Prof. Dr. René Paasch: Der Angst die Stirn bieten

Die Angst ist allgegenwärtig! Allein in Europa leiden rund 60 Millionen Menschen daran, ungefähr 17 Millionen sind es in Deutschland, Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Nach Einschätzung der DGPPN wird rund die Hälfte aller Ängste nicht erkannt und deshalb nicht richtig begleitet oder behandelt. Die Folge: Es drohen Chronifizierung und mögliche Begleiterkrankungen. Damit rangieren Angststörungen an der Spitze der psychischen Erkrankungen – noch vor Depressionen. Die Pandemie und weitere gesellschaftliche Herausforderungen in den vergangenen Jahren haben die Zahlen zusätzlich in die Höhe getrieben.  Doch was genau ist Angst eigentlich? Worin unterscheiden sich die unterschiedlichen Formen der Angst? Und welche Mittel und Methoden können unterstützend helfen? Dieser und weiterführende Blogbeiträge sollen Ihnen einige Anregungen im Umgang mit der Angst liefern. 

Zum Thema: Wie Sie ihre Ängste im Sport und Ihrem Alltag mit wegweisenden Denk- und Verhaltensweisen verändern können

Wenn Ihr Herz rast, der Schweiß ausbricht und Sie sich plötzlich in erhöhter Alarmbereitschaft befinden, dann übernimmt wahrscheinlich gerade eines Ihrer archaischen Grundgefühle die Kontrolle über Ihren Körper und Geist – die Angst. Wir alle kennen verschiedene Formen von Angst. Und wir alle erleben diese in ganz unterschiedlichen Situationen. Dabei ist ihre ursprüngliche Funktion einfach und notwendig. Die körperlichen Reaktionen, die wir mit Angst verbinden, sind nichts anderes als Zeichen von Stress. Denn genau das bewirkt Angst: Sie setzt uns unter Stress. Doch nicht, um Sie zu ärgern, sondern um uns gegen Gefahren zu wappnen. Der erhöhte Herzschlag bereitet uns auf körperliche Höchstleistungen vor. Die geschärften Sinne helfen uns, Fluchtmöglichkeiten zu finden. Angst ist eine uralte physiologische Reaktion, die vorübergehend unsere Leistungsfähigkeit erhöht. Heutzutage hilft sie uns nicht nur in körperlichen Gefahrensituationen, in denen wir uns wehren oder wegrennen müssen, sondern auch in denkbar zivilisierten oder sportlichen Settings. Erinnern Sie sich an Ihre letzte Prüfung oder an eine wegweisende Präsentation? So unangenehm das Lampenfieber ist – die Angst versetzt Ihr Gehirn in den Leistungsmodus und hilft Ihnen dabei, wach und konzentriert zu sein. 

Und was passiert nach den oben genannten Ereignissen? Die ganze Last fällt von Ihnen ab. Sie sind erleichtert, aber auch erschöpft. Kein Wunder, denn Ihr Gehirn wurde auf Hochtouren gebracht. Und weil diese Höchstleistung so anstrengend ist, kann Ihr Körper sie nicht dauerhaft aufrechterhalten.  Auf starke Angst folgt zwangsläufig Erschöpfung. Genau diesen Mechanismus macht sich die Verhaltenstherapie zur Behandlung von Phobien zunutze, und zwar bei der sogenannten Konfrontationstherapie. Wer zum Beispiel Angst vor größeren Menschenmengen hat, wird gezielt damit konfrontiert. Ab einem bestimmten Punkt nimmt die Angst automatisch ab, weil das Gehirn schlichtweg nicht genug Energie zur Verfügung hat, um den Angstzustand länger zu befeuern. Dann kommt es zur Habituation, also einer Gewöhnung. Eine ähnliche Möglichkeit bietet die systematische Desensibilisierung – bedingt jedoch eine professionelle Begleitung. Falls bei der Vorstellung eines Reizes Angst auftritt, wird diese sofort unterbrochen und zur Entspannung übergegangen. Hat sich die Person mental daran gewöhnt, ist sie desensibilisiert, so kann sie die nächste Stufe in Angriff nehmen und mit der Vorstellung eine weitere Annäherung wagen. Problematisch wird es allerdings bei Ängsten, die sich nicht auf einen konkreten, fassbaren Auslöser wie Menschenmengen beziehen, sondern auf abstrakte Bedrohungen wie globale Krisen oder die Abstiegsangst nach einem verpatzten Saisonstart. Hier zeigt die Konfrontation keine Wirkung. Ebenso wenig können wir die Angst vor einer Inflation oder der nächsten Pandemie durch Exposition bekämpfen. Hier sind andere Strategien gefordert. 

Weitere Anregungen zum Thema Angst finden Sie hier: 

Achtsamkeit praktizieren

Die Wissenschaft geht davon aus, dass Kopf und Körper nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Was der Psyche hilft, kann auch physische Symptome lindern, und umgekehrt. Aus diesem Grund sollten wir den Verstand regulieren. Das verschafft Ihnen einen entscheidenden Vorteil: Sie aktivieren Ihre inneren Ressourcen und Selbstheilungskräfte. Sie stärken Ihre grundsätzliche Widerstandsfähigkeit. Der wichtigste Baustein ist jedoch ein anderer – achtsames Verhalten. Es kann Ihnen helfen, sich auf gesunde Weise von Ihren Emotionen zu distanzieren. Durch Achtsamkeit lernen Sie, Ihre Gefühle zu beobachten, anstatt ihnen hilflos ausgeliefert zu sein. Das ist besonders bei solchen Ängsten wichtig, deren Auslöser sich nicht ohne Weiteres beseitigen oder durch Exposition konfrontieren lassen.  Das heißt nicht, dass Sie gleichgültig gegenüber wichtigen Themen wie dem Klimawandel, steigenden Energiekosten oder anderen persönlichen Themen werden sollten. Es geht nicht um Gleichgültigkeit, sondern um situationsgerechte Gelassenheit. Wie können Sie eine achtsame Beobachterposition einnehmen? Dafür eignet sich eine einfache Übung mit einer Mandel: 

Legen Sie eine Mandel auf die flache Hand und stellen Sie sich vor, Sie würden diese zum ersten Mal in Ihrem Leben sehen. Welche Form und Farbe hat sie? Hat die Oberfläche eine bestimmte Struktur? Gibt es andere Details, die Ihnen auffallen? Versuchen Sie, sich ganz aufs Beobachten zu konzentrieren. Tauchen ablenkende Gedanken auf, dann hegen Sie keinen Groll. Versuchen Sie vielmehr, Ihre Gedanken zu registrieren, ohne sie zu bewerten. Loslassen…! Lenken Sie Ihren Fokus wieder zurück auf die Mandel. Weiter geht es mit dem Fühlen: Legen Sie die Mandel vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger: Welche Beschaffenheit hat sie? Führen Sie diese dann zur Nase und nehmen Sie ihren Geruch wahr. Gefällt Ihnen dieser? Als Nächstes nehmen Sie die Mandel zwischen Ihren Lippen: Was passiert mit Ihrer Ober- und Unterlippe? Legen Sie diese anschließend auf Ihre Zunge. Spüren Sie Ihr Gewicht? Bewegen Sie die Mandel im Mund umher – und beißen Sie anschließend hinein. Wie ist Ihr Geschmack? Bevor Sie die Mandel herunterschlucken, kauen Sie langsam und bewusst, und nehmen Sie alles wahr, was Ihnen dabei auffällt. Der Effekt solcher Übungen ist wissenschaftlich nachgewiesen: Ihr Nervensystem arbeitet stärker auf dem parasympathischen Zweig, der für Beruhigung zuständig ist. Ihr Gehirn reduziert die Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol. Und die Aktivität Ihrer Amygdala, also Ihres Angstzentrums, nimmt schon nach wenigen Wochen des Achtsamkeitstrainings nachhaltig ab. Weitere Anregungen zum Thema „Achtsamkeit“ finden Sie hier: 

Auch die regelmäßige Meditation kann helfen, Ihr Gehirn neu zu verschalten. Sie können neue neuronale Verbindungen herstellen, die Ihr Leben nachhaltig verändern und somit negative Gedankenmuster durchbrechen können. Näheres dazu finden Sie hier:  

Gedanken und Gefühle kontrollieren 

Mithilfe solcher einfachen Übungen können Sie auch Ihre Achtsamkeit für Gedanken und Gefühle schärfen. Das ist wichtig, weil uns manchmal gar nicht bewusst ist, wenn wir von negativen Gedanken oder Gefühlszuständen geplagt werden. Nehmen wir als einfaches Beispiel die Kassen am Stadioneingang Ihres Lieblingsvereins. Stellen Sie sich vor, Sie wollen kurz vor Spielbeginn noch rasch eine Eintrittskarte kaufen, um Ihre Mannschaft zu unterstützen. Das notwendige Kleingeld oder die Kreditkarte haben Sie schnell griffbereit und an der Kasse ist es egal, wo Sie sich anstellen, denn alle Schlangen sind gleich lang. Oder doch nicht? Denn natürlich dauert es viel länger an der Kasse, an der Sie sich angestellt haben. Und schon setzen bestimmte „automatische“ Gedanken ein. So werden in der Psychologie unangepasste Reaktionen auf Stresssituationen genannt, die Sie weder beabsichtigt noch reflektiert haben. An der Stadionkasse könnten die Gedanken dann sein wie: „Das passiert mir immer!“ Oder: „Nur weil ich es eilig habe, zählt der angetrunkene Typ vor mir seine Münzen!“ Manchmal setzen diese automatischen Gedanken dann einen Angstkreislauf in Gang: „Na großartig, jetzt verpasse ich die ersten Spielminuten. Und dann kann ich womöglich keinen guten Sitzplatz ergattern…“ Das Problematische an solchen Gedankenkreisläufen ist ihre selbsterfüllende Wirkung. Vereinfacht ausgedrückt: Wer negativ denkt, dem geht es tatsächlich schlechter. Das liegt daran, dass unser Gehirn schlecht zwischen Realität und Vorstellung unterscheiden kann. Wenn wir uns das Worst-Case-Szenario ausmalen, produziert unser Nervensystem Stresshormone und wir fühlen uns tatsächlich angespannt und schlecht. Versuchen Sie deshalb, Ihre Gedanken zu überprüfen, wenn Stress oder schlechte Laune in Ihnen aufkommen. Was geht Ihnen gerade durch den Kopf? Mit großer Wahrscheinlichkeit entdecken Sie dabei mentale Verzerrungen, wie die übertriebene Verallgemeinerung an der Stadionkasse – also die unrealistische Annahme, Sie stünden immer in der langsamsten Schlange und verpassen daher immer die ersten Spielminuten Ihrer Lieblingsmannschaft. Weitere Klassiker sind die automatische Abwehr positiver Gedanken, etwa: „Das wird niemals funktionieren!“, oder voreilige Schlussfolgerungen wie: „Meine Vorgesetzte oder Vorgesetzter hat den Termin mit Ihnen bestimmt nur deshalb ausgemacht, weil sie/er mich kündigen möchte.“ Wenn Sie solche Gedanken bemerken, dann unterziehen Sie sich einem Realitätscheck. Überlegen Sie, ob Ihr Verhalten übertrieben ist oder ob Sie voreilige Schlüsse ziehen. Und fragen Sie sich, ob sich die Situation nicht auch ganz anders deuten ließe. Wie würden Sie zum Beispiel beurteilen, wenn an Ihrer Stelle jemand anderes betroffen wäre? Was würden Sie einer Kollegin oder einem Kollegen empfehlen? Oder Sie nutzen die Fragen von Byron Katie: 

  1. Ist das wahr? 
  2. Können Sie absolut sicher sein, dass es wahr ist?
  3. Wie reagieren Sie oder was passiert mit Ihnen, wenn Sie diese Gedanken tatsächlich glauben?
  4. Wer wären Sie und wie fühlen Sie sich ohne diesen Gedanken?

Untersuchen Sie jede einzelne Ihrer Aussagen, indem Sie die vier obenstehenden Fragen verwenden. Verzichten Sie auf jede Aussage, die mit „aber“, „weil“ oder „und“ beginnt. Gehen Sie jeweils mit nur einer einzigen negativen Überzeugung durch den Untersuchungsprozess. Mit solchen Gegenfragen übernehmen Sie Verantwortung für Ihre Gedanken und Gefühle. Statt Ihrer Angst ausgeliefert zu sein, gewinnen Sie die Kontrolle zurück. Das ist ein wichtiger Schlüssel im Umgang mit Ihren Ängsten. 

Es gibt allerdings auch Situationen, in denen man nicht allein mit seinen Ängsten fertig wird. In diesem Fall kontaktieren Sie bitte Ihren Arzt bzw. Ärztin des Vertrauens oder einen Therapeuten bzw. eine Therapeutin, um Ihre Situation professionell begleiten zu lassen. 

Ernährung und Psyche 

Auch die Ernährung spielt übrigens eine grundlegende Rolle für unsere Psyche. Das hat vor allem mit der sogenannten Darm-Hirn-Achse zu tun. Sprüche wie: „Das schlägt mir ganz schön auf den Magen“, kommen nicht von ungefähr: Über den Vagusnerv sind Darm und Gehirn direkt miteinander verbunden. Sie stehen in ständiger Wechselwirkung. Dabei rücken zunehmend die Darmbakterien in den Fokus. Experimente mit Mäusen zeigen eindrucksvoll den Zusammenhang von Angst und Darmflora: Überträgt man den Stuhl mutiger Mäuse in den Darm ängstlicher Mäuse, dann entwickeln diese tatsächlich ein mutigeres Verhalten.  Was heißt das für uns Menschen? 

Gesunde Ernährung ist nicht nur für den Körper wichtig, sondern auch für unsere Psyche. Das hat zuletzt das fünfjährige EU-Forschungsprojekt „My New Gut“ anhand umfangreicher Datenanalysen nachgewiesen. Die Ergebnisse lassen sich grob auf folgenden Grundsatz reduzieren: Eine überwiegend pflanzenbasierte Ernährung mit gesunden Fetten, Vollkornprodukten und viel Gemüse sowie Ballaststoffen ist in diesem Zusammenhang sehr bedeutsam.  Neben gesunder Ernährung haben auch die regelmäßige Bewegung und soziale Beziehungen einen positiven Einfluss auf die Psyche. 

Fazit

Sie können selbst einiges tun, um sich gegen Angstgefühle zu wappnen. Dabei geht es stets darum, die Widerstandsfähigkeit und Abwehrkräfte Ihres Körpers und Ihrer Psyche zu stärken! Kopf und Körper beeinflussen sich gegenseitig bei der Entstehung von Ängsten – aber auch bei deren Bekämpfung! Denn dadurch haben Sie gleich zwei Stellschrauben, mit denen Sie Ihre innere Gelassenheit trainieren können. Es geht nicht darum, dass Sie Ihre Ängste ignorieren oder unterdrücken. Das funktioniert bestenfalls vorübergehend oder mit zum Teil nicht zu empfehlenden Ventilen. Auf lange Sicht verursachen unterdrückte Ängste unbewussten Stress und werden früher oder später umso stärker zurückkehren. Vielmehr geht es darum, innere Ressourcen aufzubauen, sich regelmäßig zu bewegen, gesund und ausgewogen zu ernähren und mit Ihren Ängsten einen Weg zu finden. So können Sie die Fähigkeit entwickeln, der Angst auf Augenhöhe zu begegnen und am Ende des Tages Kapitän ihres Lebens zu werden. 

Umso mehr gilt das für den Sport. Nur, es braucht Zeit. Deshalb ist es ratsam, sich frühzeitig an meine Kollegen und Kolleginnen (zur Übersicht) oder mich (zum Profil von Prof. Dr. René Paasch) zu wenden. Für uns gehört der Umgang mit Ängsten im Sport zum Handwerkszeug.  

Mehr zum Thema:

Literatur 

  1. Bangsgaard Bendtsen, K.M., Lukasz Krych,L., Dorte Bratbo Sørensen, D., Wanyong Pang, W., Dennis Sandris Nielsen, D.S., Knud Josefsen, K., Hansen, L., Søren J. Sørensen, S., Axel Kornerup Hansen, A. (2012). Gut Microbiota Composition Is Correlated to Grid Floor Induced Stress and Behavior in the BALB/c Mouse | PLOS ONE 

Studie lesen: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0046231 

  1. Byron Katie (2002): Lieben was ist. Wie vier Fragen Ihr Leben verändern können Gebundene Ausgabe – 4. Juli 2002
  2. Zeng, B. Meiling Liu, Chen, Junxipan, Yu Han, J. Liu, Ke Cheng, L., Zhou, C. J., Haiwang, H., Zhou, X., Gui, S., Perry, S., Licinio, M. W. J., Hong Wei, H., Xie, P. (2019). The gut microbiome from patients with schizophrenia modulates the glutamate-glutamine-GABA cycle and schizophrenia-relevant behaviors in mice | Science Advances. 

Studie lesen:  https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.aau8317

  1.  Vollmer, J. B. (2014). Der Darm-IQ – Wie das Bauchhirn unser körperliches und seelisches Wohlbefinden steuern. 2. Auflage. München

Internet: 

  1. www.mynewgut.eu 
  2. https://www.gutmicrobiotaforhealth.com/ 
  3. https://www.dgppn.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-2017/themendienst-angststoerungen.html 

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Prof. Dr. René Paasch
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