Marco Henrichs ist ein Grenzgänger: Dies gilt für ihn als Ausdauersportler und Trainer, aber auch für seinen kritischen Umgang mit dem Zeitgeist. Seitdem er 2016 zu einem Mehrkampf im russischen St. Petersburg eingeladen war, engagiert sich der gebürtige Rheinländer nicht nur für einen intensiveren Dialog zwischen Deutschland und Russland, sondern hat auch als Trainer Erfahrungen in einer anderen Sportwelt gesammelt. Genau hier setzen wir in dem Interview an. Wir wollen von Marco Henrichs als vielfacher Ironman Triathlet, Extremschwimmer sowie Schwimm- und Ausdauertrainer, Buchautor und Dozent wissen, wie russische Sportler – platt formuliert – “ticken”? Welche Schwächen er im deutschen Leistungssportsystem sieht und wie er die Erfahrungen aus den beiden Sportwelten für seine Trainingssystematik nutzen kann?
Zum Thema: Die Sportpsychologie im Ausdauersport
Marco Henrichs, welche Rolle spielt der Kopf auf den Ausdauerdistanzen im Schwimmen?
Als ehemaliger langjähriger Triathlet, der später zum Langstreckenschwimmen bzw. Marathonschwimmen gewechselt ist, habe ich den mentalen Unterschied zwischen den Sportdisziplinen zu Land gegenüber denen im Wasser kennengelernt. Die mentale Herausforderung im Freiwasser liegt in erster Linie in der Monotonie. Ein Langstreckenschwimmer bekommt beispielsweise keine Zuschauer mit, die ihn bei einem Leistungstief pushen können. Des Weiteren gibt einem die mangelnde Abwechslung im Freiwasser, gegenüber beispielsweise einem Stadtmarathon eher das Gefühl, das Strecken gefühlt unendlich wirken. Oder jedes Zwicken in der Muskulatur löst, im Vergleich zu den Ausdauerdisziplinen zu Land, schneller mal ein „Kopfkino“ oder Selbstzweifel aus, vorzeitig scheitern zu können.
Gab es in deiner Zeit als Aktiver einen Moment, in dem du selbst über eine mentale Hürden gestolpert bist?
Neben vieler dieser Momente war dieses stolpern über einer Leistungshürde am eindeutigsten bei einem 26,6km Schwimm-Marathon in Russland. Mein persönliches Ziel war es dort, eine neue Jahres-Streckenbestzeit zu schwimmen. Ich selbst bin ohne Uhr geschwommen, da es für mich unnötigen Stress hätte verursachen können.
Mit dem Team in meinem Begleitboot war ich vorab so verblieben: Sollte ich ca. drei Kilometer vor dem Ziel eine realistische Chance auf diese Bestzeit haben, sollen sie mir ein vereinbartes Signal geben.
Ca. fünf km vor dem Ziel wurden meine Gedanken immer präsenter, aufzugeben. Ich war zu dem Zeitpunkt sechs Stunden in 14°C kalten Wasser und mittlerweile stark unterkühlt. Zudem ging mir die Power aus, da ich die erste Hälfte etwas zu schnell angegangen war.
Zufälligerweise in den Minuten, wo ich gedanklich im Begriff war, entkräftet aufzugeben, hat mir das Beiboot das vereinbarte Signal gegeben, das ich auf Bestzeitkurs bin. Da habe ich sprichwörtlich Blut geleckt und nochmals restlos alles rausgehauen – mit Erfolg. Auch dieser Moment hat mir gezeigt, selbst wenn du als Sportler platt und leer bist, gibt es tief in einem Reserven, die dennoch zum Sieg führen können.
Die Konsequenz war jedoch direkt im Anschluss ein Aufenthalt auf einer Intensivstation eines Sankt Petersburger Krankenhaus. Im Nachhinein werte ich mein „Durchhalten“ eher kritisch, da es durchaus hätte auch tödlich ausgehen können. Heute sehe ich es eher so: Wenn die Gesundheit auf dem Spiel steht, ist ein DNF (did not finish) natürlich immer eine Option.
Du hast beruflich viele Jahre in Russland verbracht. Welchen Stellenwert hat dort die Sportpsychologie und welche Unterschiede siehst du zwischen Athleten aus dem russischen und deutschen Spitzensportsystem hinsichtlicher mentaler Aspekte?
Egal ob Sportwissenschaft oder Sportpsychologie, ist der Sport in der Russischen Föderation vom Knowhow mindestens ebenbürtig. Wobei die Hemmschwelle einen Sportpsychologen aufzusuchen, in Russland höher als die in Deutschland ist. Den Menschen in Russland, egal ob Sportler oder nicht, ist es sehr wichtig das Gesicht zu bewahren und keine Schwächen zu zeigen. Ein Besuch bei einem (Sport)Psychologen wird dort eher als Schwäche angesehen.
Einen Unterschied bei den russischen Sportlerinnen und Sportlern gegenüber dem deutschen Leistungssport oder auch Breitensport, habe ich in erster Linie im Ehrgeiz, in der Disziplin und der Willenskraft beobachtet. Was nicht heißt, das es nicht auch in Deutschland Sportlerinnen und Sportler gibt, die alles für den Erfolg geben. Jedoch erkenne ich im Durchschnitt gegenüber dem russischen Sport einen deutlichen Unterschied.
In Deutschland wird bei Trainern zudem zu viel hinterfragt oder ein Trainer zu schnell in Frage gestellt. Eltern haben zunehmend Mitspracherecht und die Härte und Disziplin im Training und Wettkampf lässt immer mehr nach. Es zählt zunehmend das Minimalprinzip, um erfolgreich zu sein. Das funktioniert vielleicht bei dubiosen Bankgeschäften oder in der Immobilienbranche. Im Sport, erst recht im Leistungssport, geht diese Rechnung nicht auf.
Das Ergebnis dieser Negativentwicklung im deutschen Sport haben wir mit einem Platz neun im Medaillenspiegel bei den jüngsten Olympischen Spielen gesehen. Eigentlich sollte diese Negativentwicklung den DOSB wachrütteln. Das setzt jedoch voraus, die Probleme offen beim Namen zu nennen. Dass viel benutzte Argument oder besser gesagt Ausrede, dieser Misserfolg gehe auf eine mangelhafte Sportförderung zurück, lasse ich persönlich nicht gelten. Die meisten Länder, die im Medaillenspiegel vor uns gewesen sind, haben eine weitaus schlechtere Sportförderung mit schlechteren Trainingsbedingungen. Die Hauptursache der Negativentwicklung im deutschen Sport sehe ich insgesamt in der Einstellung zum Sport.
Zur Person: Marco Henrichs
Von 2017 bis 2020 habe ich als RUS Schwimmtrainer einer großen Schwimmliga in der Wolgaregion in der Russischen Föderation repräsentiert. Neben meinem Trainerdasein mit Schwerpunkt Langstreckenschwimmen und Freistil war auch der Bereich Athletik- und Ausdauertraining ein Schwerpunkt, um sportartenübergreifend mit Athletinnen und Athleten und Mannschaften zu arbeiten. Seit 2019 arbeite ich eng mit dem olympischen Komitee in Moskau zusammen, um die bilateralen Beziehungen im Sport zwischen Deutschland und dem der Russischen Föderation zu verbessern. Dabei geht es um den Spitzensport, Jugendsport, Behindertensport und Breitensport. Sei es auf der Athletenebene wie auch auf der Trainer und Wissensebene. Beiderseits ist dort viel Potential, um voneinander zu profitieren. Zudem trainiere ich in Deutschland viele (Profi)triathleten und Schwimmer mit Schwerpunkt Langstrecken und Freiwasserschwimmen. Unser Lebensmittelpunkt ist mittlerweile von Moskau ins Rheinland in den Kölner Raum verlegt. Mehr Infos: www.h2o-bloxx.com
Doch zurück zum russischen Sport: Ein weiterer wichtiger mentaler Katalysator ist der Stolz. Russische Sportlerinnen und Sportler zehren viel positive Energie und Motivation daraus, den Trainer, die Mannschaft, den Verband oder die Nation stolz machen zu wollen. Ein Misserfolg gilt da schnell als Gesichtsverlust. In Deutschland ist der Begriff Stolz dagegen ein eher schwieriges Thema. Ein Urteil nur mit neutraler Fahne zu starten, wäre vielen Sportlerinnen und Sportler in Deutschland nahezu gleichgültig. In Russland dagegen gleicht das fast schon einer Höchststrafe.
Wie profitierst du selbst als Trainer von diesen Erfahrungen und über welche Wege hast du dir in deiner Laufbahn sportpsychologisches Wissen angeeignet?
Zunächst sehe ich mich nicht als Motivator oder gar als Sportpsychologe. Aber da, wo viele Trainer in der Vergangenheit gescheitert sind, haben Athletinnen und Athleten dank meiner Trainerleistung und meiner Motivationsimpulse bessere Leistungen erzielt. Fachleute würden vielleicht sagen, durch Aspekte der Sportpsychologie. Ich sehe es eher als Fingerspitzengefühl, die richtigen Worte zur richtigen Zeit zu sagen, um Athleten aus ihrem Leistungstief zu holen oder sie dabei zu unterstützen, dass sie von jetzt auf gleich Bestleistungen erzielen. Ein wichtiger Faktor ist dafür eine maximale Konzentration.
Denn Trainings- oder Wettkampfhöchstleistungen sind nur dann möglich, wenn man sich neben der persönlichen Performance zu 100% auf die jeweiligen Schwerpunkte konzentriert. Sei es bei einem Bewegungsablauf in einer eher technisch geprägten Sportart oder beim Sprinten, die vollste Konzentration auf eine maximale Frequenz zu legen. Im russischen Sport habe ich es täglich erlebt, dass dort immer und immer wieder darauf gepocht wird. Das lebe ich auch heute mit meinen Athletinnen und Athleten sowie Mannschaften, die ich trainiere. Nach meiner Erfahrung ist das die größte Stellschraube, um bei den meisten Athletinnen und Athleten schlagartig ein Optimum zu erzielen.
Ausdauersportler machen ja vieles mit sich selbst aus. An welchen Beobachtungen und Gedanken können Sportler und Sportlerinnen ableiten, dass eine Kontaktaufnahme zu einer Sportpsychologin oder einem Sportpsychologen erfolgversprechend sein könnte?
Diese Beobachtungen oder Gedanken können vielseitig sein. Bei einem andauernden Leistungstief oder bei negativen Reaktionen auf zu großen Leistungsdruck beispielsweise, kann ein Sportpsychologe durchaus hilfreich sein, eine Situation mit anderen Augen zu sehen. Einen Blickwinkel anzusetzen, den ein Sportler vielleicht längst aus den Augen verloren hat. Wenn sich Sportlerinnen und Sportler in einem Leistungstief befinden, kann das verschiedene Ursachen haben. Eine mangelnde Trainingsstruktur oder falsch gesetzte Ziele sind nach meiner Erfahrung die häufigsten Ursachen, warum es zu einem Scheitern im Sport kommt. Da dieser Prozess schleichend kommt, ist es leider zu häufig, dass Sportler diese Fehlentwicklung nicht selbst erkennen. Ein Sportpsychologe kann dann durchaus helfen und sprichwörtlich die Augen öffnen.
Welche Rolle kommt einem Sportpsychologen oder einer Sportpsychologin auf menschlicher Seite zu? Dies gerade in Bezug auf die andere Leistungssportkultur, die du in Russland erlebt hast. Letztlich sehen sich viele SportpsychologInnen nicht zuletzt als Anwälte ihre SportlerInnen, was sicher in einer eher autokratischen Trainer-Athleten-Beziehung besondere Herausforderungen birgt?
Zunächst sollte ein Sportpsychologe oder eine Sportpsychologin ein guter Zuhörer sein und Empathie und Einfühlungsvermögen besitzen. Das menschliche zwischen Athlet und Trainer ist jedoch im Durchschnitt bzw. in der Breite in Russland eher distanzierter und auch kühler. Dabei würde ich jetzt nicht werten, ob das nun gut oder eher schlechter ist. Ich unterscheide da auch zwischen Kindern und Erwachsenen. Gerade im Kindesalter ist es einerseits wichtig, Disziplin vermittelt zu bekommen, aber mindestens genauso wichtig, dass die Trainer es verstehen, diese Disziplin auf Augenhöhe und mit Empathie zu vermitteln. Wenn wir jedoch in den Spitzensport gehen, landen wir häufig bei einem Zerrbild von russische Erfolgen, die mit mentaler Härte, aber ohne mentale Hilfe und mir harter Tonart zustande gekommen sind.
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