Dr. Hanspeter Gubelmann: „Du bist es nicht wert, mir in die Augen zu schauen“

Viel wurde in den vergangenen Tagen über psychischen Missbrauch im Schweizer Turnsport berichtet. Die «Magglinger Protokolle» (Gertsch & Krogerus, 2020) offenbaren Formen und Ausmass einer „Kultur der Angst“ im Kinderhochleistungssport, wie sie selbst von Insidern nicht für möglich gehalten wurde. Um Einschüchterungen, Demütigungen und Quälereien im Turnen ging es auch in der ARD-Sportschau (21.11.20). Der Beitrag verdeutlicht, dass es sich um ein weitreichendes, internationales Problem handelt. Warum nicht das System, sondern erwachsene Menschen für das Wohlergehen von Kindern verantwortlich gemacht werden sollten – davon handelt dieser Beitrag. 

Zum Thema: Psychischer Missbrauch im Kinderhochleistungssport

Medien, Swiss Olympic, die Politik und wohl auch die Schweizer Bevölkerung sind sich einig: Das Sportsystem im Schweizer Turnsport bedarf einer grundsätzlichen Überprüfung. Nicht der Sport an sich sei für den aktuellen Missstand verantwortlich, sondern die Sportstrukturen in den Disziplinen „Kunstturnen“ und „Rhythmische Sportgymnastik“. So jedenfalls lautet aktuell der Tenor vieler Sportfunktionäre in der Diskussion zum Thema psychischer Missbrauch im Turnsport. Die Rede ist vom Einsatz einer neuen Ethikkommission, der Einrichtung einer unabhängigen Beratungsstelle für betroffene Kinder verbunden mit einer personellen Neuorganisation im Schweizer Turnverband (STV). Die Massnahmen folgen dem Motto: „Medaillen sind wichtig, aber der Weg dorthin ist wichtiger.“

Diese Bestrebungen sind auch aus psychologischer Sicht grundsätzlich lobenswert. Sie sind aber nur dann zielführend, wenn eine offensichtliche Grundproblematik im Kinderleistungssport tatsächlich angegangen wird – nämlich die Einhaltung der nicht verhandelbaren Notwendigkeit eines respektvollen, entwicklungsförderlichen und dem Alter der Athletinnen angemessenen Umgangs mit jungen Menschen! Sollte dies nicht gelingen, dürften dem Kinderleistungssport gesellschaftliche Legitimierungsprobleme erwachsen.

Kultur der Angst und des psychischen Missbrauchs

Die in den Magglinger Protokollen beschriebene Faktenlage ist unumstösslich: Als TäterInnen werden primär jene Personen beschrieben, die Macht ausüben, Druck an junge, abhängige Menschen weitergeben und diese sogar psychisch und/oder physisch verletzen. Diese Kultur der Angst gipfelt in der herablassenden Aussage eines Trainers an seine Athletin: „Du bist es nicht wert, mir in die Augen zu schauen“! Damit war keine Weisung eines Sportverbands gemeint, sondern ein an psychischer Grausamkeit kaum zu überbietendes Machtgehabe eines völlig unfähigen, narzistischen Trainers! 

Screenshot ARD-Mediathek

Link zum ARD-Beitrag: https://www.ardmediathek.de/daserste/video/sportschau/turnen-training-unter-angst/das-erste/Y3JpZDovL3dkci5kZS9CZWl0cmFnLWQwY2RiMjFiLTUxZWEtNDExOC1h

Was geschieht hier mit der jungen Turnerin? Welche psychischen Reaktionen, insbesondere im Wiederholungsfall, sind zu erwarten? Das gedemütigte Kind kann seine Wut nicht gegen den Trainer richten, schliesslich will es diesen nicht noch mehr gegen sich aufbringen. Aus Mangel an Handlungsalternativen gehorcht es, wendet seine Aggressionen gegen sich selbst – mit der Gefahr später autodestruktive Verhaltensformen zu entwickeln. Möglich auch, das Erlebte zu internalisieren und es später in gewalttätiger Form an anderen Menschen auszulassen. Die Turnerin erkennt die Falle, kann dieser aber nicht entrinnen. Oder wie es die amerikanische Psychoanalytikerin Robin Stern ausdrückt: „Die Betroffenen wissen, dass etwas nicht stimmt – aber sie können es einfach nicht benennen.» Diese Form von Missbrauch kann lähmende Selbstzweifel verursachen. Im Extremfall entwickeln die Opfer Angstzustände, Depressionen oder andere psychische Störungen.

Psychischer Missbrauch in vielen Facetten

Wie Turnerinnen diesen psychischen Missbrauch häufig erleben mussten und darauf reagierten, wird in den rund 30seitigen «Magglinger Protokollen» schonungslos aufgedeckt. Stellvertretend hierzu sechs Statements von 6 betroffenen Turnerinnen:

„Die brutalen, fiesen Sachen – die sagte sie (die Trainerin) nicht vor allen. Nur unter vier Augen. Und dann wehrtest du dich erst recht nicht, weil dir klar war, dass niemand es gehört hatte. Sie wusste genau, wie sie mit unserer Angst spielen musste, damit wir nicht aufmuckten.“

“Ich gab mir die Schuld dafür, wie schlecht es mir ging. Ich dachte, vielleicht bin ich zu weich, zu empfindlich, denn alle werden ja gleich schlecht behandelt (…)“

„Ich habe mir selbst ein Gefängnis gemacht. Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, und habe mich dabei selbst beobachtet. Ich war paranoid. Es war schrecklich (…)“

„Wir waren wie Zombies, sprachen kaum miteinander. Wenn die Trainerinnen eine Kollegin zusammenschiss und wir sie in den Arm nehmen wollten, wurden wir angeschrien. (…) Ich weiss bis heute nicht richtig, wie das geht, Gefühle zeigen. Ich kann nicht wirklich jemanden trösten. Aber ich kann mega schnell von Weinen auf Lachen umstellen.“

„Wie soll ich das beschreiben? Es war eine wahnsinnige Flut von Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Sinnlosigkeit. Ich kannte mich nicht mehr, ich dachte ich sei, ich sei nichts wert ohne das Turnen. Und dann kam das dunkelste Kapitel: die Gefühlslosigkeit. Ich konnte nicht mehr weinen, ich konnte nichts mehr fühlen. Ich war leer.“

„Dass ich depressiv war und eine Essstörung entwickelt hatte, wurde mir im Behandlungszimmer eines Arztes klar (…).“ 

«Glaslighting»-Auswirkungen manipulativer Gewalt

Was sich hier als Horrorszenario junger Turnerinnen präsentiert, wird in der Psychologie als «Gaslighting» beschrieben. Dieses bezeichnet eine psychische Extremform von manipulativer Gewalt, die besonders Kinder nachhaltig schädigen kann. Der Täter will sein Opfer häufig isolieren und gezielt desorientieren mit dem Ziel, dieses zutiefst zu verunsichern. „Gaslighter“ verdrehen ihren Opfern die Wörter im Munde, sprechen ihnen die Berechtigung ihrer Gefühle ab, werfen ihnen unangemessenes Verhalten oder falschen Realitätssinn vor. Bezogen auf die Magglinger Athletinnen heisst das: Sie verlieren zunehmend und in dramatischer Art und Weise ihr Realitäts- und Selbstbewusstsein.

Begriffsklärung: «Gaslighting»

Mit «Gaslighting» (aus dem Englischen, deutsch etwa: „Gasbeleuchtung“) wird die Form eines systematischen Missbrauchs, eines emotionalen Psychoterrors im Zusammenhang mit einer emotionalen (Beziehungs-)Manipulation bezeichnet, bei der Stück für Stück das Selbstvertrauen des Opfers zerstört wird.

Der  Begriff „gaslighting“ orientiert sich am Film „Gaslight“ – im Original ein Theaterstück von Patrick Hamilton – bekannt unter dem Titel „Das Haus der Lady Alquist“ mit Ingrid Bergman als Opfer eines manipulativen Ehemanns.

Auf einen besonders schädigenden Aspekt von „Gaslighting“ weißt Susanne Schild (2020) hin: „Typisch für Gaslighting ist, dass betroffene Kinder den Missbrauch erst im Rückblick erkennen. Erst als Erwachsene begreifen sie, wie sie zum Opfer wurden und dass sie nicht selbst an ihrer Situation schuld sind. Es kann sehr viel Zeit und therapeutische Unterstützung brauchen, bis sie sich psychisch stabilisiert und ein gesundes Selbstbewusstsein aufgebaut haben.“ Zu diesem Gedanken passt das Zitat einer Magglinger Turnerin: „Seit ich Magglingen verlassen habe, sind acht Jahre vergangen. Erst vor drei Jahren konnte ich sagen: Jetzt geht es mir gut.“

Was ist zu tun?

Der kürzlich verstorbene Kinderarzt Remo Largo, ein international hoch angesehener Sachbuchautor zu Entwicklungs- und Erziehungsthemen, war zeitlebens ein vehementer Gegner eines überzogenen Leistungsdrucks, der bis in die Freizeit, in die Sportvereine und in den Musikunterricht reicht. Auf seiner Argumentationslinie dürfte die „Charta der Rechte der Kinder und Jugendlichen im Sport“ (Mahler & Bizzini, 2009) liegen, die versucht, eine positive Entwicklung aus Sicht und zum Wohl des Kindes zu beschreiben. Diesem Positionspapier ist u.a. zu entnehmen: Das Recht mit Anstand behandelt zu werden, das Recht auf ein gesundes Umfeld, das Recht auf Ruheperioden sowie das Recht, kein Sieger zu sein. Dazu passend die Überzeugung Remo Largos gegen die Förderwut der Erwachsenen: „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“ und: „Herumhängen ist verpönt, dabei wäre es wichtig“. 

Als Sportpsychologe, Trainer und Vater werde ich in Zukunft auch Largos Gedanken beherzigen und darauf achten:

  … auf die leise „innere“ Stimme der jungen Menschen zu hören und diese zu bekräftigen;

  … sie darin unterstützen, ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse ernst zu nehmen – auch weil ich weiss, dass sie dadurch weniger abhängig von der Meinung anderer sind und so ein tragfähiges Selbstbewusstsein entwickeln;

  … insbesondere auf eine respektvolle Sprache im Umgang mit den jungen Menschen achten, weniger zu werten und ihnen Gefühle nicht absprechen;

  … sorgsam mit meinen Erwartungen, Tipps, Ratschlägen und Meinungen umgehen, insbesondere auch in der sportpsychologischen Beratungssituation und im Austausch mit AthletInnen;

  …   die Stimme der Kinder dezidiert auch im Rahmen eines Eltern-Coachings, im Coach-the-Coach-Setting oder anlässlich einer Nachwuchs-TrainerInnen-Tagung Gehör zu verschaffen.

Epilog

Wenn man Remo Largo fragte, was man denn tun könne für eine bessere Welt, hörte man keine grossen Worte, sondern ganz schlicht einen Tipp: «Wichtig wäre, dafür zu sorgen, dass die Kinder mehr mit anderen zusammensein können.» Er war überzeugt, dass schon damit viel erreicht wäre.

Mehr zum Thema:

Quellen: 

AthleteAFilm.com

Gertsch, C. & Krogerus, M. (2020). Die Magglingen Protokolle. Das Magazin, Nr.44, S.8-43. 

Gertsch, C. & Steffen, B. (2015). Ariella Käslin – Leiden im Licht. Die wahre Geschichte einer Turnerin. Zürich: NZZ Libro.

Mahler, P. & Bizzini, L. (200). La Charte des droits de l’enfant dans le sport: un outil pour promouvoir la santé et protéger l’enfant dans le sport. Paediatrica 20(1):36-37. http://www.swiss-paediatrics.org/paediatrica/vol20/n1/pdf/36-37.pdf 

Schild, S. (2020). Wie manipulative Erziehung Kindern schadet. https://epaper.tagesanzeiger.ch/#article/20/Tages%2DAnzeiger/2020-11-07/15/118026512

Stern, R. (2017), Der Gaslight Effekt. Wie Sie versteckte emotionale Manipulationen erkennen und abwenden. München, Grünwald: Komplett-Media.

Turnen – Training unter Angst, Sportschau 22.11.2020

https://www.sportschau.de/weitere/turnen/video-turnen—training-unter-angst–100.html

Views: 3651

Dr. Hanspeter Gubelmann
Dr. Hanspeter Gubelmannhttp://www.die-sportpsychologen.de/hanspeter-gubelmann/

Sportarten: Langlauf, Biathlon, Nordische Kombination, Ski alpin, Snowboard, Bob, Skeleton, Eiskunstlauf, Short Track, Eishockey, Leichtathletik, Moderner Fünfkampf, Kunstturnen, Extremsport, Volleyball, Unihockey, Fechten, Beachvolleyball, Tennis, Golf, Kanu, Mountainbike, Schwimmen, Triathlon, Reiten, Rudern, Radsport, Paralympics, Fallschirmspringen, Rhythmische Sportgymnastik, Schwingen, Thai-Boxen u.a.m

Zürich, Schweiz

+41 79 7894513

E-Mail-Anfrage an h.gubelmann@die-sportpsychologen.ch