Nur noch Stunden bleiben bis zur Eröffnungsfeier der Olympische Winterspiele 2022. Bis das Feuer feierlich entzündet ist, werden viele Sportler*innen die Anreise nach China und das Einchecken im Olympischen Dorf hinter sich gebracht haben. In die Vorfreude auf das bevorstehende sportliche Karriere-Highlight wird sich ein Gefühl der Erleichterung mischen, es gesund – zumindest Covid-negativ – dorthin geschafft zu haben. Was sich in der Vorbereitung vielfach als chaotisch dargestellt hat und nur mit viel Gelassenheit zu erdulden war, dürfte sich in China vor Ort fortsetzen. Es sind die Spiele der gemischten Gefühle.
Zum Thema: Wie Sportler und Sportlerinnen mit den besonderen Herausforderungen der Winterspiele in Peking umgehen können
Olympische Spiele waren aufgrund ihrer weltumspannenden Ausnahmestellung immer politisch „aufgeladen“, standen im Fokus der Weltöffentlichkeit. Sicherheit und Schutz aller Teilnehmenden stehen zuoberst auf der Prioritätenliste des Organisators. Ich erinnere mich nur allzu gut an damals im Februar 2002 im Flugzeug nach Salt Lake City, als ein Flugmarshal in der letzten Stunde vor der Landung verbot, den Sitz zu verlassen. Es waren dies die Nachwirkungen von 9/11 in Verbindung mit den getroffenen Schutzmassnahmen vor möglichen Terrorangriffen auf die Winterspiele 2002.
Zwei Jahre zuvor war ich auf einer Joggingrunde ausserhalb von Sydney in eine Personenkontrolle geraten. Dort, wo sich die militärischen Special Forces auf ihren Einsatz an den Sommerspielen in Bereitschaft hielten – in einer Truppenstärke, die offensichtlich nicht bloss zur Hai-Abwehr beim Triathlon an selber Stelle stationiert war. In Peking werden nicht Haie oder eine akute Terrorbedrohung für ein mulmiges Gefühl sorgen, sondern der autoritär-diktatorische Stil im Umgang mit der Pandemie, der das Aufkommen olympischer Gefühle im Keim zu ersticken droht.
Sorgen um die emotionale Balance
„Was macht das mit den Athlet*innen? Wie sollen sie mit all diesen Einschränkungen fertig werden?“ CHmedia-Sportredaktor Philipp Zurfluh stellte mir diese Fragen kürzlich in einem längeren Interview (siehe Quellen). In der Zusammenarbeit mit Olympia-Kandidat*innen geht es mir diesbezüglich nicht um die Vermittlung von Rezepten oder „Lehrplätzen“, sondern um die Entwicklung von individuell-passenden Handlungsmöglichkeiten. Was hilft dir, um dich im Umfeld eines bedeutsamen Wettkampfes wohl zu fühlen? Ziehst du dich eher an einen Ort der Ruhe zurück oder magst du Ablenkung, sozialen Kontakt und Aktivitäten im Umfeld der Veranstaltung? Solche Fragen helfen zu ergründen, woraus das olympische Erlebnis der Athlet*Innen – selbst unter dem Diktat der Pandemie-Bekämpfung – letztlich entstehen kann. Punkto „Grundhaltung“ gefällt mir das Statement von Toni Innauer, Skisprung-Olympiasiegers 1980, der in Peking auch als Skisprung-Experte im Einsatz stehen wird: „Ich fahre mit einer selbstverordneten Portion Flexibilität und Abenteuerlust hin.“
Die Angst vor Corona geht um!
Trotz Hochglanz-Fassaden und schönen Bildern aus dem Athlet*innendorf drohen Peking „eigenbrötlerische Spiele“ unter dem Diktat des Selbstschutzes. Dies in völliger Abkehr vom olympischen Credo, wonach sich an den Spielen die Jugend der ganzen Welt trifft und ein gemeinsames Sportfest in Freundschaft feiert! Statt Verbundenheit und Nähe dürften Abschottung und Risikominimierung dominieren. Die Hoffnung bleibt, dass sich die AthletInnen im olympischen Dorf einigermassen frei und unkompliziert bewegen können. Ausserhalb – aber immer noch in der vielzitierten olympischen Blase – ist die Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt. Selbst kürzeste Transfers dürfen anscheinend nicht mehr zu Fuss, sondern ausschliesslich mit motorisierten Shuttles absolviert werden!
Bleibt die grösste Befürchtung, trotz all dieser Vorsichtsmassnahmen am Ende doch positiv getestet und von einer Teilnahme am wichtigsten Wettkampf ausgeschlossen zu werden. Auch hier scheinen individuelle, sehr unterschiedliche Wege zum Ziel zu führen. Snowboarderin, Patricia Kummer, ungeimpft, lebt schon seit mehreren Wochen in Quarantäne. Von Nevin Galmarini, Snowboard-Olympiasieger 2018, wird berichtet, dass er in selbst gewählter Abschottung auf Trainings mit den Teamkolleg*Innen verzichtet hat. Skispringer Simon Ammann setzte auch bei seiner siebten Teilnahme an Olympischen Spiele auf eine sehr frühzeitige Anreise und verzichtete darum auf den letzten Weltcupeinsatz in Willingen. Es ist anzunehmen, dass die Athlet*innen ihre selbstgewählten Präferenzen vor Ort einhalten und ein zuviel an sozialen Kontakten eher vermeiden werden.
Keine Zuschauer – was macht das mit der Leistung?
Wie schon in Tokyo 2021 werden auch in Peking die Wettkämpfe vor leeren Zuschauertribünen stattfinden. Die wenigen zugelassenen delegierten chinesischen Zuschauer lassen wir hier aussen vor. Damit entfällt ein wichtiger Faktor, der in Zeiten vor Corona ein wesentlicher Bestandteil des besonderen olympischen Flairs war. Trotzdem, die Teilnehmer*innen fanden in der Selektionsphase ausreichend Möglichkeiten vor, ihre Leistungsfähigkeit unter Ausschluss des Publikums zu testen. Aus Sicht der Athlet*innen scheint sich – vordergründig – wenig an ihrer Hauptaufgabe zu ändern. Nämlich zum Zeitpunkt X sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, im Wettkampf überzeugt und selbstbewusst zu agieren. Ein Blick in wissenschaftliche Studien zum Zuschauereffekt im Leistungssport dürfte für Trainer*innen trotzdem aufschlussreich sein. So berichtet eine Untersuchung von Heinrich et al. (2021) im Spitzenbereich des Biathlons den überraschenden Befund, wonach die Männer ohne Publikum langsamer laufen. Ihre Kolleginnen dagegen erhöhen unter diesen Voraussetzungen ihr Tempo. Auch bezüglich der Schiessleistung bestehen geschlechtsspezifische Unterschiede, auf die – auch aus Sicht der Angewandten Sportpsychologie – in der Olympiavorbereitung und auch über die Sportart Biathlon hinaus näher eingegangen werden sollte.
Mit politischem Maulkorb gegenüber den Medien?
Gegenteilige Meinungen dürften vorherrschen, wenn es um kritische Fragen in der medial-öffentlichen Darstellung der Spiele geht. Erfrischend Klartext spricht hier der deutsche Alpinchef Wolfgang Maier auf die Frage, wie er sich zur Vergabe der Olympischen Winterspiele nach Peking durch das IOC positioniert? „Du wirst getrieben wie ein Schaf. Du musst alle deine Persönlichkeitsrechte abgeben. Das IOC ist eine Institution, der ich persönlich Null Wertschätzung entgegen bringe.“ Mehr Mitbestimmung durch die Athlet*Innen bei der Vergabe und Durchführung der Olympischer Spiele fordert auch Ex-Skirennfahrer Felix Neureuther (ARD-Sportschau, 30.1.2022). Der Sympathieträger vieler Sportfans setzt sich dezidiert für die Meinungsfreiheit der Spitzensportler*innen ein und hofft, dass auch in China kritische Stimmen zugelassen werden. Skisprung-Experte Toni Innauer gibt sich gewohnt pragmatisch und erachtet es als ratsam, westliche Massstäbe zuhause zu lassen. „Ich hatte bei ähnlichen Reisen immer ein Leitmotiv: Wir müssen uns an die Kultur der Gastgeber anpassen, und nicht umgekehrt. Mir ist bewusst, dass wir extrem abgeschottet sein werden und keinen Eindruck von China bekommen werden. Wir haben uns verpflichtet, nichts von all dem zu besichtigen, was China so interessant und einzigartig macht.“
Sehr gerne gebe ich den Athlet*innen die Idee mit, sich Notizen zu den vielfältigen Erfahrungen und Erlebnissen zu machen, vielleicht sogar ein olympisches Tagebuch zu führen. Aus diesem Fundus lassen sich Nachgang zu den Spielen wichtige Erkenntnisse und sinnvolle Akzente in der Weiterführung der Karriere setzen. Ich persönlich bin gespannt, mit welchen gemischten Gefühlen ich in den kommenden Tagen und Wochen konfrontiert sein werde!
Quellen:
Luzerner Zeitung: «Lasst ihn doch machen» – Sportpsychologe verteidigt Simon Ammann und erklärt Herausforderungen für Athleten in Peking
Online-Version (Link) und pdf-Version (Download-Link) (Freigabe von Luzerner Zeitung):
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S1469029221000613?via%3Dihub
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