Prof. Dr. Oliver Stoll: Schmerzmittelrekorde

Im ersten Jahr seines Streaks hat uns Prof. Dr. Oliver Stoll einmal monatlich mitgenommen, um in einer Blog-Serie über seine Erfahrungen des Täglichlaufens (Link) zu berichten. Über den Jahreswechsel hat er nun sein vierjähriges Jubiläum gefeiert. Dies allein wäre mal wieder einen Text werden gewesen. Umso mehr gilt das, weil der Start in sein fünftes Streakrunning-Jahr zu einer in vielerlei Hinsicht schmerzvollen Erfahrung wurde.

Zum Thema: Der vernünftige Umgang mit Schmerzen im Sport

Gehe ich nun laufen oder doch lieber nicht? Genau das war die Frage am 01. Januar 2022. Am Tag zuvor hatte ich es doch tatsächlich geschafft, vier Jahre lang, jeden Tag (mindestens eine Meile) laufen gewesen zu sein. Diese Frage hätte ich mir nie gestellt, wenn denn alles „normal“ abgelaufen wäre. Silvester war ein Super-Tag. Frauke und ich sind zwischen den Jahren mal schnell nach Nizza geflogen und konnten dort bei 20 Grad, blauem Himmel und Sonnenschein das Jahresende genießen. Ich lieferte also meinen letzten Tag in der bisher vier Jahre lang anhaltenden „Streak-Running-Serie“ ab und das eigentlich für meine Verhältnisse viel zu schnell, aber was soll man denn machen auf diesem Terrain und bei diesen Temperaturen, der Promenade des Anglaise entlang zu laufen. Da fühlt sich ein 5-Minuten Schnitt pro Kilometer einfach nur an wie „fliegen“. 

Problematisch wurde es erst nach diesem Lauf, kurz bevor ich unter die Dusche gehen wollte und mich schnell nach links umdrehte. Da schoss es mir wie ein Blitz in die Lendenwirbelsäule. Ein wirklich übler Schmerz, der es mir kaum erlaubte, mich zu bewegen. Nun gut – die vier Jahre waren ja nun „im Sack“, aber was sollte denn nun passieren, bzw. was sollte ich wohl am nächsten Tag machen? Gehe ich dann laufen oder doch lieber nicht? Die Nacht verlief natürlich mehr oder weniger schmerzhaft und die Entscheidung rückte näher. Zunächst mussten wir zurück, was ich ziemlich gut hinbekommen habe, aber dann zuhause musste es dann entschieden werden. 

Das explizite und das implizite System

Und jetzt wird es „psychologisch“: Wir alle stehen täglich vor mehr oder weniger wichtigen Entscheidungen und erledigen diese in der Regel auch. Dazu nutzen wir zwei verschiedene Informationsverarbeitungssysteme: Zum einen gibt es da das sogenannte explizite System. Dieses ist bewusstseinspflichtig, d.h. wir wägen sehr bewusst das Für und das Wider für eine bestimmte Verhaltensweise ab; wir analysieren Benefit und Aufwand und nehmen auch ggf. ein Handlungsergebnis voraus. Das andere System ist das implizite System. Dieses Informationsverarbeitungssystem funktioniert „automatisch“, ist nicht bewusstseinspflichtig und wir spüren das nur sehr subtil im Sinne eines „Bauchgefühls“. 

Zuhause angekommen, fingen also diese beiden Systeme an, in mir zu arbeiten. Mein Verstand (explizites System) sagte mir „Lass es sein“ und mein Bauchgefühl (also das implizite System) signalisierte mir genau das Gegenteil – „Auf geht`s – die halbe Stunde laufen wird dir gut tun. Die Schmerzen waren natürlich immer noch heftig. Ich stakste durch die Gegend, wie jemand, der einen Stock verschluckt hat, also beschloss ich, etwas zu tun, was mir wahrscheinlich jetzt einen „Shitstorm“ entgegen schlagen lässt. Ich griff also zu Schmerzmitteln, wartete eine halbe Stunde und lief los – mehr schlecht als recht, aber ich lief…..fünf Kilometer weit. Auch der nächste Tag ging nur mit Schmerzmitteln. Ein Zustand, dass war mir klar, der so keiner bleiben durfte. Am darauffolgenden Tag entschied ich mich letztendlich dazu, nur dann laufen zu gehen, wenn ich es ohne Schmerzmittel hinkriege und wieder einen Tag später bin ich das erste mal wieder halbwegs vernünftig laufen gewesen und habe dabei nicht mehr viel vom „Hexenschuss“ gespürt. 

Eine entscheidende Frage

Daraus leitet sich eine wichtige Frage ab: Sport treiben „unter Nutzung von Schmerzmitteln“ – wie sinnvoll ist das? Wie „gesund“ ist das? Und wie sollte man prinzipiell mit einer solchen Situation umgehen? Ganz sicher spielt die subjektive Wichtigkeit einer sportlichen Handlung da eine zentrale Rolle. Wir wissen alle, was in den vielen Umkleidekabinen der ambitionierten Hobbysportlerinnen und -sportlern so passiert – ganz zu schweigen von den Situationen, denen Profi-Sportler*innen ausgesetzt sind. Aber muss sich ein „Täglich-Läufer“ so etwas antun? Hier geht es ja prinzipiell um nichts weiter. Für mich persönlich – und das gebe ich auch gerne zu – ist diese „Serie“ sehr wichtig geworden und es würde mir schwer fallen, den Streak zu beenden. Und ich will jetzt auch nicht schon wieder diese Diskussion um Verhaltenssüchte bemühen, um das erklären zu können oder zu wollen. Was ich aber mit „etwas Abstand“ zum akuten Schmerz und dem damit verbundenen, schwierigen Prozess der Entscheidungsfindung sagen kann, ist die Erkenntnis, dass der Schmerz, nicht laufen zu können, für mich deutlich heftiger war als mit den Schmerzen während des Laufes umgehen zu müssen. 

Ich weiß natürlich auch, dass mein „Bauchgefühl“, also mein implizites Informationsverarbeitungssystem, ganze Arbeit geleistet hat! Der eher subtile Impuls, rausgehen zu wollen, war unglaublich stark und hat mich zu dieser – sicher nicht vernünftigen – Verhaltensweise getrieben. Ob es nun ein Fehler war oder nicht, ist nun ja eher eine unwichtige Frage, denn der Streak steht noch, mir geht es deutlich besser und ich fühle mich heute gut, ausgeglichen und – Ja – auch ein Stück weit stolz, diese Herausforderung bestanden zu haben. Schauen wir mal, was alles noch so im fünften Jahr des „Täglichlaufens“ passieren wird. Es bleibt spannend!

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