“Real Madrid zeigt, wie wertvoll der Faktor Mensch im Teamsport ist”

Nicht die besseren Einzelspieler, nicht die am besten taktisch geschulten Kicker, nicht die Individualisten mit den besten Perspektiven, sondern die bessere Mannschaft hat das zweite Halbfinale der Fußball Champions League zwischen Real Madrid und Manchester City gewonnen. Ist der 3:1-Sieg des einstigen weißen Ballets, welches am Mittwochabend eher wie eingeschworene Thekentruppe agierte, ein Fingerzeig, dass im Zweifel der Faktor Mensch alles Technische oder Künstliche übertrifft? Oder anders formuliert: Sehen wir am Beispiel von Pep Guardiola, einem der unbestritten weltbesten Trainer, dass weiche Faktoren wie Teamzusammenhalt, Kommunikation und Empathie – und damit auch die Sportpsychologie – immer noch viel zu sehr unterschätzt werden?

Welche Faktoren tragen aus eurer Erfahrung dazu bei, dass Mannschaften abseits der jeweils motorischen oder taktischen Anforderungen funktionieren?

Antwort von Prof. Dr. René Paasch (zum Profil):

Trainer, Spieler und Vereinsmanager müssen sich bewusst machen, dass sie letztendlich nur eine einzige Person führen können und auch müssen. Diese Person sind sie selbst. In der Forschung hat sich gezeigt, dass es sich bei diesen Selbstführungsstrategien um erlernbare kognitive Fähigkeiten und Kompetenzen handelt. Die Selbstführungsstrategien werden unterteilt in ausführende, intrinsisch motivierende und denkbezogene Strategien. Dazu gehören Selbstbeobachtung, Selbstzielsetzung, Selbstbelohnung und Selbstbestrafung sowie Selbsterinnerung (Furtner & Baldegger, 2016; Neck & Houghton, 2006). Eine wirksame Selbstführung ist daher die Basis für den sportlichen Erfolg sowie für eine kontinuierliche Leistungsfähigkeit. Des Weiteren braucht jeder Verein klare Werte und Prinzipien, aus denen eine gemeinsame Vision, ein gemeinsames Ziel abgeleitet werden kann. Erfolgreiche Teams entwickeln daher klare Strukturen, die im entscheidenden Moment Halt und Sicherheit geben.

Spieler haben ein gutes Gespür für die Fähigkeiten ihres Trainers, die Angemessenheit seiner Handlungen und ob er über einen Sinn für Abläufe, Menschen und Umstände sowie über Einfühlungsvermögen verfügt. Davon ist das erfolgreiche Funktionieren von Interaktionen und letztendlich auch der Beziehung zwischen dem Trainer und seiner Spieler abhängig. Deshalb ist Empathie aus meinen bisherigen Erfahrungen eine essenzielle Voraussetzung, damit die Handlungen eines Trainers von Erfolg gekrönt sind und zwischen ihm und seines Spielern eine Basis von reziprokem Verständnis, von Geduld und Akzeptanz herrschen kann. 

Antwort von: Jan van der Koelen (zum Profil):

Der Kern und essenzieller Faktor des Erfolgs im Mannschaftssport ist es, den Teamgeist zu fördern. Systemisch betrachtet gestaltet auf der einen Seite der Trainer des Teams eine gute Atmosphäre, ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl und kreiert dabei eine Siegermentalität. Auf der anderen Seite tragen gleichermaßen hierzu auch die einzelnen Spieler bei, da sie sich in permanenter Wechselwirkung mit dem Trainerteam und untereinander befinden.

Die gemeinsam formulierten Ziele der Mannschaft geben eine Richtung vor und sind im Idealfall noch mit individuellen Zielen der einzelnen Mannschaftsspieler im Einklang, damit eine möglichst intensive intrinsische Motivation erzeugt wird und jeder einzelne im Team sich darüber bewusst ist, dass er für das Gesamtgefüge wichtig ist und etwas zum Gesamterfolg beitragen kann. Durch diesen ausgelösten sportlichen Ehrgeiz kann sich die Mannschaft auf und neben dem Platz gegenseitig motivieren und beflügeln.

Ein maßgeblicher Faktor, dass Mannschaften funktionieren, erfolgreich sind und Widerstände trotzen, ist die positive Kommunikation untereinander. Das gegenseitige motivieren geschieht durch eine positive Konnotation von Spielaktionen und der Aufmerksamkeitsfokussierung auf die gelungenen Aktionen im Spiel. Gleichzeitig ist das informieren über klare Handlungsanleitungen, die positive Leitung, hilfreicher, als ständige Korrekturen und Fehlererkennungen.

Im vergangenen Halbfinalspiel zwischen Madrid und ManCity war zu beobachten, wie insbesondere Marcelo und Kroos, immer wieder an der Seitenlinie standen und im Austausch mit dem Trainer waren, aber auch verbal und klatschend die Mannschaftskameraden auf dem Feld unterstützt haben. Selbiges war bereits bei der EM 2016 eindrucksvoll zu sehen als Portugals Kapitän, Cristiano Ronaldo, vor der Verlängerung verletzt zurück aus der Kabine kam um seinen Mitspielern Mut zu machen, um sie zu motivieren und um seinen Nationaltrainer zu unterstützen, der dies, wie auch Mittwochabend Ancelotti, dankend annahm.

Was den Teamspirit hierbei entfacht ist der Wunsch nach Einflussnahme, Mitwirkung und Mitgestaltung, dass ein menschliches Grundbedürfnis darstellt. Spieler und Mannschaften möchten sich weiterentwickeln, einen Beitrag leisten, etwas prägen und formen und Schaffenskraft einbringen.

Eine funktionierende Mannschaft, in der Spieler die individuellen Ressourcen und Qualitäten des jeweils anderen schätzen und sich gegenseitig vertrauen, erhöht die Wahrscheinlichkeit am Erfolg als ein Team mit herausragenden Einzelspielern.

Zu guter Letzt führt ein stark ausgeprägter Teamgeist auch vermehrt zum Spaß am Sport und einer Stimmung im Team, die entwicklungsfördernd ist.

Ein Schlüssel für den Teamzusammenhalt ist die Kommunikation und die Wahrnehmung eines jeden einzelnen Individuums in der Gruppe. In einer idealen Profi-Sportwelt: Wie sollte sich diese Kommunikation gestalten? Wie viel sollte kommuniziert werden, wer sollte miteinander kommunizieren, wie lässt sich Kommunikation fördern? 

Antwort von Prof. Dr. René Paasch (zum Profil):

Gerade in herausfordernden Spielphasen kommt es darauf an, dass die Spieler erkennen und verstehen, was sie zu tun haben. Diese Inhalte müssen also bereits im Training klar kommuniziert und für alle Beteiligten verständlich vermitteln werden. Nur auf diese Weise kann mit der Zeit ein Lernprozess stattfinden, der im Idealfall zu einer besseren und erfolgreicheren Mannschaftsleistung führt. Wenn die Spieler und der Trainer zum Beispiel erkennen, dass die Leistungsfähigkeit oder die Konzentration im Spielverlauf nachlässt, müssen sie geeignete Lösungen finden. Um dies noch besser zu verdeutlichen, kann die Mannschaft mit dem Trainer bestimmte Vokabeln einführen, die sie zuvor im Training einstudiert haben. So kann zum Beispiel ein bestimmter Name ein Synonym für eine besonders offensive Formation oder ein innerer Auslöser sein. Die Spieler wissen sofort, was gemeint ist und verändern das Spiel und Ihre Einstellung dementsprechend. Das kann bei der gegnerischen Mannschaft zu einer Verwirrung führen und das eigene Team ins Spiel zurückholen. 

Antwort von: Janosch Daul (zum Profil):

Zweifelsfrei stellt die Fähigkeit, funktional innerhalb einer Gruppe zu kommunizieren, eine enorm wichtige Grundlage für das Funktionieren dieser dar. Insbesondere die Trainer als Führungskräfte sollten über kommunikative Kompetenzen verfügen. Entscheidend ist es, die eigene Kommunikation nicht dem Zufall zu überlassen, sondern sich bewusst mit der Macht und Wirkung dieser im Positiven wie im Negativen auseinanderzusetzen und ein Bewusstsein für die Bedeutung dessen, was, wann, wieviel, mit wem und auf welche Art und Weise kommuniziert werden sollte, zu entwickeln. Enorm wichtig ist es, verschiedene Arten von Kommunikation situations- und personenabhängig anwenden zu können. So lässt sich grob zwischen einer inhaltlich-fachlichen und einer emotional-motivationalen Art und Weise der Kommunikation differenzieren.

Die inhaltlich-fachliche Ebene hat zum Ziel, konkrete Inhalte sowie Wissen zu vermitteln, zu erklären, Zusammenhänge aufzuzeigen oder diese interaktiv mit den Spielern zu erarbeiten. Schwerpunktmäßig hiervon geprägt sind Matchplanpräsentationen, Spielanalysen, Videoanalysen, das Detailcoaching im Training, Workshops und auch zahlreiche Einzelgespräche. Mit der Kommunikation auf emotional-motivationaler Art und Weise ist die Absicht verbunden, die Herzen der Spieler zu erreichen, Gefühle zu wecken und Stimmungen zu erzeugen. Typische Beispiele hierfür stellen die emotionale Ansprache kurz vor Spielbeginn, das Antreiben im Spiel, das Fordern im Training, Appelle oder auch das Heißmachen von Einwechselspielern dar.

Zu einer gelungenen Kommunikation innerhalb einer Gruppe gehört zudem eine Feedbackkultur. Dies bedeutet, eine Kultur zu schaffen, in der wechselseitig ehrliche und konstruktiv-lösungsorientierte Rückmeldungen gegeben werden, um Ansichten und Erwartungshaltungen auszudrücken, sich mit jenen der Gegenseite auseinanderzusetzen und somit einen Perspektivwechsel vollziehen zu können, Wertschätzung entgegenzubringen und zur Weiterentwicklung beizutragen. Wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung und Etablierung einer solche Kultur bestehen in einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis, einer passenden Regulation von Nähe und Distanz, die wiederum vom Trainerteam gesteuert werden muss, und einem ausgeprägten Selbstwertgefühl. Feedback sollte als Wachstums- und Lernchance begriffen, die erhaltene Rückmeldung richtig eingeordnet und mit seiner eigenen Wahrnehmung abgeglichen werden, um die für sich passenden Schlüsse daraus ziehen zu können.

Eine entscheidende Leistungsressource stellt zudem die Kommunikation auf dem Feld dar. So lassen sich beispielsweise das emotionale und taktische Coaching zunächst, z.B. workshopbasiert, theoretisch vorbereiten und in Übungs- und Spielformen anschließend praktisch anwenden. Insbesondere die Entwicklung eines Kommandokatalogs und von Geheimcodes auf taktischer Ebene kann dem Team einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil verschaffen. Die Aufnahme von entsprechenden Spielsequenzen und die anschließende Auswertung dieser in der Gruppe dient dabei der Reflexion des Status Quo in punkto Kommunikation. 

Antwort von: Stephan Brauner (zum Profil)

Empathie ist die Voraussetzung. Die Spieler brauchen ein Gespür dafür, was der andere in einer bestimmten Situation braucht. Ein Spieler muss vielleicht aktiviert werden, während ein anderer eher gebremst werden muss, um seine optimale Leistungsfähigkeit zu erreichen. Das muss das Trainerteam im Blick haben, aber genauso auch Spieler und insbesondere Führungsspieler.

Wichtig: mehr kommunizieren ist nicht automatisch besser. Es kommt darauf an, wer wann was braucht. Das kann ich im Training schon vorbereiten. Und ich kann ebenfalls im Vorfeld einen Austausch darüber fördern, was der Einzelne in verschiedenen Situationen braucht.

Liebe Trainer und Führungsspieler, bitte bedenkt auch, dass die Aufnahmekapazität gerade unter Stress reduziert ist. Zu viele Tipps und gut gemeinte Anweisungen können gar nicht mehr sinnvoll verarbeitet werden. Auch hier gilt es im Vorfeld des Wettkampfes gemeinsam zu erarbeiten, wie die Kommunikation gestaltet werden soll, wenn es hoch her geht.

Was können wir für den Fußball und andere Teamsportarten aus dem Finaleinzug von Real Madrid, die im Verlauf der Ko-Phase Paris St. Germain, den FC Chelsea und nun Manchester City geschlagen haben, mit Blick auf die Sportpsychologie lernen?

Antwort von: Stephan Brauner (zum Profil)

Wir können zwei Botschaften aus dem Spiel mitnehmen:

Ich glaube es hat im zweiten CL-Halbfinale nicht zwingend der bessere Fußball gewonnen. Es hat die bessere Mannschaft gewonnen. Es zeigt sich auf wunderbare Weise, dass das Ganze mal wieder mehr ist als die Summe seiner Teile. Es lohnt sich also, in den Erfolgsfaktor Mannschaft zu investieren. Es lohnt sich, in Kommunikation und Zusammenhalt der Mannschaft und des Trainerteams kontinuierlich zu investieren.

(Dabei sind wir Sportpsychologen natürlich gerne behilflich)

Zweitens: Die favorisierte Mannschaft mit den vielleicht besseren Spielern und dem vielleicht auch ausgefuchsteren Spielsystem verliert gegen eine Mannschaft, die über sich hinauswächst, die niemals aufgibt und am Ende das Glück erzwingt. Du hast keine Chance – nutze sie! Das ist die Einstellung, mit der jeder Sportler und jede Mannschaft bestimmt nicht jedes verloren geglaubte Spiel gewinnt. Aber ohne diese Einstellung gehen alle diese Spiele verloren.

Antwort von Prof. Dr. René Paasch (zum Profil):

Als wünschenswertes Ergebnis lässt sich festhalten, dass dem sportpsychologischen Coaching und Training, das kontinuierliche Teamentwicklungstraining, das Selbstmanagement und die Stärkung sozialer Kompetenzen von fast allen Akteuren im Fußball eine große Bedeutung zugesprochen werden, der Kenntnisstand und die Anwendung jedoch äußerst lückenhaft ist. Viele Betreuungen finden nur hinter verschlossenen Türen und fernab der Öffentlichkeit statt – dieser Umstand führt auch dazu, dass einige Spieler und Vereine verunsichert sind. Der Fußball braucht einen Wandel und wir sollten dies mit unterstützen. Mein persönliches Anliegen ist es, die Sportpsychologie im Fußball mehr zu etablieren und zu pflegen. Denn die Möglichkeiten unserer Disziplin werden oft unterschätzt. Dabei sind sie immense Größen für gesundheitlichen, sportlichen und menschlichen Erfolg.

Antwort von: Jan van der Koelen (zum Profil):

Blicken wir auf die KO-Phase von Real Madrid zurück: Aufholjagd gegen Paris Saint-Germain, Aufholjagd gegen den FC Chelsea, Aufholjagd gegen Manchester City.

Doch bei all den gelungenen vorherigen Aufholjagden: Wer hat in der 73. Minute, als Mahrez den Führungstreffer für ManCity erzielt hat, noch an einen Finaleinzug von Real Madrid, den Galaktischen, geglaubt? Einfach unfassbar!

Ich glaube, dass der Fußball, und auch andere Individual- und Teamsportarten, insbesondere lernen können, dass es sich lohnt, in die „mentale Stärke“ zu investieren. Es lohnt sich als Trainer und Mannschaft neben dem anstrengenden Training, Wettkämpfen und privaten Verpflichtungen noch in den Teamgeist zu investieren. Es lohnt sich, sich den eigenen Fähigkeiten und der eigenen Haltung zum Siegen bewusst zu werden. Es lohnt sich, sich mit dem Umgang mit Rückschlägen und dem Herangehen von Herausforderungen zu beschäftigen.

Carlo Ancelotti sagte: „Mein Stil ist es, den Spielern die Möglichkeit zu geben, sich wohlzufühlen“. Der positive, ressourcenorientierte kommunikative Stil und die Miteinbeziehung der Spieler auf Augenhöhe ist ein Faktor des Erfolgs. Ich wünsche dem Sport sehr, dass diese Haltung, den Menschen im Leistungssport zu sehen, noch mehr an Bedeutung gewinnt.

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de