Maria Senz und Prof. Dr. René Paasch: Pfiffe, Fouls und Fehlentscheidungen im Sport

Das Publikum – stressig oder motivierend? Die Spielweise – clever oder unfair? Die Entscheidungen des Schiedsgerichts – für oder gegen? Welchen Einfluss haben Publikum, Spielweise und Entscheidungen auf die Sportler*innen? Diese Fragen haben Maria Senz und Prof. Dr. René Paasch zum Nachdenken gebracht. Entstanden ist ein Beitrag aus systemischem Ansatz und sportpsychologischer Herangehensweise für all jene, die sich die Zeit nehmen können oder wollen, über sich, ihr Verhalten oder das der anderen nachzudenken. Und das lohnt sich, schließlich machen Pfiffe, Fouls und Fehlentscheidungen ja etwas mit uns.

Zum Thema: Äußere Einflussfaktoren im Sport

Im Mannschaftssport geht es turbulent zu – sowohl auf als auch neben dem Feld. Es wird gebrüllt, gejubelt, gepfiffen, applaudiert, gekontert, gefoult, gewonnen, verloren, entschieden, gezählt, gebettelt, geflucht, gefreut und vieles mehr. Gehen wir mal in die Vogelperspektive und schauen von oben auf die Szene: Ich sehe einen Sportplatz – z.B. aus Gras, Sand, Kunststoff – , wo sich zwei Mannschaften gegenüberstehen, mit dem Ziel Punkte zu jagen. Mittendrin oder außen rum verteilt sich das Schiedsgericht mit wachsamen Augen, um dem Spiel Fairness, Struktur und Regeleinhaltung zu verleihen. Und ganz außenrum formen Sitzplätze für Zuschauer eine Tribüne, die mit zunehmendem Leistungsvermögen gen Himmel emporsteigt. In Summe ein Kessel Buntes aus unterschiedlichen Charakteren mit ihren Aufgaben, Verantwortungen und Kompetenzen sowie einer Soundkulisse und Aromen, die einem Jahrmarkt ähneln.

Welche Auswirkungen hat diese Atmosphäre auf die Sportler*innen?

Gehen wir in die Perspektive auf dem Sportplatz. Als Team in eine derartige Arena einzulaufen ist beeindruckend, überwältigend und schön. Du läufst gemeinsam als Mannschaft ein, freust dich auf das was kommt und kannst deiner sportlichen Leidenschaft frönen. Im besten Fall „trägt“ dich das Publikum wie auf einer Sänfte aufs Feld, bejubelt, motiviert und stärkt dich gemäß dem Motto „Wir sind für euch hier!“. Ein Szenario, was ihr im Team als stabilisierend, stärkend und zur sportlichen Höchstleistung beitragend wahrnehmt.

Ein anderes Szenario kann sein, dass ihr als Mannschaft mit ähnlicher Vorfreude einlauft und euch nun eine stürmische Meute empfängt, die euch am liebsten zerfleischen möchte. Buhrufe, Pfiffe, unschöne Wortmeldungen tönen als Chor geballt in dein Ohr. Unruhe, Nervosität und Handlungsunfähigkeit können sich folglich in dir ausbreiten. Dein Körper scheint gelähmt und dein Kopf blockiert mit Blick auf deine erforderlichen Leistungen. Stress, Druck, wiederholte Fehler und Versagensangst können weitere Folgen sein.

Der Einfluss von Pfiffen und Buhrufen

Schwenken wir den Blick auf die Spielweise einer Mannschaft: Fair Play oder Foulspiel? Per Definition ist ein Foul eine Handlungsaktion, die gegen das Regelwerk verstößt – also unzulässig ist. Um eine derartige Aktion zu beurteilen, braucht es ein Schiedsgericht, die sogenannten Unparteiischen. Ich habe Respekt vor jedem Schiedsgericht. Ein Amt, dass entschlossene, überzeugte und vor allem schnelle Entscheidungen verlangt. Und dabei urteilen unzählige weitere Augen ebenso über die Situation und sind entsprechend empört, wenn die Wahrnehmungen auseinander gehen. Und dann geht das verbale Gewitter los. Die Beurteiler werden zu Verurteilten. Das Publikum schimpft wie die Rohrspatzen auf ihrer Singwarte, das Trainerteam gestikuliert wild am Rand oder in den Rängen und die Sportler weichen oder stellen sich der Diskussion mit dem Schiedsgericht. Hier braucht das Amt ein dickes Fell, eine stabil-errichtete Schutzhülle oder sonstige Abprallmechanismen, die weiterhin faire Entscheidungen ermöglichen. In manchen Sportarten und Leistungsleveln ist auch technische Unterstützung im Einsatz, die dem Schiedsgericht die Entscheidung aus weiteren Perspektiven und in Zeitlupe ermöglicht.

Der Psychologe Daniel Kahneman und sein Team (2012) wiesen nach, dass Menschen sehr häufig Entscheidungen unter schwierigen Bedingungen treffen müssen. Um so deutlicher wird dies im Leistungssport, wo unter hohem Druck zeitliche Entscheidungen getroffen werden müssen. In solchen Momenten stehen nicht alle relevanten Informationen zur Verfügung. Allerdings lassen sich selbst unter herausfordernden Bedingungen oft noch recht gute Entscheidungen treffen, indem man schnelle und vereinfachende Strategien anwendet, so genannte Heuristiken (Gigerenzer, Gaissmaier, 2011). Der Nachteil dabei: Es entsteht leicht eine Schräglage, Heuristiken neigen zu systematischen Urteilsverzerrungen (Wason,1968). Weiterführende Inhalte findest du hier:

https://www.die-sportpsychologen.de/2021/07/dr-rene-paasch-falsche-entscheidungen-in-fussball-nachwuchsleistungszentren-vermeiden/ 

https://www.die-sportpsychologen.de/2021/07/dr-rene-paasch-falsche-entscheidungen-in-fussball-nachwuchsleistungszentren-vermeiden/

Entscheidungen, Bewertungen und Verzerrungen

Die meisten Verzerrungen entstehen, wenn Menschen bei ihren Entscheidungen Informationen heranziehen, die eigentlich irrelevant sind. Beispielsweise die Bewertungen von Aussagen der Zuschauer*innen. Oft sind sich Sportler*innen dabei gar nicht bewusst, dass solche Nebensächlichkeiten das Verhalten im Wettkampf und im Alltag beeinflussen können. Einige Fehler fallen in diese Kategorie. Wovon hängt es ab, ob die Spieler*innen nach lauten Pfiffen und Buhrufen reagieren oder beeinflusst werden? In erster Linie davon, welche Erfahrungen vorliegen, die Selbstwirksamkeitserwartung (Short et. al., 2005) oder die entsprechende Erwartungshaltung. Je gravierender Pfiffe sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer beeinflussenden Reaktion (Epling et al., 2011). Dies wird häufig als erschwerte Bedingung der Akteure genannt. Was aber, wenn diese nicht eindeutig identifizierbar sind? 

In solchen Situationen spielt eine Reihe weiterer Faktoren hinein. Erfahrungen von Spielern*innen zufolge wird eine Beeinflussung umso eher gezeigt, je lauter das Publikum Verhaltensweisen im Wettkampf begleitet. Man könnte argumentieren, das sei doch eigentlich ganz nützlich. Warum sollten Spieler*innen nicht die Reaktionen der Zuschauer*innen in ihre Entscheidungsfindung nicht mit einbeziehen? Aber: Das hat Vor- und Nachteile und ist personenbezogen. Hinzu kommt, dass bei einem Wettkampf meist deutlich mehr unreflektierte und haltlose Pfiffe der gegnerischen Zuschauer zu hören sind.

Wie kannst du als Sportler*in mit Pfiffen, Fouls und scheinbaren Fehlentscheidungen umgehen?

Pfiffe sind Geräusche, die du mit deinem Hörsinn regulieren kannst. Im ersten Schritt entscheidest du, ob du es überhaupt in dein Ohr oder bereits vorher verstummen lässt und somit einflusslos auf dich wirkt. Falls du es in dein Ohr lässt, hast du die Wahl zwischen einem positiven oder negativen Einfluss auf dein System. Ein negativer Einfluss kann sein, dass es dich nervt, stresst und Einfluss auf deine Körperspannung sowie -haltung haben kann. Das Abrufen deiner sportlichen Leistung ist verhindert, was weiterhin zu Frust führen kann. Überlege dir, welche positive Bedeutung Pfiffe für dich haben können? Letztlich entscheidest du über die Bedeutung und damit über die Auswirkung der Geräusche auf dein System. Nimmst du diese Geräusche eher positiv wahr, kann es dich motivieren und begeistern, was deine körperlichen Aktionen antreibt und zu Höchstleistungen führt.

Zurück zu den Fouls. Quasi Hindernisse. Unterbrechungen, die den Spielfluss stören. Das können selbst erzeugte oder fremdverursachte Unterbrechungen sein. Final können sie dich aus dem Konzept bringen. Was kann hier ein guter Umgang für dich sein? 

Fehlentscheidungen als Ansichtssache

Was bleibt, ist die Akzeptanz für die Situation. Es ist passiert. Ein Zurückspulen, um es anders zu machen, bleibt aus. Um sich zu ärgern, ist keine Zeit. Daher erstmal imaginär irgendwo parken, weitermachen und bei Bedarf nach dem Spiel abholen und analysieren. Dadurch ermöglichst du dir geringe bis keine Unterbrechung und bleibst im Flow für deine Leistungen.

Fehlentscheidungen sind Ansichtssache. Nimmst du eine Entscheidung des Schiedsgerichts anders wahr, hast du die Möglichkeit, in die Diskussion zu gehen, um deine Wahrnehmung zu erläutern und zu argumentieren. Diese Möglichkeit kannst du schon mal als wertschätzend bewerten und dich damit beruhigen, dass du deine Sichtweise an dieser Stelle loswerden kannst. Mit diesem Weg kannst du eher den Spielfokus wieder aufnehmen und dich voll und ganz dem Spielziel widmen. Gleichzeitig kann dich eine Fehlentscheidung auch aus dem Konzept bringen. Du hängst der Chance nach, das Thema für dich aufzulösen. Es macht dich vielleicht wütend, du fühlst dich unfair behandelt. Dadurch verlierst du den Fokus auf das eigentliche Spiel, machst Fehler und deine Leistung ist ferner liefen. Das Schiedsgericht hat die Aufgabe, das Spiel gemäß Regelwerk zu beurteilen und Entscheidungen zu treffen. Deine Aufgabe ist es, gemeinsam mit deinem Team das Spiel so clever zu gestalten, dass ihr gemäß Regeln Punkte sammelt und am Ende als Gewinner vom Feld geht. Daher fokussiere dich auf den Moment, der gerade Priorität hat. Finde einen Weg, deine Emotionen frei zu lassen – am besten genau in dem Moment, wo sie hingehören. Sie haben ihre Daseinsberechtigung. Bist du befreit, kannst du in den nächsten Spielmoment übergehen, behältst den Fokus und bleibst auf der Spur zum Sieg.

Lernerfolg im Blick

Um das Zuschauervotum richtig zu deuten, bedarf es einer Vielzahl von Informationen, die noch dazu sehr schnell abgewogen werden müssen. Typisch für sie ist, dass man plötzlich zu einem Schluss kommt, ohne diesen näher begründen zu können. Derartige Eingebungen lassen sich durch Rückmeldungen und eine offene Gesprächskultur innerhalb des Teams über zuvor getroffene Verhaltensweisen und Entscheidungen verbessern. Der Lernerfolg hängt dabei maßgeblich vom Zeitpunkt und von der Art der Rückmeldung ab: Sie sollte am besten unmittelbar im Anschluss und möglichst präzise erfolgen. Das hilft bei der Bewältigung der äußeren Faktoren. Findet die Reflexion dagegen zu spät statt oder fließen zu viele Informationen darin ein, bleibt der Lerneffekt gering. In einem auf intuitive Entscheidungen zugeschnittenen Trainingsprozess versuchen wir Sportpsychologen*innen & Sportpsychologischen Berater*innen, diese Erkenntnisse praktisch zu nutzen. Beispielsweise im Training der Exekutivfunktionen (Harris et al., 2018) oder in dem wir Gedanken hinterfragen und die Wahrnehmung zielgerichtet ausrichten. Wie wir das machen, zeigt der folgende Beitrag:

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/05/dr-rene-paasch-mit-erfolg-und-misserfolg-umgehen/

Weiterführende Inhalte zum Thema Zuschauer und deren Einflussmöglichkeiten sowie zu Exekutivfunktionen kannst du hier lesen:

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/05/dr-rene-paasch-zum-teufel-mit-dem-12-mann/

https://www.die-sportpsychologen.de/2017/07/dr-rene-paasch-von-wegen-ein-einfacher-pass-exekutivfunktionen-im-fussball/ 

https://www.die-sportpsychologen.de/2019/08/dr-rene-paasch-gedankenschnelligkeit-im-fussball-trainieren-teil-1/ 

Fazit

Pfiffe, Fouls und Fehlentscheidungen sind Einflussgrößen, die extern gegeben und somit unbeeinflussbar sind. Was du als Sportler*In beeinflussen kannst, ist dein Umgang mit diesen Gegebenheiten. Welchen Umgang damit brauchst du, dass du trotzdem deine erforderliche Leistung abrufen und zum Einsatz bringen kannst? Dabei können wir dich unterstützen und begleiten. Kontaktiere uns oder die Kollegen aus dem Netzwerk von Die Sportpsychologen (zur Übersicht).

Mehr zum Thema:

Literatur

  1. Epting, L. K., Riggs, K. N., Knowles, J. D., & Hanky, J. J. (2011): Cheers vs. Jeers: Effects of Audience Feedback on Individual Athletic Performance. North American Journal of Psychology, 13(2).
  2. Gigerenzer, G. & Gaissmaier, W. (2011): Heuristic decision making. Annual Review of Psychology, 62, 451-482.
  3. Goldstein, D. G. & Gigerenzer, G. (1999): The recognition heuristic: How ignorance makes us smart. In G. Gigerenzer, P. M. Todd & the ABC Research Group (Eds.), Simple heuristics that make us smart (pp. 37-58). New York: Oxford University Press.
  4. Harris, D., Wilson, M. R. & Vine, S. J. (2018): A systematic review of commercial cognitive  training devices: Implications for use in sport. Frontiers in Psychology, 9, 709. 
  5. Kahneman, D. (2012): Schnelles Denken, Langsames Denken. Siedler Verlag, München, aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt, 27. Juni 2012, ISBN 978-3-88680-886-1
  6. Short, S. E., Tenute, A. & Feltz, D. L. (2005): Imagery use in sport: Mediational effects for efficacy. Journal of Sport Sciences, 23(9), 951-960.

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de