Der Sport schreibt komische Geschichten: Beim Weltcup-Slalom in Wengen Mitte Januar feierte der Norweger Lucas Braathen einen berauschenden Sieg. Von Platz 29 fuhr er in einem unglaublichen zweiten Durchgang auf Rang eins. So etwas hatte es in der Geschichte des Slalom-Weltcups noch nicht gegeben. Schon vergangenes Wochenende hatte Braathen für Schlagzeilen gesorgt, als er vor dem Zielhang im Riesenslalom in Adelboden seinen guten Lauf ganz bewusst beendete – vorerst ohne ersichtlichen Grund. Aber mit dem Vorwissen, dass Braathen im letzten Winter genau auf dieser anspruchsvollen Strecke schwer gestürzt ist, hart mit dem Kopf aufprallte, sich eine schwere Knieverletzung zuzog und monatelang ausfiel, verändert sich die Sachlage eindeutig.
Zum Thema: Umgang mit Traumata im Sport
Braathen selbst erklärte seinen Entscheid damit, dass er schon einen Tag vorher viele Zweifel und Unsicherheiten spürte und in der Nacht darum kaum schlafen konnte. Während dem Lauf kamen diese negativen Gedanken alle wieder auf, auch die Bilder vom letztjährigen Unfall waren wieder präsent.
Aus psychologischer Sicht hat er genau die richtige Entscheidung getroffen. Denn Ängste haben in dem Zusammenhang den protektiven Charakter einer Warnlampe, eben «Achtung, Gefahr!». Das signalisiert der Körper dem Kopf. Braathen ist seinem Gefühl gefolgt sowie den Gedanken, die ihn verunsichert haben. Er hat somit viel Stärke bewiesen und sich vor einem weiteren möglichen Sturz geschützt.
Offene Fragen
Die Frage, welche wir uns aus der Perspektive der Sportpsychologie und auch der Psychotherapie dazu stellen müssen ist:
– Wie konnte es soweit kommen, warum war der Athlet mental nicht bereit?
– Was ist in der gesamten Rehabilitations- und Aufbauphase geschehen, dass eine solche Situation entstehen konnte?
Zur Beantwortung braucht es einen kurzen Exkurs in die Theorie der Entstehung von traumatischen Erlebnissen. Welche Situationen für welchen Menschen zu einem Trauma werden, das ist sehr individuell. Die deutsche Traumastiftung definiert ein Trauma wie folgt:
«Ein Trauma (griech.: Wunde) ist ein belastendes Ereignis oder eine Situation, die von der betreffenden Person nicht bewältigt und verarbeitet werden kann. Es ist oft Resultat von Gewalteinwirkung – sowohl physischer wie psychischer Natur. Bildhaft lässt es sich als eine „seelische Wunde“ verstehen.
So wie eine körperliche Verletzung Zeit braucht, um zu verheilen, ist auch ein Trauma eine Verletzung der Seele, die ebenfalls Zeit braucht zum Verheilen.»
Trauma-Symptome
Die Symptome eines Traumas sind mannigfaltig und unterschiedlich ausgeprägt, aber nicht immer für Aussenstehende augenscheinlich und ersichtlich. Traumatisierte Menschen haben zum Beispiel Flashbacks oder Alpträume. Oft leiden sie unter erhöhter Aufregung, Nervosität, Schlaflosigkeit oder Schreckhaftigkeit. Zudem können sie sehr reizbar und ungeduldig sein und oft schlechte Laune haben. Wir beobachten auch Vermeidungsreaktionen, verringerte Emotionalität oder Rückzugstendenzen. Diese Menschen zeigen häufig auch Scham- und Schuldgefühle und ihr Selbstwert ist in der Regel vermindert.
Aber zurück zu Braathens Situation: Sein letztjähriger Sturz war ein traumatisches Ereignis. Seinen Aussagen nach verspürte er typische Symptome wie grosse Nervosität, war sehr unsicher und die Bilder (Erinnerungen) des Unfalls waren noch präsent. Schlafprobleme kommen auch dazu. Das heisst, er spürt die Situation heute noch immer körperlich und zeigt deutliche Stresssymptome.
Die Rolle des Körpergedächtnisses
Das eigentliche Ereignis (hier der letztjährige Sturz von Braathen) ist zwar Vergangenheit, doch der Körper speichert jede Erfahrung im Körpergedächtnis. Dabei friert unser Nervensystem buchstäblich ein und der durch das traumatische Erlebnis erhöhte Spannungszustand (arousal) bleibt bestehen. Menschen denen das passiert, tragen keine Schuld und bleiben aber dem Erleben stecken.
Die Heilung eines Traumas braucht darum spezielles psychotherapeutisches Fachwissen und Erfahrung in der Behandlung solcher Zustände. In der heutigen Traumaforschung gibt es die klare Erkenntnis: Ein Trauma wird im Körper, im Nervensystem gespeichert. Der Prozess der Aufarbeitung ist somit KEIN primär kognitiver, sondern vor allem ein körperlicher. Darüber zu Sprechen bringt somit erwiesenermassen nicht den gewünschten Erfolg.
Braathens Situation:
Lucas Braathens Rehazeit und der Wiedereinstieg in den Wettkampfalltag scheinen physisch gut gelungen zu sein, die Verletzungen geheilt und der physische Aufbau vollzogen. Psychisch aber wurde offenbar zu wenig Augenmerk auf die klassische und fachgerechte Traumaarbeit gelegt und alle Bemühungen scheinen noch nicht genügend gegriffen zu haben. Er hätte in diesem Zustand gar nicht an den Start gehen sollen, weil er keine Strategien hatte, um sein Stresslevel zu kontrollieren und in einen guten Vorwettkampfzustand zu kommen. Mit Vorsicht ist aus meiner Sicht der sportliche Erfolg nur eine Woche nach dem Rennabbruch zu werten.
Wichtig: Diese Beobachtungen erfolgen aus der Aussenperspektive, ohne detaillierte Einblicke in das Team um den Sportler.
Visualisierung als zentrales Mittel
Um ein Trauma und die in uns gespeicherten körperlichen Spannungen zu lösen, brauchen wir den intensiven Kontakt zu unserem Körper mit seinen Körperempfindungen und zu unseren Gefühlen. Nach einer intensiven körperpsychotherapeutischen Behandlung durch einen Psychotherapeuten, gehört es dann zur Aufgabe des Sportpsychologen, mit seinem Wissen den Athleten mental wieder auf das Training und die Wettkämpfe vorzubereiten. Die Schritte return to practice und return to compete lehnen sich dabei an die Rehabilitationsphasen nach physischen Verletzungen an.
Als zentrales Mittel dazu dient die Technik des Visualisierens.
Kritische Frage
Erlauben Sie mir die kritische Frage danach, in welcher Weise Braathen von seinen Trainern und dem gesamten Umfeld auf diese neue Streckenlegung vorbereitet wurde? Hier scheint mir noch einiges an Potential brach zu liegen.
Der innere Film muss in der mentalen Vorbereitung minutiös auf die neue Strecke angepasst werden. Diesbezüglich spielt das Feedback der Trainer, sprich ihre Aussenperspektive für das Fine Tuning vor Ort bei der Streckenbesichtigung und dem Training sowie Videoanalysen zentrale Rollen. Wichtig zu wissen: Das mentale Umlernen erfordert mehr Zeit und Aufwand, weil Altes gelöscht und durch neue kinästhetische Bilder ersetzt werden muss.
Blick nach Peking
Lassen Sie mich hier zum Schluss den Link zu den anstehenden Olympischen Spielen in Peking machen. Aufgrund der zur Zeit höchst schwierigen Situationen und den zahlreichen Einschränkungen durch Covid-19 wird Olympia zur riesigen Herausforderung werden. Die sportlichen Leistungen sind dabei fast das «einfachere» Thema, vielmehr wird die viele Freizeit in der Bubble und im eigenen, kleinen Zimmer zum mentalen Grosskampf werden.
Mentale Vorbereitung, das Visualisieren möglicher Szenarien und gut eingeübte Kopfarbeit werden zentral werden für Erfolge. So sollte vorab, zusammen mit dem Sportpsychologen, die Diskussion darüber geführt werden, was sich seit den letzten Olympischen Spielen geändert hat und welche Herausforderungen im Speziellen in Peking gemeistert werden müssen. Daraus sollte dann der neue, detaillierte und überarbeitete innere Film/Plan einerseits des gesamten Aufenthaltes, andererseits und vor allem aber das neue Drehbuch eines perfekten und erfolgreichen Wettkampfes entstehen. Denn eines wissen wir genau: Visualisieren erhöht die innere Sicherheit signifikant!
Literatur:
https://www.landbote.ch/ein-norweger-irritiert-mit-aufgabe-und-erinnert-an-gut-behrami-393499669610
Views: 242