Wer kennt sie noch, die grossen Olympia-Abfahrtstars von 1994 und 1998? Tommy Moe (USA) gewann in Lillehammer, Jean-Luc Crétier (FRA) vier Jahre später in Nagano. Was sie verbindet ist die überraschende Erkenntnis, dass beide Skirennfahrer im Verlaufe ihrer gesamten Weltcup-Karriere nie einen Abfahrtssieg erreichten. Tatsächlich findet sich in den olympischen Downhill-Analen eine Siegerliste, die weitere Champions wie Leonhard Stock (AUT, 1980 Lake Placid) und Antoine Dénériaz (F, 2006 Turin) aufweist. Es waren durchaus glückliche Sieger, aufgrund ihrer sportlichen Klasse aber bestimmt nicht bloss Zufallssieger!
Zum Thema: Wettkampfvorbereitung im Ski Alpin
Im Hinblick auf den kommenden Sonntag kündigt sich auf der Olympiapiste „Rock“ ein ziemlich „offenes Rennen“ an. Wird sich einer der Topfavoriten durchsetzen? Oder ist am Ende der bisher im Weltcup kaum in Erscheinung getretene Spanier Adur Etxezarreta, der in den Trainings mit den Rängen zwei und sieben sensationelle Leistungen bot, ein Siegkandidat? Die bisherigen Trainingsfahrten deuten darauf hin, dass sich die Aufgabe anders präsentiert, als noch vor Wochenfrist auf der Streif oder zuvor am Lauberhorn: Die Ausgangslage ist nämlich für alle identisch! Es handelt sich um eine komplett neue, im Rahmen des Weltcups bisher noch nicht befahrene Abfahrtspiste. Allen Teilnehmern stehen die gleiche Anzahl Trainingsläufe zur Verfügung. Zudem besteht die Unterlage zu 100% aus Kunstschnee. Prognostiziert sind eisige Temperaturen. Wechselnde Windbedingungen scheinen dem ganzen noch den Touch einer Lotterie zu verleihen. Der interessierte Sportpsychologe freut sich an der spannenden Ausgangslage – für alle Beteiligten stellt sich eine noch grössere Herausforderung!
Nehmen wir an, ein Sportpsychologe würde ein Nationalteam der Abfahrer begleiten und stünde den Athleten, Trainern und Serviceleuten zur Seite – welche psychologisch bedeutsamen Komponenten würden sich für eine Intervention anbieten?
Dazu vier (von noch vielen weiteren) Ansatzpunkte:
– Die Vergangenheit lehrt, dass die Gruppe der potentiellen Sieges- und Medaillenkandidaten in dieser Abfahrt grösser ist als im Weltcup. Dies kann sich positiv auf das Zutrauen bei den so genannten „Geheimfavoriten“ auswirken. Hier bietet sich z.B. „jungen Wilden“ die Gelegenheit, den Szenencracks à la Feuz, Mayer und Paris die Suppe zu versalzen. Die Ansage lautet demnach: Wer’s nach Olympia geschafft hat, kann sich den grossen Coup erarbeiten!
– Da nur drei Trainingsfahrten zur Verfügung stehen, muss jeder Athlet daraus seine individuell-optimale Wettkampfvorbereitungsstrategie entwickeln. Diese soll im Hinblick auf den olympischen Showdown zur grösstmöglichen Überzeugung führen, um dann wenn’s zählt, ultraschnell zu sein. Mir gefällt die Aussage von Abfahrts-Olympiasieger Bernhard Russi, der kürzlich in seiner sehr intimen Rückschau auf seine wichtigsten Starts an Olympia sein Vorgehen im Training folgendermassen beschrieben hat: „Ich habe geschaut, dass mir die Abfahrt gefällt. (…) Erst im Training habe ich ein Gefühl entwickelt, dass ich gewinnen kann. In einer Trainingsfahrt musst du es dann austesten. Eine Trainingsbestzeit gibt dir das Vertrauen, nicht weiter nach dem zu suchen, was andere vielleicht noch besser machen“. Oder anders ausgedrückt: Die Denkaufgabe liegt dann bei den Kontrahenten!
– Pre-Race-Routine: Aus meiner Zusammenarbeit mit Weltklasse-Abfahrern weiss ich, wie bedeutsam die präzise mentale (ideomotorische) Repräsentation des Abfahrslaufs ist – insbesondere in der unmittelbaren Vorbereitung am Vorabend des Events und in Verbindung mit einer optimalen Videoanalyse. Ebenso wichtig aber auch: die Idee, dass ich in der Phase grösster Anspannung noch etwas einplanen kann, dass mich Abstand zum bevorstehenden Wettkampf gewinnen und innere Ausgeglichenheit erreichen lässt. Olympiasieger Franz Klammer hat sich am Abend vor seinem grössten sportlichen Triumph mit einem vertrauten Teammitglied auf ein Bier (oder waren es sogar zwei!) in ein Nebenzimmer zurückgezogen!
– Und schliesslich: Das Vertrauen in mein Material! Olympiahoffnung Marco Odermatt ist mit 50 Paar (!) Rennskis nach Peking angereist. Es ist aber exakt DAS Paar Rennskis, das dem Athleten sein ultimativ-passendes Renngefühl geben soll. Dieser entscheidende Vertrauens-Boost will langfristig aufgebaut und mental verankert sein!
Wettkampfglück und Zufall
Und was macht die Windlotterie? Hier verhält es sich ähnlich wie mit der Zufälligkeit eines positiven Corona-Befunds. Vergangene Olympiasieger – siehe Stock, Crétier u.a. – machten es so: Ihr Wettkampfglück war verknüpft mit der Zufälligkeit guter (äusserer) Bedingungen. Aber erst ihre mentale Bereitschaft hat sie siegen lassen!
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