Lehren aus der “Geistersaison”: Matthias Ginters Studie, Vereinsbosse als Gatekeeper für Sportpsychologen und über das Finden des passenden Experten

Menschenleere Stadien. Dieses Bild wird bleiben, wenn auf die Bundesliga-Saison 2019/2020 zurückgeblickt wird. Aber wie sehr hat die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen für Fans und Vereine den Sport verändert? Erleben wir aktuell den Start eines Booms der Sportpsychologie? Und wie können die vielen Profis und Vereine, die dem möglichen Trend nach besserer psychologischer Betreuung folgen wollen, fündig werden? Nicht zuletzt: Darf bei der Bewertung der Leistungsentwicklung des FC Schalke 04 die Rolle des Sportpsychologen außen vor gelassen werden?

Interview mit Dr. Jan Rauch, Prof. Dr. Oliver Stoll, Ilias Moschos, Janosch Daul, Anne Lenz, Kate Seufert und Anke Precht 

Im Frühjahr wurde das Thema “Einfluss der Fans” sehr kontrovers diskutiert. Was haben die Geisterspiele – quasi als Experiment unter Laborbedingungen – nun für eine Erkenntnis hervorgebracht: Haben Fans im Profi-Fußball nun Einfluss auf das Geschehen auf dem Platz? 

Dr. Jan Rauch (zur Profilseite): Aus meiner Sicht haben die Fans grundsätzlich natürlich schon einen Einfluss. Die Richtung des Einflusses (also eher positiv richtung Leistungssteigerung vs. eher negativ) ist aber sehr individuell ausgeprägt. Es wird Spieler geben, die sich gefreut haben, ohne den “Druck” der Fans agieren zu können und andere, denen ein Teil der Motivation wegfiel. Da man davon ausgehen darf, dass sich solche Ausprägungen über die Mannschaften etwa ausgleichen, sehe ich keine Wettbewerbsverzerrung. 

Prof. Dr. Oliver Stoll (zur Profilseite): Kürzlich habe ich im Deutschlandradio im Sportgespräch mit Matthias Ginter von Borussia Mönchengladbach gehört, dass es in der Corona-Zeit Forschung gegeben hätte, die den Einfluß der Fans belegen würde. Mir ist keine Studie über den Weg gelaufen gekommen – ist ja vielleicht auch erst ein Pre-Print 😉 Aber auch das hätte ich eigentlich finden müssen. Anyway – mein Bauchgefühl sagt mir… sportlich betrachtet – alles wie vor Corona!    

Ilias Moschos (zur Profilseite): Natürlich hat das Fanverhalten in einem bestimmten Maß Einfluss auf das Geschehen auf dem Platz. Fanverhalten kann aktivierend aber auch hemmend wirken. Was das Fanverhalten allerdings nicht schafft ist, fehlende Qualität auszugleichen. 

In den vergangenen Wochen konnten wir das Gefühl bekommen, dass auch in den Topligen, u.a. durch die Verpflichtung von Philipp Laux bei Borussia Dortmund, die Bedeutung der Sportpsychologie wächst. Täuscht das oder ist Bewegung im Markt?

Prof. Dr. Oliver Stoll (zur Profilseite): Unstrittig ist, dass Sportpsychologie – auch im professionellen Fußball etwas beizutragen hat – ich vermute aber eher, dass diese Wahrnehmung eine Einzelwahrnehmung ist – und nicht für “Dynamik” im Markt spricht.

Dr. Jan Rauch (zur Profilseite): Ich mache gerade die Erfahrung, dass der Einbezug von Sportpsychologen/-innen im Profifussball (noch stärker als in anderen Sportarten) von einzelnen Entscheidungsträgern (Sportchef, Trainer, Präsident) geprägt ist – und leider nicht von einem dynamischer werdenden Markt.

Ilias Moschos (zur Profilseite): Zum Einen hängt vieles von den Verantwortlichen in den Vereinen ab, zum anderen spielt auch die Kompetenz und Professionalität der Sportpsychologen eine große Rolle. Da klafft oft zwischen Theorie und Praxis ein großes Gap. Wir sollten da auch so offen sein und bestehende Seilschaften benennen. Manche Beauftragung findet genau aus dem Grund statt. Ich persönlich halte die Aktion für ein Strohfeuer, da nach wie vor die Sportpsychologie nicht das erforderliche Standing hat. 

Mit Sascha Lense ist im vergangenen Sommer ein Sportpsychologe zum FC Schalke gewechselt. Ein Verein, der gerade im Jahr 2020 wie ein taumelnder Boxer unterwegs ist. Böse gesagt, wenn die sportliche Entwicklung für einen Sportpsychologen zeugnisrelevant wäre, dürfte die Versetzung als gefährdet gelten. Aber so einfach ist es nicht, oder?

Prof. Dr. Oliver Stoll (zur Profilseite): Eines der größten Missverständnisse zu unserer Arbeit. Unsere Arbeit rein am sportlichen Erfolg zu messen, ist kurzfristig, unrealistisch und verkennt ein humanistisches Menschenbild.

Janosch Daul (zur Profilseite): Den Ergebniserfolg eines Teams, beispielsweise greifbar am Tabellenstand, insbesondere in einer hochkomplexen Spielsportart wie dem Fußball als Bewertungsgrundlage für die Arbeit eines Sportpsychologen heranzuziehen, ist mehr als fragwürdig. Selbst dem Trainer als Hauptverantwortlichen wird aus meiner Sicht ein zu großer Einfluss auf das Endergebnis eines Teams unterstellt, welches im Fußball ja aus über zwei Dutzend autonomen Individuen besteht. Insbesondere im Vergleich zu CEOs mächtiger Wirtschaftsunternehmen – das belegen die Zahlen – werden Trainer viel öfter für fehlende Ergebnisse verantwortlich gemacht und rigoros ausgetauscht. Ein langfristiger Effekt ist oftmals nicht gegeben. Vielmehr ist ein Ergebnis im Fußball von zahlreichen Faktoren abhängig und nicht wenige von ihnen sind sowohl für einen Trainer als auch einen Sportpsychologen kaum kontrollierbar – beispielhaft seien strittige Elfmeterentscheidungen genannt.

Will insbesondere die Vereinsführung die Leistung eines Sportpsychologen bewerten, muss sie sich ganzheitlich mit dem Wirken des Sportpsychologen auseinandersetzen und versuchen, ein möglichst ganzheitliches Bild zu kreieren. Dabei müsste sie systematisch Einblicke in die Arbeit des Sportpsychologen über die gesamte Saison hinweg erhalten. Eine unabdingbare Voraussetzung, um diese Eindrücke dann auch interpretieren und letztlich eine Bewertung vornehmen zu können, besteht darin, dass die Vereinsführung selbst über (sport)psychologisches Know-How verfügen muss. Aber: Die Leistung eines Sportpsychologen wird – wie die eines Trainers – (in naher Zukunft) nie objektiv messbar sein.

Für Medien und Fans ist die Leistung eines Sportpsychologen aus meiner Sicht keinesfalls beurteilbar; schließlich nehmen sie ausschließlich eine Außenperspektive ein, haben keine Einblicke in das tatsächliche Wirken des Sportpsychologen und gelangen höchstens vereinzelt an gewisse Infos aus dem inneren Zirkels des Systems “Team”, was aber keinesfalls eine Bewertungsgrundlage darstellen kann.

Anne Lenz (zur Profilseite): Die Leistung eines Sportpsychologen kann (wenn überhaupt) von direkt betreuten Sportlern und Trainern durch den Mehrwert der Betreuungs- & Beratungstätigkeit bemessen werden. Dieser Mehrwert ist für jeden Sportler/Trainer genauso hoch individuell, wie das eigene Anliegen der Zusammenarbeit. Die Wirksamkeit eines Sportpsychologen sollte nicht an Tabellenpositionen abgelesen werden, sondern an der Ausschöpfung und Weiterentwicklung des individuellen Potenzials des Sportlers/Trainers/Teams. Zudem sei darauf hinzuweisen, dass in einer professionellen sportpsychologischen Betreuung die Verantwortung für die eigenen Fortschritte auch bei Sportlern und Trainern liegen & ein ausgeprägtes Commitment für eine leistungsstarke Zusammenarbeit unabdingbar ist. 

Wann wäre der richtige Zeitpunkt, sich einen Sportpsychologen mit ins Boot zu holen? Und wie sollten Vereine scouten oder wen sollten die Manager fragen?

Anke Precht (zur Profilseite): Der Sportpsychologe kann von Beginn an in die Prozesse eingebunden werden: Scouting, Kommunikation, Teambuilding. Am besten frühzeitig. Sonst: Lieber spät als gar nicht. 

Kathrin Seufert (zur Profilseite): Die Einbettung eines Sportpsychologen/in erfolgt bestenfalls zu Beginn einer neuen Saison. So haben Spieler und Trainer gleich die Gelegenheit, diese Facette der Entwicklungsmöglichkeit von Anfang an mit in die Abläufe zu integrieren. Neben dem Kennenlernen des großes Spektrums an Möglichkeiten, die die Sportpsychologie bietet, sind es zu Saisonwechsel ja auch andere personelle Veränderungen, so dass es eine Gruppe “Neuer” gibt. Auch zur Winterpause ist ein Einstieg sicherlich möglich. Das Einsetzen eines Sportpsychologen/in als “Feuerwehrmann/frau” halte ich hingegen für nicht zielführend.

Janosch Daul (zur Profilseite): Der Sportpsychologe als Teil des Trainerteams hat zumeist zwei Aufgaben. Auf der einen Seite geht es darum, durch ein systematisches und strukturiertes Vorgehen die Beteiligten des Systems Team auf individueller Ebene dabei zu unterstützen, mentale Leistungsressourcen auszuschöpfen. Und auf der anderen Seite das Trainerteam fachkundig dabei zu beraten, wie dieses – insbesondere durch das Schaffen passender Rahmenbedingungen – aus individuellen Höchstleistern ein funktionierendes Team entwickeln kann. 

Um diesen Aufgaben gerecht werden zu können, braucht es die Einbindung des Sportpsychologen in alle wesentlichen Teamprozesse ab Beginn des Vorbereitung. Nur so kann er sich den so wichtigen Überblick über das System Team – z.B. die Persönlichkeiten, wesentliche Abläufe, Strukturen etc. – verschaffen, um dann wirkungsvoll intervenieren zu können. Wenn möglich, wird er sogar in den vor der Saison so bedeutsamen Scoutingprozess eingebunden, der die Teamzusammenstellung maßgeblich beeinflusst.

Ilias Moschos (zur Profilseite): Wann der richtige Zeitpunkt ist? Immer!

Viele Profis stehen in den kommenden Wochen bis zum Ende der ausgeweiteten Transferperiode vor einer großen Unsicherheit. Nicht wenige sind ohne Verein. In welcher Form kann die sportpsychologische Betreuung in einer solchen Phase helfen? Wie sollten sich die Kicker oder auch Trainer ihren persönlichen Sportpsychologen aussuchen, wenn ihnen gerade keiner empfohlen wird oder sie Hemmungen haben, sich mit den ggf. im Verein oder dem Ex-Verein beschäftigten Kollegen anzuvertrauen?

Anke Precht (zur Profilseite): Die meisten Profis suchen sich ihren Sportpsychologen auf Empfehlung. Dass heißt, sie fragen Kollegen aus dem Verein. Die meisten sind gut vernetzt. Wenn nicht, kann auch die Recherche im Internet, zum Beispiel bei “Die Sportpsychologen” (zur Übersicht) helfen. Einfach mit ein paar Kollegen telefonieren. Fußballer merken, wo es eine Passung gibt. Sich den Sportpsychologen selbst aussuchen zu können, ist oft auch eine Chance, nicht wenige Profis machen das ja sowieso schon zusätzlich. Der freie Sportpsychologe ist dem Verein nicht verpflichtet und kann den Spieler weiter über den Tellerrand schauen lassen, was zum Beispiel die Wahl des nächsten Arbeitgebers angeht. 

Kathrin Seufert (zur Profilseite): Die Sportpsychologie kann dazu beitragen, diese Unsicherheit besser aushalten zu können, bzw. sich dem Thema mit einem Perspektivwechsel anders anzunehmen. Die Möglichkeiten sind vielfältig und individuell sehr gut anpassbar. Auf der Suche nach einem geeigneten Sportpsychologen/in ist die Experten-Datenbank des bisp oder unsere Seite von die-sportpsychologen.de (zur Übesicht der Profilinhaber) eine gute Anlaufstelle. Ein erstes Kennenlernen zeigt dann vielleicht schon, ob die “Chemie stimmt” und die Grundlagen zur Vertrauensbildung vorhanden sind. Sorgen und Ängste bezüglich der Konsultation eines solchen Experten dürfen sehr gerne angesprochen werden und können bestenfalls gleich beim ersten Treffen aus dem Weg geräumt werden.

Ilias Moschos (zur Profilseite): Die Empfehlung ist das, wonach sich Profis ihren Kooperationspartner aussuchen. Sie tauschen sich untereinander aus und erfahren so “aus erster Hand”, wer vertrauenswürdig, loyal, seriös und kompetent ist.

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Mathias Liebing
Mathias Liebinghttps://www.torial.com/mathias.liebing
Redaktionsleiter bei Die Sportpsychologen und freier Journalist Leipzig Deutschland +49 (0)170 9615287 E-Mail-Anfrage an m.liebing@die-sportpsychologen.de