Wahrscheinlich geht es vielen so, wie mir in den vergangenen Wochen. Mir schien, als würde ich ein bestimmtes Thema besonders „anziehen“, als wolle es mich „in Beschlag“ nehmen. Die Rede ist von mentaler Gesundheit – oder falls diese abhanden kommt: psychischer Schädigung. Erst war ich eingeladen, öffentlich zum Thema „Suizid im Spitzensport“ zu diskutieren. Wenige Tage später besuchte mich eine Sportstudentin der ETH Zürich, die mir von ihrer Burnout-Erkrankung berichtete. Anderntags erfuhr ich von einem ehemaligen Weltklasse-Kunstturner, wie seine Karriere durch eine psychische Krankheit – ein „Gewitter im Kopf“ wie er es nannte – jäh gestoppt wurde. Dieser Aufsatz will dazu beitragen, den Umgang mit „psychischen Stürmen“ von Betroffenen kompetenter zu begleiten.
Zum Thema: Umgang mit psychischen Problemen im Sport
Wie steht es mit der mentalen, also psychischen Gesundheit unserer Schweizer Spitzensportler:innen? Mit dieser Frage werde ich in letzter Zeit häufiger denn je konfrontiert. Kurz nach Abschluss der alpinen Skiweltmeisterschaft hätte ich wohl geantwortet: Schaut euch unseren neuen Skistar Marco Odermatt an! – Total positiv, bodenständig, heimatverbunden, eine unterstützende Familie im Hintergrund wissend, strahlend, lebendig, im Gleichgewicht mit sich und seiner Umwelt, reflektiert und unglaublich performant und mit einer mentalen Stärke ausgestattet, die ihn zum Seriensieger reifen liess. Selbst ein technisches Missgeschick auf der berühmt-berüchtigten Streif (inklusive Verletzung), das ihn zum Pausieren zwang, schien er völlig unbekümmert wegzustecken. Odermatt knüpft da an, wo Roger Federer bis zu seinem Rücktritt die Massen begeisterte: Diese stupende, unglaubliche Leichtigkeit, mit der Spitzenleistungen im absoluten Topbereich regelrecht aufzublühen scheinen.
Zwischen Flourishing und Floundering
“Flourishing“, so bezeichnet Keyes (2002) dieses leistungsförderliche Erblühen, welches wir in der Angewandten Sportpsychologie gerne als Zielbereich unseres Handelns definieren. Auf der Grundlage psychischer Gesundheit entfaltet die mental starke Sportlerin ihre Leistungsfähigkeit optimal, um in der Wettkampfsituation zu reüssieren. Als Gegenstück dazu orientiert sich Keyes an der psychischen Krankheit, assoziiert mit klinischer Symptomatik (Floundering). In diesem Modell sind psychische Gesundheit und psychische Krankheit keine gegensätzlichen Enden eines Spektrums, sondern vielmehr getrennte, aber miteinander interagierende Kontinua. Dem theoretischen Modell zufolge können Sportler gleichzeitig blühen und psychisch erkrankt sein oder frei von psychischen Erkrankungen sein und sich in einem schlechten Zustand befinden. In Ergänzung zu Keyes werden diese Zustandsformen in Abbildung 1 mit „struggling“ und „languishing“ bezeichnet. Diese Überlegungen implizieren sowohl für Forschung wie auch für die Betreuungspraxis entsprechende Handlungsnotwendigkeiten. Zum einen muss der empirische Forschungsansatz erweitert werden, um die individuellen psychischen Profile ganzheitlicher abzubilden. Andererseits müssten diese Erkenntnisse auf der Anwendungsseite in differenziertere Unterstützungsmassnahmen hinsichtlich Prävention, Behandlung und kontinuierliche Betreuung münden.
Haltlos in der Krise – Drei berührende Beispiele
Szenenwechsel – Alltag eines Sportpsychologen mit drei Ereignissen, die mich zum Nachdenken (und letztlich zu diesem Text) angeregt haben. So unterschiedlich die Ereignisse und Schicksale klingen, der gemeinsame Nenner ist schnell gefunden: Haltlos in der Krise. Zwei Sportler darf ich mit Namen nennen, auch weil Lucas – der Weltklasseturner – mich dazu persönlich autorisiert hat. Er beschreibt seinen Karriere- und Krankheitsverlauf in seinem 2017 erschienenen Buch: Tigerherz – die Schicksalsgeschichte eines Spitzenturners mit Epilepsie. Noch berührender als dieser Text waren seine Schilderungen vor Wochenfrist in seinem Referat “Das Tigerherz schlägt”. Die Art, wie er nach vielen weiteren Rückschlägen (Verletzungen, Essstörung, Einsamkeit) sein „Gewitter im Kopf“ überwand und Freundschaft mit seiner Krankheit schloss, wie er seinem Erleben und Empfinden Gestalt geben konnte, empfand ich als ausserordentlich beeindruckend. (Rück-)Halt findet er heute in der Musik und im künstlerischen Ausdruck. Zusätzliche Energie und Licht gibt ihm der Aufenthalt in der Natur.
Tags darauf besuchte mich eine Sportstudentin in meinem Büro an der ETH Zürich. Nach längerem Studienunterbruch – den ich zunächst mit einem Auslandsaufenthalt in Verbindung gebracht hatte – will sie ihr Lehrdiplom abschliessen. Bevor ich auf den eigentlichen Grund unseres Treffens zu sprechen kommen kann, platzt sie heraus: „Ich war weg, weit weg. Ich konnte nicht mehr, mein Körper hat gestreikt. Alles was einmal war, war weg – Burnout.“ Diese junge, sehr intelligente, lebenslustige, erfolgreiche Sportlerin berichtete sodann über eine lange Zeit in einer spezialisierten Klinik und den mühselig beschwerlichen Weg zurück ins Leben. Sie habe viel über sich gelernt, gehe geduldiger mit sich um. Halt findet sie im Malen, im offenen Umgang mit dem Thema und in wertvollen Gesprächen mit vertrauten Menschen.
In der eigenen Situation gefangen sein, alleine mit sich ringend, um sich dabei immer mehr zurückzuziehen. Diese Gedanken gingen mir auch durch den Kopf, als ich die Einladung von Claudio Böckli, einem ehemigen Weltklasse-Biathleten erhielt, der mich zu einem Themenabend „Suizid und Depression“ in meiner Wohngemeinde Uster einlud. Hintergrund war der Freitod seines langjährigen Teamkollegen Simon Hallenbarter sowie der explizite Wunsch der Wittwe, das Thema Suizid vermehrt öffentlich zu diskutieren. Das Referat des Theologen und Psychiaters Dr. Michael Pfaff stiess auf grosses Interesse. Wie Simon wählen ca. 1’000 Schweizer jährlich den Freitod. Nachdenklich stimmen weitere Statistiken: 200’000 (von 9 Mio Schweizer:innen) haben einmal im Leben einen Suizidversuch unternommen, von aktuell 500’000 Menschen in der Schweiz wird angenommen, dass sie Suizidgedanken haben. Im Moment scheint die Thematik vermehrt (wieder) junge Frauen zu betreffen.
“Meine Schwester hat sich auch umgebracht!”
Im Anschluss an die Präsentation entwickelte sich eine engagierte Diskussion im Plenum, gefolgt von interessanten Tischgesprächen. Urplötzlich warf mein Tischnachbar ein: „Meine Schwester hat sich auch das Leben genommen.“ Wie gelähmt sassen wir da, ich spürte die bleierne Schwere der Pause. „Wir konnten sie nicht im Leben halten, sie bezeichnete sich als Last für alle, es sei hoffnungslos mit ihr“. An diesem Punkt war ich froh um das Hintergrundwissen und die Erfahrungen, die der Referent seinem Publikum mitgegeben hatte. Mir fiel ein, was wir über protektive Faktoren, die einem Suizid vorzubeugen helfen, gehört hatten, nämlich:
– Soziale Eingebundenheit/Unterstützung von aussen
– Lebenszufriedenheit
– Hoffnung
– aktive Therapiebeteiligung/Engagement
– Problemlösungskompetenz
– Freundschaften/Partnerschaft
Auf dem Nachhauseweg fiel mir die Eingangsfrage zu diesem Text wieder ein: Schwindet die mentale Gesundheit im Leistungs- und Spitzensport von heute? Sind die mitterweile dokumentierten Übergriffe im Schweizer Spitzensport – im Frauenkunstturnen, der Rhythmischen Gymnastik, im Synchronschwimmen, im Trampolinspringen, in Ballettschulen u.a. Ursache und Folge einer auch ethisch und psychologisch nicht mehr vertretbaren Spitzensportförderung? Bedrohen veränderte Rahmenbedingungen (z.B. Medialisierung, soziale Medien, öffentlicher Druck u.a.) und andere Einflüsse (z.B. Pandemie) vermehrt die psychische Gesundheit der Sportler:innen?
52% Schweizer Spitzensportlerinnen mit psychopathologischen Symptomen
Das mediale Echo auf eine repräsentative Studie zur mentalen Gesundheit im Schweizer Elite-Sport (Röthlin, Horvath, Ackeret, Peter & Birrer, 2023) fällt – gemessen an oben dargestellten Missständen – unaufgeregt aus. In den Medien dominiert die Aussage, dass prozentual Schweizer Sportlerinnen und Sportler gleichermassen von psychischen Problemen geplagt würden wie der Rest der Schweiz. Ein Blick in die Daten des Forschungsberichts des Bundesamts für Sport lässt aber auch eine andere Betrachtungsweise zu. So kommen die Autor:innen zum Schluss, dass „ein beträchtlicher Anteil der Sportler von Symptomen psychischer Störungen betroffen ist und dass mehr Massnahmen zur Verbesserung dieser Situation erforderlich sind“. Ebenso fallen grosse Gruppenunterschiede auf. „So waren 52% der weiblichen Athleten von mindestens einem Symptom einer psychischen Störung betroffen, verglichen mit 30% der männlichen Athleten. Zudem waren verletzte Athlet:innen am stärksten von depressiven Symptomen betroffen.“
Ein ähnliches Bild zeigt eine aktuelle Studie von Küttel, Durand-Bush & Larsen (2022), die individuelle Profile der psychischen Gesundheit von jungen dänischen Elite-Fussballspielern untersucht haben. Etwa jeder fünfte Sportler weist mittlere bis schwere Symptome einer psychischen Störung auf. Dabei zeigen sich Fussballspielerinnen anfälliger auf Symptome psychischer Erkrankungen als ihre männlichen Kollegen. Bemühungen zur Förderung der psychischen Gesundheit müssten auf die individuellen psychischen Gesundheitsprofile der Spieler:innen abgestimmt sein, die auf regelmässig durchgeführten Screening-Untersuchungen entwickelt werden müssten.
Ausblick: Was nehme ich mit für meinen beruflichen Alltag?
Meine „Learnings“ würde ich in drei relevante Fragestellungen packen und diese mit drei persönlich gehaltenen (Teil-)Antworten versehen.
a) Was mache ich konkret, um mich in dieser Thematik „à jour“ zu halten?
Ich habe mich heute für die Weiterbildungsveranstaltung „4. Fachtag Sportpsychologie“ (22.4.23) an der Spoho Köln angemeldet. Die Titel der beiden Workshops lauten vielversprechend: 1) ADHS bei erwachsenen Athletinnen und Athleten; und 2) „Ich mache also bin ich – oder ist weniger mehr?“
b) Müssten wir in der Athlet:innen-Betreuung vermehrt das „Profiling hinsichtlich der mentalen Gesundheit“ unserer Klient:innen durchführen?
Hierzu wünsche ich mir einen vertiefenden Gedankenaustausch in unserer Arbeitsgruppe mind2win!
c) Mentale Gesundheit gerade junger Sportler:innen scheint eng mit psychosozialem (Rück-)Halt / Eingebundensein in Beziehung zu stehen.
Ich schaue mal in der Literatur nach… und organisiere zum Thema „Elterncoaching“ ein Symposium anlässlich des FEPSAC-Kongresses 2024 in Innsbruck!
Literatur
Fischer, L. & Sutter, K. (2017). Tigerherz – die Schicksalsgeschichte eines Spitzenturners mit Epilepsie. Arisverlag.
Keyes, C. L. M. (2002). The mental health continuum: From languishing to flourishing in life.
Journal of Health and Social Behavior, 43, 207–222.
Küttel, A., Durand-Bush, N. & Larsen, C.H. (2022). Mental Health Profiles of Danish Youth Soccer Players: The Influence of Gender and Career Development. Journal of Clinical Sport Psychology, 16, 276–293. https://doi.org/10.1123/jcsp.2021-0035
Röthlin, P., Horvath, S., Ackeret, N., Peter, C., & Birrer, D. (2023). The Mental Health of Swiss Elite Athletes. Swiss Psychology Open, 3(1): 2, pp. 1–17. DOI: https://doi.org/10.5334/spo.49
Quellen:
https://www.facebook.com/photo/?fbid=627774359164884&set=a.156881359587522
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