Eines vorweg: Wir von Die Sportpsychologen haben größten Respekt vor Jens Nowotny, einem früheren Profi-Fußballer mit über 300 Bundesligaspielen, 48 Länderspieleinsätzen, der viermal Vize-Meister wurde und jeweils einmal im Pokal- und Champions League-Finale stand. Eine lebende Legende von Bayer Leverkusen. Und wir sind Nowotny, der heute im Trainerstab der deutschen U18-Nationalmannschaft aktiv ist, sogar dankbar, dass er kürzlich im Sportradio Deutschland offene Worte über die Sportpsychologie sprach. Kritische Töne, die im System Profi-Fußball sonst weit verbreitet sind aber meist nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen werden. Er formulierte im Sportradio Deutschland Interview (nach ca. 21 Minuten, das gesamte Interview findet ihr hier: Link) folgende Kritik:
“Es ist Warnzeichen. Wenn ein U15- und U16-Jugendspieler schon psychologische Betreuung braucht, weiß ich nicht, ob man sagen muss, dass ist aber toll oder ob man sagt, da läuft etwas schief.”
Jens Nowotny im Sportradio Deutschland
Wir wollen die Chance nutzen, um auf diese Aussage zu reagieren. Um aufzuklären, wofür die Sportpsychologie steht, wofür sie im System Profi-Fußball genutzt werden kann und welche Reserven sie bezüglich der vorbehaltlosen Etablierung im Leistungssport immer noch hat. Im ersten Teil greifen wir die Hauptaussage von Jens Nowotny auf:
Warum läuft nichts schief, wenn ein Jugendspieler auf sportpsychologische Betreuung zurückgreift?
Antwort von: Stephan Brauner (Link zum Profil)
Da läuft erst mal gar nichts schief. Das ist ein Fortschritt und das ist gut so. Wir kümmern uns professionell um die Ressourcen zwischen den Ohren. Es gibt viele Aspekte von Wahrnehmen, Entscheiden, Umgang mit Druck und Belastung, Regeneration und Kommunikation, die systematisch bearbeitet werden können. Das sollte sogar ausgebaut und noch selbstverständlicher werden. Es läuft allerdings dann etwas schief, wenn die Inanspruchnahme sportpsychologischer Unterstützung pathologisiert wird. In den allermeisten Fällen geht es um eine Optimierung der individuellen Leistungsfähigkeit.
Wenn Jens Nowotny allerdings auf das Thema mentale Gesundheit anspielt, dann hat er einen Punkt. Allerdings ist an einem gestiegenen Beratungsbedarf natürlich keinesfalls die Sportpsychologie schuld. Im Gegenteil, Sportpsychologen sind oft die erste Anlaufstelle für Sportler, die in einem in Teilen krankmachenden System ihren Weg gehen wollen.
Antwort von: Anke Precht (Link zum Profil)
Wenn junge Talente frühzeitig sportpsychologisches Know-How hinzuziehen, ist das positiv. Denn sie tun das in der Regel nicht, weil sie psychische Problem haben, ganz im Gegenteil. Ziel ist, nicht nur keine zu bekommen – sondern frühzeitig zu lernen, mit den besonderen Herausforderungen umzugehen, die ein Leben mit Leistungssport mit sich bringt. Schule und Sport unter einen Hut bekommen. Eventuell das frühe Getrennt-Sein von den Eltern. Mit Trainern umgehen, die kommunikativ nicht optimal unterwegs sind. Leistungsdruck aushalten. Nervosität kontrollieren. Wirksam regenerieren. Aber auch mit den hohen Erwartungen, die sie antreffen, besonders, wenn sie als Talente gelten und ihn früher vieles leicht fiel und von allein ging. Junge Sportler, die das frühzeitig lernen, sind nicht nur stabiler in ihren Leistungen, sie sind auch resilienter und glücklicher. Außerdem beraten die Sportpsychologen manchmal auch die Familien bei der Frage, wie sie ihr Kind am besten unterstützen können (und was sie besser lassen). Ich bin sicher, dass die Sportpsychologie dabei hilft, dass weniger Talente am Übergang zum Profisport aufgeben, sondern stattdessen stabil genug sind, ihre Leidenschaft auch zum Beruf zu machen und darin Erfüllung zu finden.
Antwort von: Dr. Hanspeter Gubelmann (Link zum Profil)
Es lohnt, in dieser Situation auch die Perspektive des U-15 bis U-18 Spielers einzunehmen. Im Gegensatz zum gestandenen, erwachsenen Fussballprofi weiss er nicht, wie seine Zukunft im Fussball wie auch im Leben aussehen wird. Stattdessen trifft er in der Zeit zwischen Pubertät und Adoleszenz auf viele Fragezeichen. Seine Fragen muss er zudem unter steigendem Erwartungs-, Selektions- und Leistungsdruck beantworten können. Er strebt nach mehr Autonomie, möchte in der Gruppe der Gleichaltrigen bestehen und er investiert viel, um seine sportlichen Ambitionen zu erreichen. Schliesslich steckt er in einem anforderungsreichen Ablöseprozess vom Elternhaus. Wenn aus diesen Herausforderungen Hürden und Schwierigkeiten entstehen, dann ist das einfach nur menschlich. Herrn Nowotny würde ich auch aus Sicht eines Vaters gerne zurufen. „Toll, wenn Sie als Nachwuchsverantwortlicher diesen Begebenheiten Rechnung tragen und den Jugendlichen diese wichtige Dienstleistung zur Verfügung stellen“. Nicht alle brauchen sie – für diejenigen, die in Not geraten, ist sie aber absolut zeitgemäss und notwendig“!
Antwort von: Björn Korfmacher (Link zum Profil)
Wenn junge AusnahmeathletInnen vermehrt unter stressbedingten psychischen Erkrankungen leiden (z. B. Burnout, Depressionen, Angst-, Ess- oder Schlafstörungen), läuft gewiss etwas schief im System. Dann wäre die Sportpsychologie sicherlich nur ein Alibiversuch, um den Missständen entgegenzuwirken. Versteht man die Sportpsychologie aber als präventive bzw. unterstützende Maßnahme, um besser mit Druck umgehen zu können oder schwierige Situationen (Verletzungen, Rückschläge, Formtiefs etc.) mental besser meistern zu können, hat die Sportpsychologie eine erhebliche Relevanz. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass Leistungssport, wo es um Konkurrenzkampf und oft um die persönliche Zukunft geht, immer auch mit einem gewissen Maß an Druck und Angst einhergeht. Athleten und Athletinnen hier zu unterstützen, ist nicht nur sinnvoll, sondern auch wichtig.
Antwort von: Dr. Rita Regös (Link zum Profil)
Der mentale Aspekt ist ein Teil des Leistungssports. Zwecks Leistungsoptimierung wird im Leistungssport an allen möglichen Aspekten “geschraubt”, in allen Bereichen werden Optimierungspunkte gesucht und optimiert, so auch im mentalen Bereich.
Antwort von: Jan van der Koelen (Link zum Profil)
Im Sinne der ganzheitlichen Entwicklung eines jungen Menschen sind neben technischen und athletischen Fähigkeiten auch die Einbeziehung von möglichen Sorgen, Ängsten und Zweifeln wichtige Komponenten für den Gesamterfolg. Der Gesamtbelastung, bestehend aus Schule/Ausbildung, häufig auch räumliche Entkoppelung vom Herkunftssystem, Leistungssport und Pubertät stehen deutlich eingeschränkte soziale und zeitliche Ressourcen gegenüber.
Die NachwuchsleistungssportlerInnen erhalten hierbei hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen Leistung, psychische Gesundheit und der Persönlichkeitsentwicklung, im Rahmen der sportpsychologischen Begleitung, kontinuierliche Unterstützung. Insbesondere wird hier ein Selbstreflexionsprozess angeregt, der die Selbstwirksamkeit der Jugendlichen erhöht und Ressourcen freisetzt, speziell auch Bewältigungsstrategien in stressbehafteten Situationen und zum Umgang mit der bestehenden Doppelbelastung aus Schule und Sport. In Absprache mit dem Jugendlichen kann es empfehlenswert und sinnvoll sein, auch die Eltern in die Arbeit mit einzubeziehen, um eine bestmögliche Unterstützung zu gewährleisten.
Ebenso wertvoll kann die präventive Arbeit mit einem Sportpsychologen sein, um frühzeitig Strategien zu erlernen, die ihre Persönlichkeitsentwicklung fördern und damit einen reifen und gefestigten Charakter formen, was auch zur Leistungssteigerung im Sport beiträgt. Die präventive Arbeit mit Jugendlichen im Leistungssport können unter anderen folgenden Themen sein: Umgang mit Entscheidungsdruck, dem Kontrollieren von Emotionen und Gedanken während eines Spiels (auch nach Fehlentscheidungen), dem Umgang mit der internen Konkurrenz im Kader oder auch die hohen Leistungserwartungen von einem selbst oder von außen.
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