Dr. Hanspeter Gubelmann: Corona und der Sport – Was bleibt nach dem Schock?

Ob Sportler oder Nichtsportler – am Anfang der Corona-Krise stand für alle der Schock! Etwas bisher nicht Erlebtes traf uns alle urplötzlich und mit voller Wucht. Die Gewöhnungszeit an den notwendig gewordenen Lockdown war kurz, die Anpassungen stellten viele auf die Probe. Der erste Schock sass tief. Hinzu kamen Niedergeschlagenheit, Frust und Orientierungslosigkeit. Das soziale Leben endete vor geschlossenen Restaurants und zugesperrten Rundbahnen. Stattdessen machte «social distancing» die Runde. Praktisch die gesamte Sportwelt kam weltweit und innert weniger Tage zum Stillstand. Auch alle Laufsportveranstaltungen wie der normalerweise Mitte Mai stattfindende Rennsteiglauf wurden jäh ausgebremst. Wie weiter mit dem sportlichen Lockdown für Massenveranstaltungen verfahren wird, bleibt abzuwarten. Einigen, den von mir betreuten Athleten habe ich geraten: „Durchatmen, runterfahren und loslassen.“ Andere habe ich versucht, auf ganz neue Ideen zu bringen. 

Zum Thema: Der Umgang von Sportlern mit der Corona-Pandemie

Der Lockdown traf alle Sportbegeisterten hart, am härtesten wohl den professionellen Sport, wo Existenzsorgen und die Ungewissheit über die Fortsetzung der Karriere belastend hinzukommen. Mit der Verschiebung der Olympischen Spiele landeten über Jahre akribisch erstellte und diszipliniert umgesetzte Trainings- und Vorbereitungspläne im Müll – Fassungslosigkeit, Ratlosigkeit und Tristesse machten sich in der Szene breit. Brutal, knallhart und niederschmetternd – so bezeichneten viele SportlerInnen ihr Erleben dieser Zäsur.

Zutiefst betroffen zeigte sich aber auch jene ambitionierte Ultra-Langstreckenläuferin, die in den letzten Monaten bei mir um sportpsychologische Beratung nachsuchte, um am diesjährigen Marathon des Sables teilzunehmen. Wehmütig musste auch sie erstmals zur Kenntnis nehmen, dass „Durchatmen, Akzeptieren und sich etwas Zeit und Ruhe gönnen“ die sinnvollste Akut-Strategie war. Die Traurigkeit und Orientierungslosigkeit machten auch ihr zu schaffen. Nun war sportpsychologischer Rat in ganz anderer Form und mit vollständig veränderter Optik gefragt.

Die Sportpsychologie kann helfen – aber wie?

Geraten Menschen in einen Gemütszustand akuter Leere und Verzweiflung, versuche ich als Sportpsychologie sie darin zu unterstützen, ihre starken Gefühle wie Trauer, Wut und depressive Verstimmtheit zuzulassen. Die SportlerInnenseele braucht Zeit und Zuspruch, um diesen Schmerz zu überwinden. Indes, loslassen können und sich von einem geplanten Weg zu verabschieden scheint vielen SportlerInnen Mühe zu bereiten. Andererseits profitieren sie von ihrer jahrelang antrainierten Widerstandskraft. Sie sind resilient und schöpfen auch aus Rückschlägen schnell wieder Kraft. Gelingt es, dieser Mischung eine Prise Kreativiät einzuhauchen, ist der Turnaround schon bedeutend näher. 

Eine Pauschallösung für die sportlich erfolgreiche Überwindung der individuellen Corona-Krise gibt es aber auch Sicht der Angewandten Sportpsychologie nicht! Es sind stimmige, individuell passende – nämlich die besonderen Ressourcen der AthletInnen berücksichtigende – Lösungsansätze, die jetzt von entscheidender Bedeutung sind.

Dr. Hanspeter Gubelmann beim Swiss Alpine Marathon (links) und beim “Karriereende” als Marathonläufer im Zieleinlauf 2014 am Lucerne Marathon (rechts), Bild: privat

Der Eiserne will nicht das, was die Fitnessbwusste tut!

In einer von der Ironman-Szene vielbeachteten Studie beschrieb der Zürcher Sozialforscher Jürg Schmid (1993) die unterschiedlichen Athleten-„Typen“, welche die Ultra-Ausdauerwelt bevölkern. Dabei bedingen individuell-unterschiedliche Motiv- und Tätigkeitskonstellationen Art und Ausmass des sportlichen Engagements. Was könnte also einem „eisernen“ Extremsportler, der seine Passion im Überwinden besonders harter Prüfungen auslebt, in Zeiten von Corona mitgegeben werden? Vielleicht die Idee, es mit einem Ausflug in die Welt des Streakrunnings zu versuchen! Fitnessbewusste Läuferinnen würden ihre Präferenzen vielleicht – neu oder zusätzlich zu ihrem bisherigen Training – in alternativen Trainingsformen wie Inline-Skating suchen, wogegen erlebnisorientierte LangstrecklerInnen besonderes Augenmerk auf achtsames Laufen legen könnten, um so vermehrt in einen Flow-Zustand zu gelangen. Eben, als Sportpsychologe achte ich zuallererst auf das Gegenüber mit seinen individuell-situativen und psychologischen Voraussetzungen, um anschliessend jene Ressourcen nutzbar zu machen, die die Laufmaschine auch psychisch wieder in Gang kriegen.

Dr. Hanspeter Gubelmann

Dr. Hanspeter Gubelmann

Sportarten: Ski nordisch, Ski alpin, Leichtathletik, Bob, Skeleton, Judo, Eiskunstlauf, Tennis, Short Track, Kanu, Eishockey, Mountainbike, Schwimmen, Triathlon, Rhythmische Sportgymnastik u.a.

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Die Experten sind sich einig: Regelmässiges Training hilft in diesen anspruchsvollen Zeiten, den ursprünglich erlebten Kontrollverlust zu verringern. Das regelmässige Training lässt uns auf andere Gedanken kommen, die erwiesenermassen antidepressive Wirkung eines Ausdauertrainings hellt unsere Stimmung auf. In Zusammenhang mit ersten Lockerungsmassnahmen dürften vermehrte soziale Kontakte dazu beitragen, in einem strukturierteren Tagesablauf wieder mehr Sicherheit und Zuversicht zu erlangen. Andererseits zeigt sich in dieser Krisenzeit aber auch sehr deutlich, dass weniger anpassungsfähige und vulnerable Menschen mit geringem sozialen Rückhalt häufiger unter depressiven Episoden leiden. Warnsignale sind überdauernde Traurigkeit, Antriebslosigkeit, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen und Rückzug in die soziale Isolation. Wer länger als zwei Wochen schwerwiegend an diesen Symptomen leidet, sollte um fachliche Unterstützung nachfragen. An verschiedenen (regionalen) Institutionen werden niederschwellige Beratungsdienstleistungen (z.B. Hotlines) angeboten. Das trinationale Netzwerk www.die-sportpsychologen.de stellt ein Expertengremium zur Verfügung, das auch im sportspezifischen Kontext Hilfesuchenden zur Seite stehen kann. Mehr Infos: Link zur Corona-Übersichtsseite

Not macht erfinderisch!

Für mich machten die vergangenen Wochen noch einmal deutlich, wie kreativ, motiviert und geradezu agil viele SportlerInnen mit den Widrigkeiten umgegangen sind. So realisierte der Schweizer Elite-Orientierungsläufer Matthias Kyburz eine Indoor 50km-Weltbestleistung (2:56,35) auf dem Laufband (https://www.srf.ch/sport/mehr-sport/orientierungslauf/dank-willensleistung-unter-3h-50-km-auf-dem-laufband-kyburz-schafft-den-weltrekord). Ironman-Hawaiisieger Jan Frodeno meisterte im Rahmen seines Spenden-Home-Ironmans  (https://www.youtube.com/watch?v=tyWUOapsdbwdie) die Triathlon Langdistanz in fabelhaften 8:33 Stunden. Aber auch für HobbyläuferInnen finden sich tolle Angebote. Als Ersatz für das Original-Rennsteig-Erlebnis absolviert man mit RENNSTEIGLÄUFER@HOME den Traditionslauf quasi vor der eigenen Haustüre (https://www.rennsteiglauf.de/aktionen/rennsteiglaeuferathome/). 

Natürlich fehlt dabei das aufmunternde Anfeuern an der Strecke und die einzigartig-familiäre Rennsteigstimmung oder eben jene Atmosphäre, die bestimmte Veranstaltungen für SportlerInnen so besonders machen. Viele finden in diesem Angebot aber auch die Motivation, ihre Früchte des bisher investierten Trainings trotzdem zu ernten! 

Laufen im Freien schützt vor Corona

Der psychophysische Nutzen von Ausdauerbelastungen ist hinlänglich bekannt. Sportliche Betätigung in Zeiten des Corona-Lockdowns ist wichtig, sowohl für den in Quarantäne ruhiggestellten Körper als auch für den unruhigen Geist. Neue Studien belegen, dass es sich bei Covid-19 auch um eine systematische Gefässerkrankung handelt. Auch deshalb raten Mediziner wie Psychologen, unter Einhaltung der bekannten Hygiene-Regeln, sich viel und ausdauernd an der frischen Luft zu bewegen!

Hinweis: Der Text von Dr. Hanspeter Gubelmann ist am 10. Juni 2020 in der Zeitschrift Ultramarathon erschienen.

Mehr zum Thema:

Literatur:

Schmid, J. (1993). Arbeit, Persönlichkeit, Motivation und Engagement für Ausdauersport. Eine empirische Typologie von Triathletinnen und Triathleten [Work, personality, motivation, and commitment to endurance sports: an empirical typology of triathletes]. Zürich: Gesellschaft zur Förderung der Sportwissenschaften an der ETH Zürich. 

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