Die Natur ist uns näher als uns dies manchmal bewusst ist. Jeden Tag beschenkt sie uns, gibt uns allerlei Lebensnotwendiges mit, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Nicht umsonst zieht es uns in der Freizeit oder an den Wochenenden immer wieder in die Tier- und Pflanzenwelt. Dort können wir abschalten und in Kontakt mit uns selbst treten. Auch im Leistungssport ist es wichtig, gelegentlich innezuhalten und sich von den eigenen und fremden Erwartungen zu befreien. Nichts eignet sich dafür besser als ein Spaziergang oder ein „Walk & Talk“ mit einem guten Freund bzw. Freundin. In diesem Blogbeitrag lade ich Sie herzlichst ein, gemeinsam mit mir durch den Wald zu streifen und dort Antworten auf einige Fragen zu finden.
Zum Thema: Veränderungen annehmen und die Vergangenheit im Leistungssport loslassen
Der Wald ist unbeschreiblich wandelbar und einzigartig – so wie Sie. Jeden Tag erschließt sich vor unserer Haustür in Bönen im Kreis Unna ein neues Farbenspiel der besonderen Art. Mal scheint die Sonne durch die Baumwipfel, mal fallen dicke Tropfen von den Blättern. Im Frühling zwitschern die Vögel des Waldes atemberaubende Lieder in die Luft, im Winter hören Sie leise Windgeräusche in den blätterlosen Wipfeln. Anders als im Leistungssport, wo die Prinzipien „höher, schneller und weiter“, „jederzeit austauschbar“, „Gewinnen oder Verlieren“ für eine gewisse Stringenz und Ängste sorgen, ist der Wandel der Jahreszeiten in der Natur leicht und unbeschwert. Sie lehrt uns, dass Veränderungen zum Kreislauf des Lebens gehören. Denken Sie nur einmal an die Laubbäume: Im Herbst lassen sie ihre Blätter fallen und werden im Winter völlig entblößt. Im Frühling schlagen sie dann erneut aus, um uns im Sommer erneut mit blühenden Farben zu erfreuen. Die Bäume beklagen sich nicht darüber, dass sie sich verändern müssen. Sie tun es einfach.
Auch Sie sind heute nicht der gleiche Mensch, der Sie gestern waren. Veränderung ist gut, denn sie bedeutet Lebendigkeit und Wachstum. Wenn Sie das akzeptieren, können Sie mit den Herausforderungen und Widrigkeiten des Leistungssports besser umgehen und dabei mental gesund bleiben. Dann können Sie den folgenden Punkten gelassener entgegentreten, wie bspw. die stressauslösenden Gedanken, Niederlagenserien, schlechte Leistungsfähigkeit, Verletzungen, Umgang mit den Medien, unangebrachte Fangesänge oder teilweise befremdliches Verhalten von Akteuren des Sports. Anstatt an herausfordernden Zeiten zu verzweifeln, lernen Sie von ihnen. Vertrauen Sie einfach darauf, dass nach dem Regen irgendwann wieder die Sonne folgen wird. Ähnlich wie es die Dichotomie beeindruckend beschreibt: Liebe existiert nicht ohne Hass, Helligkeit bedingt auch Dunkelheit, das Gute trägt auch immer das Böse in sich, wo Leben entsteht, wird Leben genommen. Diese Dichotomie-Analyse lässt sich so weiterführen. Und wenn dann für Sie die Sonne wieder scheint – und das wird sie, genießen Sie den Moment und lassen Sie die Vergangenheit ruhen. Auch dabei können Sie sich an den Bäumen ein Vorbild nehmen. Beobachten Sie diese, wie sie jedes Jahr aufs Neue mit der Vergangenheit abschließen und sich Ihrer wichtigen Aufgabe stellen. Dazu eine kleine Metapher für Sie: Sie würden bei einem gemütlichen Spaziergang verschiedene Dinge vom Wegesrand aufsammeln: Ein Blatt, ein Stein oder eine Kastanie. Irgendwann sind Ihre Hände voll und Sie können keine weiteren Gegenstände mehr aufnehmen. Dann ist die Zeit zum Loslassen gekommen. Denn Loslassen hat etwas mit Ent-Bindung zu tun, mit Ablösung, Aufbruch und Befreiung von etwas, dass man es im Grunde seines Herzens nicht mehr festhalten will und kann. Es ist ein Ausdruck unseres freien Willens.
Take Home Message:
Suchen Sie sich beim nächsten Spaziergang mal ein ruhiges Plätzchen – eine Bank oder eine gemütliche Wiese als Sitzmöglichkeit und fragen Sie sich: Was möchten Sie loslassen und wie würde sich das für Sie anfühlen?
Weggabelungen im Leistungssport
Die dichten Pfade des Waldes sind unberechenbar. Sie führen nie nur geradeaus und unterliegen einem stetigen Wandel. Früher oder später kommen Sie an eine Weggabelung und müssen sich für eine Richtung entscheiden. Um es gleich vorwegzunehmen: Auf diese Frage gibt es keine richtige oder falsche Antwort. Sobald Sie sich für einen Weg entschieden haben, wird dieser Weg zu Ihrer Geschichte oder wie es in dem wunderbaren Buch von John Strelecky „The Big Five for Life“ so schön klingt: “Ist heute ein guter Museumstag?“
Was will uns der Autor damit sagen: Stellen Sie sich mal vor, dass am Ende Ihres Lebens ein Museum für Sie errichtet wurde. Und für jeden einzelnen Tag in Ihrem Leben gibt es ein Ausstellungsstück oder ein Foto, das diesen Tag repräsentiert. Das sind Museumstage. Insgesamt werden am Ende bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von achtzig Jahren um die 29.000 Fotos dort hängen. Und wenn Sie den Großteil Ihres Lebens mit einem Job oder Menschen verbringen, die Sie nicht mögen, wird ein Gang durch Ihr persönliches Museum ziemlich deprimierend sein. Es ist also müßig darüber nachzudenken, ob der andere Weg nicht doch die bessere Wahl gewesen wäre. Sie werden es nie im Vorwege wissen. Ihnen bleibt also gar nichts anderes übrig, als sich vertrauensvoll und zuversichtlich dem Weg hinzugeben, den Sie sich ausgesucht haben. Natürlich kann er streckenweise auch mal holprig sein, aber im Idealfall sollte er sich doch die meiste Zeit gut anfühlen. Tut er das nicht, ist es Zeit, dass Sie innehalten und sich fragen, was Sie ändern können. Vielleicht reicht es schon, den Kopf ein wenig zu heben, um das reichhaltige Portfolio des Lebens wahrzunehmen. Vielleicht müssen Sie etwas entschleunigen, um die einzelnen Schritte Ihres Spaziergangs bewusster zu genießen. Wenn das alles nicht hilft, ist es möglicherweise an der Zeit, einen neuen Weg einzuschlagen.
Oft glauben meine betreuten Sportler*innen, Trainer*innen und Manager*innen, dass wir im Leistungssport jeden Weg bis zum Ende gehen müssen und nicht vom Kurs abweichen dürfen. Aber das stimmt nicht. Richtungsänderungen sind erlaubt und bedingen der Natürlichkeit des Lebens. Kein Karriereziel oder die gegenwärtige Situation muss verbissen verfolgt und um jeden Preis aufrechterhalten werden. Denn Glück, Zufriedenheit und ein gesundes Mindset entstehen nicht in der Außenwelt, sondern nur bei Ihnen.
Take Home Message
Wie sagt es der Volksmund immer so schön? Durch Umwege lernt man die Umgebung kennen. So gesehen ist ein neuer Weg auch eine neue Chance. Wenn Sie also das nächste Mal auf eine Weggabelung treffen, fragen Sie sich: Führt mein Weg noch in die richtige Richtung oder wird es Zeit für etwas Neues?
Der fruchtlose Vergleich im Leistungssport
Das Wunderbare am Spazierengehen ist, dass Sie dabei die Liebe zum Detail neu entdecken. Sie bewundern die Vielfalt der Tiere und Pflanzen, bemerken, wie die Natur sich miteinander verbindet und freuen sich über die frische Luft. Vielleicht fällt Ihnen auf, dass kein Baum dem anderen gleicht: Manche sind groß, manche klein. Der eine hat mehr Zweige, der andere weniger. Manche wachsen kerzengerade nach oben, andere neigen sich leicht zur Seite. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Jeder Baum ist vollkommen in seiner Einzigartigkeit – sowie Sie, liebe Leser*innen!
Leider vergessen wir oft, dass wir so wie wir sind richtig sind und vergleichen uns mit anderen Menschen. Sich ständig zu vergleichen oder seinen Erwartungen zu unterliegen, tut nicht gut und lässt uns häufig zweifeln. Auch von ungebetener Kritik oder Fehlern sollten Sie sich nicht verunsichern lassen. Ganz lässt sich dies nicht vermeiden, aber es liegt in Ihrer Hand, wie Sie damit umgehen möchten.
Take Home Message
Stellen Sie sich dazu einmal vor, Sie begegnen auf Ihrem Weg einem anderen Spaziergänger bzw. Spaziergängerin. Nachdem Sie eine Weile miteinander gegangen sind, hebt er/sie ein wohlgeformtes Blatt auf und reicht Ihnen dieses. Sie haben nun die Wahl, ob sie es annehmen oder nicht. Wenn Sie es nicht tun, gehört das Blatt nicht Ihnen, sondern der anderen Person oder streng genommen dem verlorenen Baum. Genauso verhält es sich mit Herausforderungen im Leistungssport: Sie können sich nur davon beeinflussen lassen, wenn Sie diese für sich annehmen. Tun Sie das nicht, können die Bedingungen des Sports sowie Personen Ihnen nichts mehr anhaben.
Mentale Gesundheit
Kehren wir noch einmal zu den Bäumen zurück. Ob sie wachsen oder verdorren, hängt davon ab, wie nährstoffreich der Boden ist, in dem sie verwurzelt sind. Für uns alle im Leistungsbereich besteht dieser Nährboden aus unseren stetigen Begegnungen mit Kollegen*innen, Teamkollegen*innen oder (zweckgebundenen) Beziehungen. Je mehr Sie sich mit Menschen umgeben, die Ihnen nicht guttun, umso mehr wird Ihre mentale Gesundheit und Ihre Leistungsfähigkeit aufblühen. Frage Sie sich also: Welche Menschen in Ihrem sportlichen und privaten Umfeld bilden den Nährboden, auf dem Sie wachsen dürfen?
Take Home Message
Der Baum wird als ein Zeichen für das Leben betrachtet. Er symbolisiert Wachstum und die Entwicklung des Menschen. Verschenken Sie doch einen Baum oder besorgen Sie sich einen eigenen und pflanzen Sie diesen in Ihrem heimischen Garten an. Denn dieser steht für Wachstum, Kraft, Ausdauer und Widerstand. Attribute, die je nach Anlass für unterschiedliche Menschen aber auch für den Leistungssport die entsprechende Passung sein können. Ein Baumgeschenk ist nachhaltig, denn dieser wächst mit Ihnen zusammen, schützt unser Klima und bietet vielen Tieren und Pflanzen einen Lebensraum. Und nicht nur das! Es erinnert uns täglich daran, dass wir einander brauchen und Leistung nur möglich ist, wenn wir die dafür notwendigen Strukturen schaffen.
Japanisches Waldbaden
Wussten Sie, dass Waldspaziergänge von den Kostenträgern in Japan als Rezept verschrieben werden? Das klingt zu schön, um wahr zu sein. In Japan ist es möglich: Von dort kommt der Trend des sogenannten Waldbadens. Was so schön nach fernöstlicher Weisheit klingt, ist im Grunde nichts anderes als der gute alte Waldspaziergang. Nur eben auf Rezept.
Warum sollte man aber eine Anleitung, geschweige denn eine ärztliche Verschreibung zum Spazierengehen brauchen? Der Hauptgrund dafür sind die beachtlichen gesundheitlichen Vorteile, die das Waldbaden mit sich bringt (Yasuhiro, Miles, Sheffield, 2022). Bäume dünsten verschiedene Stoffe aus, um zu kommunizieren oder sich vor Angriffen zu schützen. Einige von ihnen können nachweislich den Blutdruck senken und auf unser Gemütszustand einwirken. Daneben stärken sie unsere Abwehrkräfte. Bereits seit 1956 weiß man, dass Nadelbäume ihre Umgebung mit Hilfe pflanzlicher Antibiotika, sogenannter Phytonzide desinfizieren, um sich vor Pilzsporen zu schützen. Das ist für Waldbesucher doppelt gut, denn zum einen bietet die nahezu keimfreie Luft Allergikern Entlastung. Zum anderen atmen wir die Phytonzide ein, und sie entfalten ihre entzündungshemmende Wirkung in unserem Körper. Und ich möchte noch einen Verstärker liefern: Studienteilnehmer, die mindestens zwei oder mehr Stunden draußen in der Natur verbringen, waren statistisch gesehen häufiger gesünder und glücklicher als Menschen, die während einer Woche weniger oder gar keine Zeit draußen verbrachten. Die größten Auswirkungen zeigten sich bei 200 bis 300 Minuten pro Woche im Grünen (Natural England, 2009). Grundlage dieser Studie waren die Daten von rund 20.000 Menschen in England, die in den Jahren 2014 bis 2016 erhoben wurden. Da erscheint einem das Waldbaden als kognitive Entlastung und Therapeutikum schon weniger seltsam, oder?
Fazit
Die Akteure im Leistungssport betrachten sich gerne als Krone der Weisheit und begründen das vor allem mit Ihrem Expertenstatus in der jeweiligen Disziplin, die Karriere als ehemals Leistungssportler*in und den finanziellen Möglichkeiten. Wenn es aber um die psychische Gesundheit einiger Akteure im Leistungssport geht, müssen sich viele kleinlaut einräumen, dass der Leistungssport den meisten Unternehmen in der Wirtschaft hoffnungslos unterlegen ist. Dabei könnten sie heute auf zahlreiche Kollegen*innen zugreifen, die Ihnen bei einer ganzheitlichen Umsetzung behilflich sein könnten. Die Frage ist nur, wollen wir neue Wege und mehr psychische Gesundheit im Leistungssport überhaupt? Ich spiele diesen Ball gerne zurück und erwarte nicht viel von der Gegenseite. Die Hoffnung, dass sich dies ändern wird, ist leider gering. Dennoch bleiben wir hartnäckig und zuversichtlich, denn Aufgeben ist keine Option. Eine Veränderung in weiten Teilen des Systems Leistungssport herbeizuführen, ist eine Herzensangelegenheit von mir (zum Profil von Prof. Dr. René Paasch) und vielen Kollegen*innen (zur Übersicht) – und vielleicht auch eine biologische und soziale Notwendigkeit.
Literatur
Walk & Talk: Nilofer Merchant: Eine Besprechung? Gehen Sie spazieren! YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=iE9HMudybyc. In den Unternehmen Facebook, Apple und Twitter gehören die „Walk and Talk“-Meetings bereits zum Alltag. In den USA hat sich sogar eine eigene Online-Bewegung entwickelt: Mobility for all: everybodywalk.org. Zugriff am 01.03.2023
Natural England (2009) Studie lesen: https://www.gov.uk/government/collections/monitor-of-engagement-with-the-natural-environment-survey-purpose-and-results
Yasuhiro, K., Miles R., Sheffield, D. (2022): Effects of Shinrin-Yoku (Forest Bathing) and Nature Therapy on Mental Health: a Systematic Review and Meta-analysis. Studie lesen: https://link.springer.com/article/10.1007/s11469-020-00363-4
Yoshifumi, M. (2018): hinrin Yoku – Heilsames Waldbaden. Die japanische Therapie für innere Ruhe, erholsamen Schlaf und ein starkes Immunsystem
Views: 139