Lisa König: Heim-WM ohne Heim-Vorteil? Was passiert, wenn die „Schulterklopfer“ wegfallen?

Am Dienstag startet in Oberstdorf im Allgäu die Nordische Ski WM. Zwölf Tage lang kämpfen dann die Langläufer*innen, Skispringer*innen und Nordischen Kombinierer*innen darum, ihren Traum einer Weltmeisterschaftsmedaille zu erfüllen. Zum dritten Mal nach 1987 und 2005 wird das Großevent auf diesen Strecken ausgetragen, aber natürlich: 2021 ist alles ein bisschen anders. Insbesondere für die Sportler*innen, wie uns ein Trainer im Interview verrät.

Zum Thema: Umgang mit Vor- und Nachteilen von “Geisterwettkämpfen”

Ich möchte einen kleinen, sportpsychologischen Einblick geben, was es bedeutet, ohne Zuschauer auf den Heimstrecken zu laufen und wie die Pandemie den Alltag der Sportler und Trainer beeinflusst. Dazu habe ich Erik Schneider, Disziplintrainer der deutschen Langläuferinnen, ein paar Fragen gestellt. Seine Aussagen habe ich aus sportpsychologischer Perspektive eingeordnet. 

Erik Schneider, gibt es Herausforderungen mit denen man klarkommen muss, die es bei einer „normalen“ WM nicht gibt?

Erik Schneider: „Die Herausforderungen in diesem Jahr sind hauptsächlich Covid-19-geprägt. Tagesabläufe richten sich nicht nur nach Wettkampfterminen. Tägliche Covid-19-Testungen fordern das Setzen der Schwerpunkte immer wieder aufs Neue; man muss den Fokus zu halten.

Durch die Pandemie bedingt ist das aber vielleicht der Ersatz für ansonsten gesteigertes Medien-, Sponsoren- oder Funktionärsinteresse und die täglichen Termine.“

Den Fokus zu halten, ist gerade bei solchen Großevents mit mehreren Rennen in kurzer Zeit eine entscheidende Aufgabe. Durch die unerlässlichen, täglichen Tests erfahren vor allem die Sportler*innen zusätzlichen Stress. Was, wenn der Test positiv ausfällt? Was, wenn ich in Quarantäne muss und nicht mehr starten kann? Was, wenn ich meine Wettkampfvorbereitung ändern muss, weil ich später wieder zum Test muss? All das sind Dinge, die Stress verursachen und Energie rauben, die eigentlich für die Rennen gebraucht wird. Aber es sind auch Dinge, auf die sie letztendlich keinen Einfluss haben. Hier gilt es, das Gedankenkreisen und Sorgenmachen in den Griff zu bekommen, den Fokus neu auszurichten und sich auf das zu konzentrieren, was in der eigenen Macht liegt: die Einstellung gegenüber diesen Herausforderungen!

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2018 hatten wir Erik Schneider zu einem Interview getroffen. In dem Ausschnitt äußert er sich zur Bedeutung der Sportpsychologie im Langlauf.

Ihr habt mehr auf den Oberstdorfer Strecken trainiert als andere Nationen. Was hat das für Vor- und Nachteile?

Erik Schneider: „Überwiegend Vorteile. Vor allem die sich andeutenden „Frühlings“-Bedingungen hatten wir bereits zu den DM-Rennen im vergangenen Jahr. Daher sollte es uns gelingen, diese besser zu beherrschen und die entscheidenden Schlüsselstellen, wie Zieleinlauf und Finale Burgstall, auch taktisch besser angehen zu können. Da wir regelmäßig, aber nicht übertrieben oft vor Ort waren, glauben wir, dass sich noch keine Routinen eingestellt haben, die ein Nachteil sein könnten. Hinzu kommt, dass sich durch den Umbau im vergangenen Jahr der Charakter zu früher ohnehin geändert hat. Wir bereiten uns jetzt seit drei Jahren gezielt auf das Event vor. Durch die Nähe checkt man das Umfeld genauer, trainiert auf Laufband-Profilen, welche die Strecken imitieren und versucht, das gesamte Umfeld mit in die Situation einzubeziehen.“

Die Vorbereitung ist oftmals das A und O. Hier ist es wichtig, Vorteile wie die Nähe und das Wissen zu den Strecken und dem Umfeld aktiv zu nutzen. Durch Visualisierung des Streckenprofils kann zum Beispiel an der Renneinteilung und -taktik gefeilt werden. Durch das vertraute Umfeld können Wege und mögliche Umwege besser eingeschätzt werden, um in der WM-Woche den Ablauf zu optimieren. Routinen sind in mancher Hinsicht gar nicht schlecht. Wenn sich jedoch Änderungen ergeben, muss man darauf reagieren können und einen Plan B in der Hinterhand haben. Bei weniger eingespielten Routinen ist es oft leichter, sich an Veränderungen anzupassen.

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Erik Schneider im Jahr 2018 über die Trainerrolle.

Was spielt der Faktor “keine Zuschauer*innen” für eine Rolle?

Erik Schneider: „Motivational fehlen sie uns als wichtigster Teil des „Heimspiels“. Emotional gehen uns die „Family & Friends“-Momente, die bei der WM im eigenen Land den besonderen Reiz ausmachen, auch ab. Strukturell wird uns mittel- und langfristig der beabsichtigte Schub für das System (Euphorie, Begeisterung für den Skisport, Nachwuchsgewinnung) abgehen. Rational betrachtet nimmt das Fehlen hunderter „Schulterklopfer“ vor und nach den Rennen aber eine Menge Druck und spart über die WM-Tage viel Energie für die „Hauptaufgabe“, die Wettkampf-Performance.“

Das klingt nach mehr Nach- als Vorteilen. Dass der besondere Aspekt einer Heim-WM wegfällt, kann für viele motivational und emotional herausfordernd sein, wie Erik Schneider sagt. Auch die Begeisterung, die das Event in der Region und im Sport entfachen sollte, fällt wahrscheinlich weniger groß aus.

Die Situation allerdings als Chance zu sehen und einen Perspektivwechsel vorzunehmen, ist wichtig! Wenn die gutgemeinten „Schulterklopfer“ und Gespräche mit Helfern und Zuschauern wegfallen, fällt auch eine weitere Ablenkung weg. Man ist abgeschirmter vom direkten Druck, den solche Situationen aufbauen können. Die Sportler haben die letzten Monate „geübt“ und wissen wie es ist, ohne Zuschauer zu laufen, es ist also keine komplett ungewohnte Sache.

Das Beste aus der Situation herausholen

Fakt ist, keiner hat Einfluss auf die Situation, weder auf die täglichen Testungen, noch auf die fehlenden Zuschauer oder auf die Strecken. Auf was die Athleten Einfluss haben, ist ihre Einstellung zu der herausfordernden Situation! Es gilt also, diese zu akzeptieren, zu relativieren und das zu tun, was im Rahmen der eigenen Möglichkeiten liegt. Laut Erik Schneider ist die inhaltliche Vorbereitung für die deutschen Skilangläufer*innen abgeschlossen, jetzt heißt es, sie „in ihrem Tun zu bestärken und ihnen Sicherheit zu vermitteln“.

Es wird sich zeigen, welche Teams am besten mit den Bedingungen umgehen können. Danke an Erik Schneider für die Zeit und Einblicke und viel Erfolg bei den Wettkämpfen.

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Lisa König
Lisa König

Sportarten: Wintersport, Basketball, Volleyball, American Football, Golf, Fußball, etc.

Halle/Saale, Deutschland

+49 (0)162 8212156

E-Mail-Anfrage an l.koenig@die-sportpsychologen.de