Kürzlich bin ich über einen aufwühlenden Text in der NZZ am Sonntag (17.4.2021) gestolpert. Darin schildert der bekannte Schweizer Radrennfahrer Silvan Dillier das harte Leben im Profi-Radrennsport. Angesichts der hohen Leistungsanforderungen und dem erheblichen Erwartungsdruck in dieser kommerzialisierten und mediatisierten Sportart erstaunt es wenig, wie sehr die Hauptakteure den Leidensdruck erdulden, welchen Schaden ihre mentale Gesundheit dabei nehmen kann. Umso mehr überrascht die Einschätzung des Sportlers, wonach mentale Probleme grundsätzlich tabuisiert sind. Aus Sicht der Sportpsychologie stellt sich die Frage hinsichtlich der Entstigmatisierung psychischer Leiden im Spitzensport: Wenn nicht jetzt, wann dann?
Zum Thema: Psychische Gesundheit und die veränderte Rolle der Sportpsychologie
Mein persönlicher Bezug zum Radsport ist ambivalent. Einerseits bin ich begeistert von der Leidens- und Leistungsfähigkeit ihrer Protagonist*innen. Die beinahe epischen Rennverläufe an der Tour de France finde ich faszinierend. Aus eigener Erfahrung weiss ich um die besondere Gefühlslage, nach 200km im Sattel und mehreren Tausend überwundener Höhenmeter über eine Ziellinie zu rollen. Ich verstehe Silvan Dillier wenn er sagt: „Radprofi zu sein, gilt vielen als Traum. In der Realität ist es wahnsinnig hart.“
In meiner beruflichen Realität als Sportpsychologe mied ich den Kontakt zum Radsport über viele Jahre. Es war die Zeit des ewigen Dopingsumpfs und erschüttender Skandale. Einmal – es war Mitte der 90er Jahre – machte ich eine Ausnahme und betreute einen damals sehr jungen und sehr erfolgreichen Radsportler. Mit dem Wechsel in die Elitekategorie verschwand er in den Niederungen der Ranglisten. Mit knapp 22 Jahren beendete er seine Karriere vorzeitig mit dem Hinweis, dass alle Top-Leute seiner Kategorie „geladen“ – sprich: gedopt – wären. Er sollte Recht bekommen, sämtliche seiner damals erfolgreicheren „Widersacher“ wurden in den Folgejahren des Dopings überführt.
Die Welt von Strava-Bestzeiten und Wattzahlen
Schon damals fiel mir auf, was Silvan Dillier in seinen Aussagen heute noch spiegelt. Damals wie heute dreht sich im Betreuungsumfeld der Teams alles um Wattzahlen, Ernährung, Sitzposition, Höhentraining, Pulskontrolle, Sauerstoffsättigung und sportmedizinische Tests. Als ich vor zwei Jahren wieder vermehrt Einblick in die Arbeit eines World Pro-Teams erhielt, offenbarten sich mir die gleichen systemrelevanten Rahmenbedingungen. Sportmediziner und –wissenschaftler der Teams überwachen weiterhin die Strava-Bestzeiten und Wattrekorde. Um die Befindlichkeit der oftmals sehr jungen Athlet*innen kümmert sich im Team indes niemand. Noch schwerwiegender dürfte sich die Stigmatisierung psychischer Probleme in der Radsportszene auswirken.
Auf die Tabuisierung angesprochen meint Dillier: „Das würde voraussetzen, Schwächen einzugestehen, Zweifel an der eigenen Leistung zu äussern. (…) Viele versuchen, mentale Schwächen auszublenden, indem sie sich einreden, sie hätten mit solchen Themen gar nichts am Hut. (…) Sie müssten sich eingestehen, dass mentale Probleme normal sind und über Sieg oder Niederlage entscheiden. Aber sie sind nicht ehrlich zu sich selbst.“
Corona als Chance – Themen jetzt ansprechen!
Es scheint, als würde sich im Radsport der Mythos des „eisernen Modellathleten“, der sich keine mentalen Schwächen eingestehen darf, standhaft halten. Vielleicht aber – und dies könnte ironischerweise auch der aktuellen Corona-Krisenzeit geschuldet sein – entwickelt sich in vielen Sportarten ein veränderter Diskussionsrahmen, der den psychischen Bedürfnissen der Sportler*innen mehr Bedeutung und Beachtung schenkt. Wie wichtig dieser bewusste Umgang ist, verdeutlicht das Beispiel des Schweizer Kunstturners Oliver Hegi, der seinen überraschenden Entscheid zum Rücktritt vom Spitzensport in diesen besonderen Kontext stellt: „Die noch anhaltende Pandemie sowie die Unsicherheit und das Risiko, welches sie bezüglich meines Physikstudiums birgt, ist ein Grund. Der ausschlaggebende Punkt war aber ein Wertewandel in den letzten Monaten.“ (gymedia.de).
Der Hinweis des Reck-Europameisters auf den wahrgenommenen Wertewandels lässt den Schluss zu, dass viele Sportler*innen aktuell über die Sinnhaftigkeit ihres Engagements im Leistungs- und Spitzensport nachdenken. Aus Sicht der Sportpsychologie eröffnet sich die Chance, Themen wie psychische Gesundheit im Kontext des Spitzensports, die eigene Motivation für eine Spitzensportkarriere oder die Akzentuierung des Handlungsspielraums im Übergang in eine nachsportliche Karriere – frei von Tabus und Schamgefühlen – zu diskutieren. In welcher Art und Weise eine solche Standortbestimmung ausfallen könnte, skizzieren die Guidelines, welche die Europäische Vereinigung der Sportpsychologie FEPSAC kürzlich veröffentlicht hat.
Vier Handlungsfelder für aus Sicht der Angewandten Sportpsychologie
Bezugnehmend auf den oben angesprochenen, auch durch die Pandemie veränderten Diskussionsrahmen erkenne ich mindestens vier bedeutsame Entwicklungsrichtungen.
1) Die Trainer*innen für diese Anliegen gewinnen: Die verantwortlichen Trainer*innen sind auch in dieser Thematik die primären Ansprech- und Vertrauenspersonen für die Athlet*innen. Sie gilt es in diesem Bereich zu unterstützen, zu informieren und gegebenenfalls auch zu entlasten. Das Beispiel von Silvan Dillier zeigt zudem, das fachspezifische Unterstützung seitens der Sportpsychologie einerseits von Athlet*innen aktiv gesucht, andererseits auf auch zugänglich gemacht werden muss.
2) Positionierung der Sportpsychologie: Die vielfältigen und teilweise auch dramatischen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit junger Menschen hat die Bedeutung der psychischen Gesundheit akzentuiert. Die gestiegene Akzeptanz für psychologische Hilfestellungen zeigt sich u.a. darin, dass vermehrt auch staatliche Unterstützung gefordert wird, um psychischer Not im Spitzensport auch präventiv entgegenzuwirken. (Link: Watson) Ein indisziplinäres Vorgehen, insbesondere in Kooperation mit der Sportmedizin, wäre hierzu angezeigt.
3) Kompetenzerweiterung der Sportpsychologie im Bereich psychischer Gesundheit im Spitzensport: Die aktuellen Entwicklungen im Spitzensport bedingen eine verstärkte Berücksichtigung zentraler Aspekte der psychischen Gesundheit. Wohlbefinden, Zufriedenheit, intrinsische Motivation und Selbstwirksamkeit sind bedeutsame psychologische Aspekte einer erfolgreichen sportlichen Karriere und gehören ins Betreuungsrepertoire der Angewandten Sportpsychologie.
4) Komplexität des Spitzensports erfordert ein tragfähiges Netzwerk im Betreuungsumfeld der Athlet*innen: Den insgesamt gestiegenen Anforderungen im internationalen Leistungssport muss auch hinsichtlich der Professionalisierung im Umfeld des Spitzensportlers Rechnung getragen werden. In welche Richtung eine solche Netzwerkunterstützung gehen kann, lässt sich an der 2020 gegründeten Sportler*innen-Community-Organisation Sportlifeone erkennen. (Link zur Seite von Sportlifeone https://sportlifeone.ch)
Quellen:
Stambulova, N.B., Schinke, R.J., Lavallee, D. & Wylleman, P. (2020). The COVID-19 pandemic and Olympic/Paralympic athletes’ developmental challenges and possibilities in times of a global crisis-transition, International Journal of Sport and Exercise Psychology, DOI: 10.1080/1612197X.2020.1810865
https://www.gymmedia.de/Geraetturnen/EX-Reck-Europameister-Oliver-Hegi-erklaert-Ruecktritt
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