Fußballexperten und Trainer betonen immer wieder, dass Tabellen erst nach zehn Spieltagen eine gewisse Aussagekraft bekommen. Genau genommen ist dies auch der Startschuss für den Abstiegskampf. Häufig kommt es in dieser frühen Phase der Saison bereits zu ersten Trainerentlassungen. Für Sportvorstände – aber auch für die Trainer und Spieler – stellen solche Phasen maximal harte Prüfungen dar. Der vorliegende Blogbeitrag will krisenrelevante Verhaltensmuster und psychologische Mechanismen darstellen, Strategien und Vorgehensweisen zur Konfliktentschärfung und Krisenbewältigung aufzeigen und dies mit verhaltenstheoretischen und praktischen Hintergründen untermauern.
Zum Thema: Die Ungewissheit im Fußball meistern
Seit ich die herausfordernde Situation bei Schalke 04 intensiver beobachte, finde ich auf den ersten Blick nur noch Negativschlagzeilen über die Königsblauen. Wie gerne würde ich wieder etwas Positives lesen! Man müsste einmal zählen, wie oft in einer Ausgabe der Tageszeitung, im Radio oder in den TV-Nachrichten bzw. den Kommentaren in diesem Zusammenhang das Wort „Abstiegskampf oder Krise“ benutzt wird. Es klingt so, als wenn es eine stillschweigende Übereinstimmung darüber gäbe, dass die schwierige Situation auf Schalke alle und alles in eine „Endlosschleife des Verlierens“ gestürzt hat. Es ergibt daher Sinn, differenziert mit dem Begriff „Abstiegskampf oder Krise“ umzugehen.
Auf den Böden der Vereinskrise auf Schalke wachsen oft regelrechte Kumpels hervor. Glück auf!
Dr. René Paasch
Eine Vereinskrise ist ein zeitlich begrenzter Zustand mit einem schleichenden identifizierbaren Auslöser, indem ein Verlust, eine Bedrohung oder eine Überforderung eintritt, durch den der Fortgang des bisherigen Geschehens wellenartig erschwert wird. Schwierige Zeiten sind für einzelne Akteure wie Trainer, Spieler und Sportvorstände Grenzerfahrungen, die Alltagsroutinen durchbrechen, in hohem Maße verunsichern und Selbstbilder ins Wanken bringen. Krisen legen strukturelle und persönliche Defizite offen und machen angreifbar. Der entscheidende Schlüssel zur Beherrschung dieser gegenwärtigen Zeit, ist die offene, vorurteilsfreie und komplexe Analyse des „Ursprungs“. Sie hat immer ein hohes Ausmaß an „Irrationalität“ und lässt sich nur gemeinsam bewältigen. Doch welche Merkmale weisen Vereine sehr häufig auf, wenn diese sich in schwierigen Phasen befinden? Ich diesem Zusammenhang sind drei immer wiederkehrende Merkmale auffällig:
- Die Mannschaften haben schon zahlreiche Niederlagen in der laufenden Serie verarbeiten müssen (Frustration).
- Es ist sehr offen, ob sich an der aktuellen Situation etwas ändert wird (Unsicherheit).
- Die Perspektive tatsächlich abzusteigen, erscheint bedrohlich (Konsequenzerwartung).
Die nun folgenden Abschnitte sollen krisenrelevante Verhaltensmuster und psychologische Mechanismen darstellen, Strategien und Vorgehensweisen zur Konfliktentschärfung und Krisenbewältigung aufzeigen und dies mit verhaltenstheoretischen und praktischen Hintergründen untermauern.
Verhalten von Sportvorständen, Spielern und Trainern
Um die psychologisch relevanten Felder einer Vereinskrise beleuchten zu können, ist es zunächst erforderlich, einen Überblick über den Kreis der Betroffenen zu erhalten. Im Mittelpunkt der Verantwortung einer Krise stehen zunächst der Manager und der Trainer. Um ihn herum gruppieren sich eine Vielzahl von Betroffenen und Beteiligten, die in unterschiedlicher Intensität von der Krise betroffen sind. Sie alle stehen zueinander in Beziehungen, die durch die Situation beeinflusst werden. Bereits ihre unterschiedlichen Interessenlagen führen zwangsläufig zu unterschiedlichen Verhaltensweisen. Die Tatsache, dass es sich bei den agierenden Personen um Menschen mit unterschiedlichen Charakteren handelt, prägt die anzutreffenden Verhaltensweisen zusätzlich.
Zu einem Interview mit Dr. René Paasch von Sky Sport: - Sky Sport https://sport.sky.de/fussball/artikel/schalke-video-psychologe-analysiert-situation-bei-s04/12117096/34828?fbclid=IwAR1XhysryIa1sgzCNrWe4qcKpPmL86P-bkKBzxgoWAu5xw9EyrNgYjc75ec - Facebook: https://www.facebook.com/diesportpsychologen/posts/3665074696847485 - Instagram: https://www.instagram.com/p/CG6sXNTnlzt6h0SYj78nqqB-P6KMMF3Nf4hG8Y0/
Im Mittelpunkt der psychologischen Problematik steht dabei zunächst und vor allem der Manager, der Trainer und der vereinzelte Spieler. Sie werden, ob zu Recht oder Unrecht, als die Verursacher der Gegenwart gesehen und sind gleichzeitig diejenigen, die zumindest die Verantwortung für die Krisenbewältigung tragen werden. Aus diesem Grund stehen sie im Mittelpunkt des Interesses, da ihre Verhaltensweisen und Interaktionen mit anderen Personen den psychologischen Verlauf auf Schalke entscheidend prägen.
Persönliche Befindlichkeiten
Gerät ein Verein in eine bedrohliche Situation, so wird diese von den verantwortlichen Managern oder dem Team sehr individuell erlebt und empfunden. Der fehlende Erfolg rüttelt an der persönlichen Identität. In den meisten Fällen erleben die unmittelbar Beteiligten massive Verlustängste und verlieren an Selbstvertrauen. Das frühzeitige Erkennen und das Gegensteuern ist dann die Voraussetzung, dass deren Folgen soweit wie möglich abgemildert werden können. Nur dadurch kann vermieden werden, dass eine Vereins- und Mannschaftskrise zum Selbstläufer wird. Um zu beurteilen, ob bei den Vereinsangehörigen eine individuelle Resignation vorliegt, können bestimmte Warnsignale herangezogen werden:
- Kontaktabbruch zu vereinzelten Personen & Vereinssuche
- Kommunikationsstörungen in- und außerhalb des Teams
- begrenzte Wahrnehmungsfähigkeit („Tunnelsyndrom“)
- eine negativ verzerrte Interpretation von Situationen und Umständen
- Stimmungsschwankungen und Unruhe
- Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und Selbstvertrauen
All diese Merkmale werden sich häufen oder erstmalig auftreten, wenn aus der Vereinskrise auch eine Persönlichkeitskrise der agierenden Trainer und Spieler wird. Um beim Auftreten derartiger Symptome Hilfestellung geben zu können, ist es wichtig, über die Dynamik des Krisenerlebens Bescheid zu wissen. Dies beginnt zunächst mit dem Erkennen der individuellen Krisenphase, in der sich der Einzelne oder das Team befindet.
Die Phasen des individuellen Krisenerlebens
Jeder der Vereinsangehörigen wird die turbulente Zeit auf Schalke meist in mehreren Phasen erleben und empfinden. Diese lassen sich auch für die Krise folgendermaßen systematisieren:
- Schock
- Verleugnung
- Auflehnung
- Verhandlung
- traurige Phasen
- Akzeptanz
- Aktivität
Schock- und Verleugnungsphase
In der Schockphase wird dem Manager und den einzelnen Akteuren zum ersten Mal bewusst, in welch schwieriger Situation sich der Verein befindet. Meist wird diese Schockerfahrung von außen angestoßen, zahlreiche Fans kündigen die Mitgliedschaft oder das zuständige Kreditinstitut droht eine Kreditkündigung an. In selteneren Fällen resultiert der Schock aus eigener Erkenntnis. Konkret geht mit der Schockphase die Unfähigkeit einher, die Situation zu begreifen, klar zu denken, zu planen und zu handeln. Gerade beim Trainerteam und jüngeren Spielern beinhaltet der Schock die Selbsterfahrung, dass dem bekannten und über Jahre vertrautem System der akute Zusammenbruch droht. Hat der Sportvorstand in der Vergangenheit einen patriarchalisch bis autoritären Führungsstil und fehlender Transparenz praktiziert, so ist die Erfahrung einer derartigen Bedrohung umso einschneidender. Er nimmt die Wirklichkeit als erdrückend und überwältigend wahr. Die Reaktion sind Gefühle der Hilflosigkeit und der Angst. Sie sehen ein über Jahre aufgebautes Image „Eurofighter & Malocher“ gefährdet.
An die Schockphase schließt sich die Verleugnungsphase an. Die Tatsache, dass sich der Verein in einer existenziellen und sportlichen Krise befindet, wird negiert. Die Situation wird als schwieriger Einbruch gesehen, der nichts mit der existenziellen Bedrohung zu tun hat und lediglich vorübergehender Natur ist. Das Management vertraut auf die Selbstheilungskräfte neuer Trainer und Spieler und will die Realität nicht sehen. Dies kann in einem paralytischen Zustand gipfeln, der es den handelnden Personen unmöglich macht, Entscheidungen zu treffen und handlungsfähig zu sein. In dieser Phase wird oft ein letzter verzweifelter Versuch gemacht, die Konfrontation mit der Realität zu vermeiden.
Auflehnung und Verhandlung
In der Phase der Auflehnung blickt man den Tatsachen ins Auge und versucht, das Problem zu lösen. Dabei ist jedes Mittel und jede Vorgehensweise recht, die auch nur mit einer minimalen Erfolgswahrscheinlichkeit aufwarten kann. Entscheidungen werden hitzig und unter hohem emotionalem und medialem Druck getroffen und nur unzureichend auf ihre Sinnhaftigkeit überprüft. Die Gefahr, dass Fehler gemacht werden, ist in dieser Phase besonders hoch. Alle Beteiligten sind hochgradig angespannt und neigen zu emotionalen Überreaktionen. Gerade in dieser Phase kommt es oftmals zu Konflikten zwischen dem Management auf der einen Seite und dem Trainerteam und den Spielern auf der anderen Seite. Oft wird in dieser Phase des Krisenerlebens versucht, Standpunkte auf Basis festgefahrener Strukturen zu erklären. Diese Vorgehensweise ignoriert die tatsächlichen Macht- und Einflusskonstellationen völlig, verschafft den Betroffenen jedoch das Gefühl, „etwas getan zu haben“ und reduziert die Empfindung, schutzlos Ereignissen und Vorstellungen ausgeliefert zu sein, die man nicht beeinflussen kann.
An die Auflehnungsphase schließt sich die Phase der Verhandlung an. Sie ist gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung mit der Realität, der Suche nach Lösungen, Alternativen und Auswegen. Das Management und die Mannschaft sind zum ersten Mal bereit, sich helfen zu lassen. In dieser Phase ist es sinnvoll erste Sofortmaßnahmen zu definieren und einzuleiten. Der Umgang mit der jetzigen Situation tritt hier zum ersten Mal in eine produktive Phase.
Traurige Phasen und Akzeptanz
Als weiterer Abschnitt kann sich die Phase der Traurigkeit anschließen. Sie kommt vor allem dann zum Tragen, wenn die ersten Sofortmaßnahmen, Verhandlungen und Punktgewinne nicht den erwünschten Erfolg zeigen. In dieser Situation fällt es sehr schwer, Neues anzunehmen und aktiv zu werden. Hilfestellung in Form von Zuversicht und Optimismus sind in dieser Phase ein notwendiger Impuls, um viele Beteiligte zu erreichen. Das Festhalten an den bisherigen Sichtweisen wird aufgegeben. Die Tatsachen und Fakten werden anerkannt, also akzeptiert. Sorgenvolle Gefühle vor der neuen Situation dominieren noch die emotionale Stimmungslage.
Dr. René Paasch
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Aktivität und ein wichtiger Hinweis
Sind alle bisher genannten Phasen durchlaufen, so schließt sich als letzte Phase – die der Aktivität – an. Die Verantwortungsträger im Management und der Mannschaft verabschieden konkrete Maßnahmen und Handlungsziele, beziehungsweise setzen definierte Schritte um.
Natürlich sind die dargestellten Phasen idealtypische Ausprägungen. Sie können sich überschneiden, in einem schnellen oder langsamen Ablauf durchlebt werden oder sich wie in einer Schleife in verschiedenen Zeitabständen der Krise wiederholen. Die Verarbeitung jeder einzelnen Phase ist dabei aber Voraussetzung für den Verlauf der weiteren Phasen. Gerade weil Vereins- und Mannschaftskrisen wenig Zeit zum Handeln lassen, ist es erforderlich, zu verhindern, dass durch diese individuelle und persönliche Krisensituation die knappen zeitlichen Ressourcen gebunden oder verbraucht werden und die persönliche Energie in die „falsche“ Richtung gelenkt wird. Daher ist es im Interesse aller Betroffenen, alles zu versuchen, um zunächst durch Hilfestellungen, aber auch durch personelle Maßnahmen die Phasen möglichst schnell bis zum Punkt der Aktivität zu treiben. Gelingt dies nicht, so werden personelle Konsequenzen losgelöst von Überlegungen zur fachlichen Kompetenz unumgänglich.
Fazit
Die Bewältigung einer Vereins- und Mannschaftskrise erfordert nicht nur fachliches Können. Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist vielmehr die professionelle Auseinandersetzung mit den Eigenschaften, Verhaltensausprägungen und Emotionen der Betroffenen. Vor allem die Bewältigung zwangsläufig auftretender Schwierigkeiten stellt eine wesentliche Herausforderung für ein erfolgreiches Krisenmanagement dar. Erst wenn es gelingt, Wege und Methoden zu finden, die Vielzahl der Konflikte im Rahmen der Bewältigung zu beherrschen und zu entschärfen, lassen sich auch die sachlichen Lösungsansätze erfolgreich in die Tat umsetzen. Dies verlangt von jedem bestimmte Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale. In keinem Fall sollten die psychologischen Aspekte bei der Bewältigung einer herausfordernden Zeit vernachlässigt werden. Diese Aufgabe obliegt Menschen, die in ihren Verhaltensweisen und Entscheidungen nicht immer rational geprägt sind und in der Stresssituation einer Krise besonders emotional reagieren können. Nur wenn diese Emotionen berücksichtigt werden, gelingen die neuen Wege.
Weitere Blogbeiträge zum oben genannten Thema:
Wie Krisen funktionieren und sich lösen lassen:
Teams in der Krise:
Unter Stress Leistung bringen:
Krisenmanagement zum Saisonende:
Resilienz im Fußball:
Resilienz in sportlichen Krisen:
Selbstvertrauen im Fußball:
Selbstwirksamkeit im Fußball:
Literatur
Neudeck, E (2010): Unternehmenskrisen: Eine theoretische Analyse der Krisenursachen. Grin, München, ISBN 978-3-640-50379-7.
Sridhar, K. (2013): Krisen-Impfung – So machen Sie Ihr Unternehmen widerstandsfähiger und zukunftssicher Redline-Verlag, München, ISBN 978-3868813692.
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