen Kriege, Pandemien und gesellschaftliche Prozesse, die wenig Hoffnung machen, dass 2024 wie 2006 werden kann. Oder doch?  

Was hat 2006 dazu geführt, dass sich große Teile der breiten Öffentlichkeit von einer sportlichen Veranstaltung so haben mitreißen lassen?

Dr. Rita Regös

Antwort von: Dr. Rita Regös (zur Profilseite)

Die Austragung eines Großereignisses im eigenen Land vereint Mannschaft und Fans im Bestreben, ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Denn eine WM oder EM gewinnt nicht nur die Nationalelf, sondern auch das Land/die Nation und das vor der Haustür, also greifbar nah. 

Die Vorbereitungen lassen viele ein Stück an diesem Ziel mitarbeiten, sei die Mitwirkung noch so klein, so werden viele Menschen Teil des Weges, was das Interesse und die Vorfreude steigert. Weniger Sport-Interessierte bekommen diese Vorbereitungen und Vorfreude aus der Nähe mit. Medial oder auch durch alltägliche Kleinigkeiten wie Fanartikel, Flaggen, Stammtischgespräche und vor allem durch vorfreudige Mitmenschen, die diese Begeisterung offen zeigen und somit automatisch teilen – all das zieht die Aufmerksamkeit auf das freudvolle Ereignis und lässt infolge viele andere Menschen sich dafür begeistern. Das Gemeinsame, die Nähe, die dadurch gesteigerte Vorfreude und die geteilte Freude spielen bei Sommermärchen eine große Rolle. 

Antwort von: Klaus-Dieter Lübke Naberhaus (zur Profilseite)

Bei allen Wünschen nach Diversität und kultureller Vielfalt, ist doch die Zugehörigkeit ein sehr starkes Grundbedürfnis. Wir erleben gerade zu dieser Zeit einen Rückfall der europäischen Idee hin zur Nationalstaaterei oder in noch kleinteiligere Gebilde. Und der Sport stiftet eine Zugehörigkeit, eine nationale Identität. Auf einmal sind wir nicht nur Pabst, nein, wir alle sind “Weltmeister”. Und nicht nur die traditionellen Fans, sondern eine ganze Nation. Nur wenige gibt es, die sich dieser Attraktion entziehen können.

Zudem haben wir es in allen Bereichen, besonders natürlich medial, mit einer Aufmerksamkeitsfokussierung zu tun. Auch hier können sich nur wenige entziehen, es sei denn, wir meiden Medien. 

Ob im wirklichen Sinne eine gemeinsame Zielsetzung zu konstatieren gilt, da bin ich mir unsicher. Doch Freude und Erfolge sind natürlich ansteckend, gerade in einem auch vom Wetter her schönen Sommer. Die Sonne trägt die Erfolgswelle, die vom Biergarten zum Public viewing bis ins Wohnzimmer schwappt.

Und auch das Jahr 2006 war von Auseinandersetzungen geprägt, der Sport lenkt ab, bietet Unterhaltung, zeigt eine andere Form der nationalen Auseinandersetzung, ein wenig der spielerische Teil der römischen Erfindung “Brot und Spiele”.

Inzwischen gibt es in Europa Krieg. Gefühlt jagt eine Krise die nächste. Kurzum: Die Welt ist eine andere. Dennoch sprechen Bundestrainer Hansi Flick, diverse Nationalspieler und verantwortliche Personen beim DFB immer wieder davon, dass die Europameisterschaft 2024 ein erneutes Sommermärchen werden solle. Wie können Sportler durch ihr Verhalten Euphorie erzeugen, wie funktioniert so etwas? 

Antwort von: Dr. Rita Regös (zur Profilseite)

Die (vor)gelebte Leidenschaft von Sportlern für ihren Sport, für den Weg zum Sieg, der oft beschwerlich ist und der leidenschaftliche Wille für den Sieg, erzeugt bei Fans neben Respekt, Mitfiebern, Begeisterung, auch etwas größeres, etwas ganzes, die Euphorie. Zuschauer und Fans sehen und spüren die Bereitschaft von Sportlern, die sich anstrengen, die im entscheidenden Moment alles geben und im Vorfeld, in der Vorbereitung, sich auf sich, auf ihr Ziel und den Sieg konzentrieren. Wenn Sportler also alles auf dieses Ereignis, auf ihr Ziel ausrichten, bedarf es wenig Worte, um andere für den Sport zu begeistern: Jungs tut einfach das, was ihr liebt – aber tut es voller Leidenschaft und voller Einsatz. 

Antwort von: Anke Precht Precht (zur Profilseite)

Gerade in Krisenzeiten wünschen sich Menschen, mal ganz von allen Problemen abschalten zu können. Nichts ist leichter, als in einer solchen Zeit Euphorie zu erzeugen – vorausgesetzt, die Leistung stimmt, die Spieler sind mit Leidenschaft dabei und gehen über sich hinaus. 

Klaus-Dieter Lübke Naberhaus

Antwort von: Klaus-Dieter Lübke Naberhaus (zur Profilseite)

Da mag ich durchaus mal kritisch mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche antworten: “Irrsinn ist beim Individuum etwas seltenes, in der Masse kommt er jedoch regelmäßig vor.” Euphorien lenken von alltäglichen Sorgen und Problemen ab. Dass heute alles anders ist, sehe ich nicht. Sport war schon immer dazu geeignet von den Krisen der Politik, zu denen auch Kriege zählen, ablenken zu wollen und nationale Identität zu stiften.

Zugehörigkeit, Identität und Erfolg gehen mitten ins Herz. Emotionen und Bedürfnisse werden unmittelbar bedient und können zu Rauschzuständen führen. Und dann ist auch der Irrsinn nicht mehr weit, den der Sport doch oftmals in friedlichere Bahnen lenken kann.

Von Rauschzuständen ist der deutsche Fußball weit entfernt. Die Fußball-Nationalmannschaft funktioniert seit mehreren Jahren nicht mehr, wie das frühe Turnierausscheiden bei den WM`s 2018 und 2022 sowie der EM 2021 belegen. Nun kommt der Erwartungsdruck eines Heim-Turnieres noch oben drauf. Wo ließe sich ansetzen, um die Wahrscheinlichkeit eines neuen Sommermärchens zu erhöhen? 

Anke Precht

Antwort von: Anke Precht Precht (zur Profilseite)

Dass die Nationalmannschaft in den letzten Jahren nicht gut funktioniert hat, sagt wenig aus über das, was 2024 passieren wird. Auch wenn einige Spieler bleiben werden, so wird es doch eine neue Mannschaft sein, mit neuen Spielern, neuen Impulsen und einer neuen Struktur. Prognosen sind im Fußball weniger verlässlich als die Wettervorhersage, in kaum einem Sport sind schon so viele Favoriten gescheitert, und selten konnte man von einem Jahr auf das nächste schließen. Wir haben hervorragende Spieler, und ein einziger Funke kann dazu führen, dass die gesamte Mannschaft brennt. Gelingt es, aus den Spielern, die Teil der Mannschaft sein werden, ein echtes Team zu formen, in dem sich jeder Einzelne ohne Aber für das Gesamte einsetzt und ein gemeinsamer Flow entsteht, wird ein neues Sommermärchen möglich. Ich gehe davon aus, dass das Spielen im eigenen Land dazu beitragen wird, dass etwas Besonderes passieren kann

Antwort von: Dr. Rita Regös (zur Profilseite)

Fans freuen sich beim Fußball auf nichts anderes als auf gute Spiele: auf Tore, auf taktisch kluges Spielen und auf eine Mannschaft, die bis zum Abpfiff um den Sieg kämpft. Signalisiert die Nationalelf samt Umfeld im Vorfeld, dass genau das ihr Anliegen und ihr Ziel ist und dass sie sich entsprechend fokussiert auf ein gutes Spielen und auf Siegen vorbereitet, werden die Fans diesen Weg wohl gern bis zum Abpfiff mitgehen.

Um es mit Tennis-Worten zu sagen: „Ich wusste natürlich, dass das Match historisch wird, aber ich habe versucht, meine Aufmerksamkeit und meine Gedanken auf die bestmögliche Vorbereitung und auf den bestmöglichen Weg zu gewinnen, zu fokussieren. In der Vorbereitung hat mein Umfeld eine Blase um mich herum gebaut und wir haben einen guten Job gemacht, um im Hier und Jetzt zu bleiben – just performing as good as we wanted to.“ (Novak Djokovic, Juni 23).

Antwort von: Klaus-Dieter Lübke Naberhaus (zur Profilseite)

Ich bin da etwas skeptischer als meine Vorrednerinnen. Es ist sicherlich schwer vorhersagbar, was passieren kann. Und natürlich stellt die EM im eigenen Land die Möglichkeit für ein neues Sommermärchen dar. Doch gerade ich selbst und viele in meiner Umgebung haben sich vom Fußball abgewandt. Dies hat viele Gründe, von der Distanzierung zu einem immer unmenschlicher werdenden Geschäft, vom “modernen Menschenhandel”, riesigen Erwartungshaltungen und pschischem Druck, über die wenig begeisternden Leistungen der Nationalmannschaft bis hin zu einer vielleicht alterbedingten Distanzierung vom Leistungssport überhaupt.

Damit will ich sagen, dass diese Nationalmannschaft 2024, egal wie sie aussehen wird, es im Vergleich zu 2006 deutlich schwerer haben wird, den Funken zu entzünden. Und doch kann es über gute Leistungen und Erfolg die Möglichkeit geben. Denn der Wunsch nach Zugehörigkeit, Identität und Ablenkung ist nach der Pandemie und während des Ukraine-Konfliktes sicherlich mindestens genauso groß wie 2006.

Doch dazu braucht es eine Mannschaft, die ein gemeinsames Ziel hat, nämlich das Feuer in sich zu entfachen, Leidenschaft zu leben und nach außen zu tragen, damit der Funke überspringen kann. Dieses Feuer, diese Leidenschaft konnte ich in den letzten Jahren selten im deutschen Nationalteam entdecken.

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de