Im November 2020 bestreitet die deutsche Fußball-Nationalmannschaft drei Partien. Vor nicht allzu langer Zeit wären der Freundschaftskick und die beiden Pflichtspiele kleine Festtage gewesen; Pflichttermine für Fußballfans. Im Spätherbst 2020 liegt aber eine bleierne Schwere über der Nationalmannschaft, die über so viele Jahre so viel Freude gemacht hat. DFB-Sportdirektor Oliver Bierhoff spricht von einer dunklen Wolke über dem Team. Aus meiner Sicht ist die emotionale Entfremdung, die gegenüber der Nationalelf deutlicher als bei manchen Bundesliga-Clubs zu Tage tritt, nur ein Symptom für eine größere Fehlentwicklung. Wir alle – aber vor allem Entscheidungsträger in Vereinen, Verbänden und Nachwuchsleistungszentren – müssen beherzt umsteuern. Am besten jetzt.
Zum Thema: Wo Veränderungen im Fußball stattfinden müssen
Ich lebe in Gelsenkirchen-Erle. Und hier bemerke ich seit einigen Jahren einige positive Anzeichen: Vereine tun sich zusammen, kooperieren im sportlichen Sinn, um zum Beispiel Fort- und Weiterbildungen für Eltern, Trainer und Spieler anbieten zu können. Kollegen aus meinem Netzwerk (zu unseren Angeboten) und ich dürfen dann dort konkret über Veränderungsansätze sprechen und Ideen geben. Das ist großartig! Vor zehn Jahren wäre es noch schwer denkbar gewesen, dass konkurrierende Vereine dies gemeinsam unterstützen. Wenn man erst einmal danach zu suchen beginnt, wird man viele solcher Beispiele in ganz Deutschland finden. Euphorisch ausgedrückt: Da ist eine Revolution im Gange, die von einzelnen Vereinsvertretern losgetreten wird. Es ist keine Transformation, die von oben nach unten eingeleitet wird. So wie wir das immer erwarten, wenn wir es uns einfach machen. Stattdessen kann ein nachhaltiger Veränderungsprozess nur von unten durch jeden Einzelnen von uns in Gang kommen, indem wir uns gemeinsam auf den Weg machen!
Am besten man zeigt anderen, wie gut es einem selbst damit geht. Wenn wir etwas Attraktives ausstrahlen, sagen alle anderen um ihn herum: „Das hätte ich auch gerne!” Oder: “Diesem Verein möchte ich angehören“. Vielleicht auch: “Damit kann ich mich voll identifizieren, da will ich mit allem, was ich habe, dabei sein.”
Konkrete Ansätze
In den Vorträgen machen meine Kollegen und ich dann Vorschläge wie keine Selektion mehr vorzunehmen, wir fordern eine offene Gesprächskultur ein, fehlende Spielzeit auszugleichen bzw. besser abzuschaffen und Ignoranz aktiv zu verhindern! Wir ermuntern, immer diesen offenen, freien Blick einzunehmen, keine Angst mehr zu verbreiten, immer das Gefühl zu geben, dass jeder Einzelne selbst der Gestalter seines sportlichen Lebens ist. Und wir machen klar, dass wir keine Opfer der Leistungsoptimierung und Erfolge mehr produzieren dürfen.
In einigen Vereinen gibt es seit Jahren Menschen mit einer derartigen Einstellung und damit unausweichlichen Attraktivität. Man nennt dies gern auch Charisma. Fragt diese ruhig beim nächsten Aufeinandertreffen, wie sie das machen. Viele von euch sind ja tatsächlich auf der Suche nach Veränderung im deutschen Fußball. Das ist das Neue an dieser Entwicklung. Sie kann nicht allein durch größere Organisationen umgesetzt werden, sondern nur durch die Menschen in den Vereinen. Wir finden überall im Land kleine Vereine, die sich gerade auf den Weg machen.
Wissen konsequent teilen
Was uns im deutschen Fußball so viel Wissen, Erkenntnis und Entwicklung ermöglicht hat, war der Umstand, dass Menschen ihr Wissen und Können seit jeher miteinander austauschen. Wenn ein jeder aber sein Wissen vor den anderen versteckt, kommt das System in Schieflage. In den vergangenen Jahren hat sich eine solche Kultur etabliert. Wie viele Profi-Vereine haben große Zäune um ihre Trainingsplätze gebaut – auch um die der Nachwuchsleistungszentren? Warum wird es uns als Erfolg verkauft, dass einzelne Trainings des Nationalteams wieder verstärkt öffentlich stattfinden? Ist es für das System wirklich gesund, dass kleine Fußballfans denken, ihre Idole seien von einem anderen Stern und nicht – zumindest ein bisschen – aus dem gleichen Holz wie sie?
Wir müssen konsequent dahin zurück, dass Wissen miteinander geteilt wird. Einer findet etwas und die anderen überprüfen und übernehmen das, wenn es gut ist. Die höchste Form dieser Art von Austauschprozessen entsteht immer dann, wenn gemeinsam nach einer Lösung gesucht wird. Was gefunden wird, ist mehr als das, was sich ein Einzelner ausdenken könnte. Diese gemeinsame Suche nach Lösungen heißen Verbundenheit, Menschlichkeit und Loyalität, an der jeder als Individuum beteiligt ist, die praktische Umsetzung dann im Verband, Verein und Team stattfindet. Es kommt auf jeden an, egal auf welchem Liga-Level, vom Weltmeister bis zum Kreisliga-Flankengott.
Im Konkurrenzverhältnis
Wir scheitern gegenwärtig in so vielen Bereichen des Sports, weil wir die Probleme, die wir erzeugt haben und die uns jetzt zu schaffen machen, auf die bisherige Weise nicht lösen können. Wir haben keine Erfahrung, wie wir Vereine bilden, deren Mitglieder wirklich Interesse haben, die Probleme gemeinsam zu lösen und nicht gegeneinander agieren. Die Ursache dafür ist ein Erfolgssystem, das auf Konkurrenz gebaut ist und den Menschen zwangsweise als Objekt zur Erzeugung von Gewinnen betrachtet und behandelt.
Jedes Fußballtalent, welches in einem Nachwuchsleistungszentrum an einer Karriere im Profi-Fußball “arbeitet”, ist ein Objekt von Bewertungen und Strategien. Unser Fußball ist auf diese Objektbeziehung angewiesen. Die Entfaltung unserer Potentiale und jede Form von ökologischem Zusammenleben hängen davon ab, dass wir diese Form des Umgangs miteinander überwinden. Das ist das Dilemma, in dem wir gefangen sind und wofür wir eine Lösung brauchen. Dafür machen wir uns gemeinsam auf den Weg. Die Richtung dieses Weges wird aber nicht von oben bestimmt, sondern von den Menschen und Vereinen, die das erkannt haben, die mit gutem Beispiel vorangehen und viele Nachahmer finden.
Fazit
Mein Wunsch ist es, dass wir gemeinsam den Fußball (und auch andere Sportarten mit vergleichbaren Symptomen) verändern. In den zahlreichen Vorträgen und Projekten geht es meinen Kollegen von Die Sportpsychologen und mir darum, exemplarisch zu zeigen, dass nachhaltige Veränderungsprozesse im leistungsorientierten Fußball möglich sind. Stattfinden müssen sie aber vorrangig auf der Ebene sozialer Beziehungen und Menschlichkeit. Vielleicht war es das, was Mehmet Scholl schon vor ein paar Jahren mit anderen und deutlich weniger Worten gemeint hat.
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