Der Streamingdienst Netflix schaltete am 24. Juni 2020 die erschütternde Dokumentation «Athlete A» auf. Im Mittelpunkt dieses aufwühlenden Berichts steht der Missbrauchsskandal rund um Larry Nassar, der im Januar 2018 zu 175 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Zu Wort kommen aber insbesondere die «survivors» – so bezeichnen sich die Kunstturnerinnen, die sich dank ihres mutigen Auftritts in der Öffentlichkeit allmählich von den bleiernen Fesseln abscheulicher Misshandlungen befreien.
Zum Thema: Aufgaben für die Sportpsychologie zur Prävention von Sexualisierter Gewalt im Nachwuchssport
Spitzensport definiert sich über humanistische Werte. Viele Athletinnen erleben und bezeichnen diesen als positive Lebensschule. Sie sprechen von einem interessanten Karriereweg mit Höhepunkten und überwundenen Hindernissen, die letztlich eine Persönlichkeit reifen lassen. Sport transportiert vielfältige Emotionen – darum lieben wir ihn alle. «Athlete A» – personifiziert in der US-Kunstturnerin Maggie Nichols – öffnet dagegen unser „blind eye“, trifft vielleicht unseren blinden Fleck. Was die investigativen Journalistinnen und Journalisten vom «The Indianapolis Star» in ihrer rund zweistündigen Dokumentation an Fakten und Hintergrund ans Tageslicht fördern, beelendet zutiefst und macht mich schwer betroffen – als Vater, ehemaliger Trainer und Sportpsychologe.
Hauptakteurin in der Recherche ist Maggie Nichols, die in den Akten als «Athlete A» geführt wird. Ihr Beispiel steht stellvertretend für eine unfassbar grosse Gruppe von 500 psychisch misshandelten und sexuell missbrauchten jungen Athletinnen. Sie alle wurden Opfer eines pädophilen Sportmediziners – ebenso missbraucht aber auch von menschenverachtenden TrainerInnen, einem verantwortungslosen Verbandspräsidenten, korrupten Olympia-Funktionären und meist ahnungslosen Eltern.
Verstörend, unerbittlich – aber auch dramaturgisch brillant
Der «IndyStar» fesselt uns mit seinem schonungslosen Blick auf diese dunkelsten Seiten des Spitzensports. Die dargestellten Straftaten machen mich gleichermassen betroffen wie wütend. Perfekt inszeniert, bildgewaltig sowie sezierend in Ton und Kommentar, schwindet mein „blinder Fleck“, spüre ich eine subtile Metamorphose zum „Mitwisser“ und „Betroffenen“. Entstanden ist ein verstörendes Zeitbild des amerikanischen Kunstturnens, dessen Strahlkraft bis in unsere nationalen Sportsysteme reicht.
In der Schweiz wissen wir nicht erst seit den Darstellungen der ehemaligen Spitzenturnerin Ariella Käslin in ihrem Buch „Leiden im Licht“, dass die besondere Problematik in der sehr spezifischen Hochleistungsförderung im frühen Kindes- und Jugendalter mitbegründet ist. Die Rede ist von 30 bis 35 Trainingsstunden die Woche für 14-Jährige!
Augen öffnen, hinschauen und handeln
Die Hauptbotschaft, die auch in den Plädoyers vieler betroffener Turnerinnen vor Gericht zum Ausdruck kam, richtet sich an die Verbände und ihre TrainerInnen. Diese werden in die unabdingbare Pflicht genommen, endlich echte Verantwortung zu übernehmen und Massnahmen zu ergreifen, um künftige Fälle zu verhindern. Es dürfe nicht weiter geduldet werden, bei Übergriffen wegzuschauen und Opfer zu verunglimpfen. US-Superstar Simone Biles, selbst auch Opfer von Nassers Übergriffen, offenbarte in ihrem emotionalen Statement anlässlich der US-Turnmeisterschaften 2019, dass diese Wunde noch bei weitem nicht verheilt ist: „Wir Athletinnen geben alles für euch, ihr hattet nur einen verdammten Job – und habt uns nicht vor IHM geschützt“.
Was Simone Biles aber auch zwischen den Zeilen erkennen lässt: Was fehlt ist die Verlässlichkeit derjenigen, die es besser wussten. Der Erwachsenen. Und dieses Vertrauen fehlt auch heute noch.
Kernaussagen des Films und Bedeutung für die Sportpsychologie
Biles schockierende Äusserungen implizieren die Notwendigkeit bedeutsamer Massnahmen und Veränderungen – auch aus Sicht der Sportpsychologie. Im Folgenden beziehe ich mich auf vier Kernaussagen der Dokumentation und verbinde diese mit aus meiner Sicht bedeutsamen sportpsychologischen Überlegungen.
- Maggie Nichols: „In anderen Sportarten sind die Athletinnen erwachsen – sie können entscheiden, was sie möchten. Ich glaube nicht, dass das im Turnsport so ist. Sie gehen mit zehn in diese Trainingslager und werden jahrelang missbraucht. Und wenn sie älter werden, ist diese Grenze zwischen hartem Training und Missbrauch verschwommen. Wenn dann ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat, misstrauen sie ihrer Wahrnehmung.“
Aus ethischer Sicht müsste hier die Sportpsychologie aktiv werden und eine klare Position gegen Jugendhochleistungssport einnehmen. Was würde gegen die Einführung eines Alterslimit von 18 Jahren für internationale Titelkämpfe wie EM, WM und Olympische Spiele sprechen? Als weitere wichtige Orientierung böte sich die „Charta der Rechte der Kinder im Leistungssport“ an. (La Charte des droits de l’enfant dans le sport, Bizzini et. al. 2009). Regel Nr. 10 besagt z.B.: Das Kind hat das Recht auch kein Champion zu sein!
- Maggie Nicols kam mit 14 Jahren in die Nationalmannschaft. Nichols Vater dazu: „Es war eine Ehre (…), so werden Olympiateilnehmerinnen gemacht. Im Trainingscamp waren keine Eltern erlaubt. Man sollte meinen, sie würden auf die Mädchen achten, wir waren als Eltern nicht zugelassen.“ Die TrainerInnen vertraten die Meinung, dass bei jüngeren Turnerinnen mehr Kontrolle nötig wäre. Nationaltrainer Bela Karolyi meinte gar: „Wir müssen absolute Kontrolle über die Mädchen haben.“ Die Trainings-Atmosphäre basierte auf Furcht, Einschüchterung und Schweigen – der einzige Lichtblick war Larry Nassar – „er gab uns heimlich Essen und Süsses. Er war ein beliebter Mann.“
Die Beschreibungen deuten auf ein insgesamt perfide gesponnenes Beziehungsnetzwerk hin, welches auf Macht, Kontrolle, Abhängigkeit und Isolation der Turnerinnen baute. Die Eltern waren nur dort geduldet, wo sie nicht stören konnten. Aus anderen Quellen gibt es zudem Hinweise, dass Eltern – auch aus Furcht vor Repressalien – dieses missbräuchliche System wissentlich duldeten.
Im krassen Kontrast zu diesem menschenunwürdigen Regime steht der ganzheitliche Entwurf einer umfeldbasierten Athletenbegleitung, wie ihn die Sportpsychologen Kristoffer Henriksen und Natalia Stambulova (2017) vorschlagen. Gemäss ihrem holistischen Ansatz soll beispielsweise die Umgebung einer jungen Athletin insgesamt auf den Sport ausgerichtet sein, basierend auf einer altersdurchmischten Gruppenstruktur, die insbesondere auch der Entwicklung psychosozialer Kompetenzen zuträglich wirkt. Der Vergleich mit ihren sportlichen Vorbildern fördert die Motivation der zukünftigen Leistungsträger.
Dr. Hanspeter Gubelmann
Sportarten: Ski nordisch, Ski alpin, Leichtathletik, Bob, Skeleton, Judo, Eiskunstlauf, Tennis, Short Track, Kanu, Eishockey, Mountainbike, Schwimmen, Triathlon, Rhythmische Sportgymnastik u.a.
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- „Es geht darum, diese Marke (USA-Gymnastics) zu verkaufen. Diese Kinder werden alle von Erwachsenen angeleitet, ihren olympischen Traum wahrzumachen. Im Grunde benutzen sie den Traum eines Kindes, um eine Marke zu entwickeln. Und sie waren so damit beschäftigt, die Marke zu verkaufen, dass sie keine Zeit für diese Mädchen hatten.“ Dazu Anwalt John Manly: „Und da wusste ich es, mit wem ich es zu tun hatte: ich hatte es mit einer Organisation zu tun, die einen Dreck auf Kinder gab, die sich nur um sich selbst kümmerte und Vergewaltigungen deckte.“
Ich in meiner Funktion als Sportpsychologe bin mir meiner ethisch-moralischen Verpflichtung bewusst. Die Berufsordnung des Berufsverbandes schützt die Rechte und die Integrität aller Personen, die in eine psychologische Tätigkeit einbezogen oder direkt davon betroffen sind. Andererseits bin ich als Psychologe auch gebunden an die Schweigepflicht. Gemäss Artikel 364 StGB dürfen die nach Artikel 321 StGB zur Wahrung des Berufsgeheimnisses verpflichteten FachpsychologInnen der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde ohne Befreiung von der Schweigepflicht Mitteilung erstatten, wenn an einer minderjährigen Person eine strafbare Handlung begangen wurde.
- Kunstturnerin Rachael Denhollander sagt: „Ich wusste nicht viel mit 15 aber eins wusste ich: Missbrauchsopfer werden nicht gut behandelt. Sie werden belächelt, ausgefragt, für mitschuldig gehalten. Und das fügt dem Heilungsprozess unglaublichen Schaden zu. Ich wünschte, ich hätte damit vor 16 Jahren umgehen können. Damals konnte ich es nicht – aber ich kann es jetzt.“
Einen wichtigen Hinweis zum Verstehen und Begleiten sexuell missbrauchter Jugendlicher liefert ihr Anwalt John Manly: „Was viele Leute nicht sehen ist, dass das die erste sexuelle Erfahrung für fast alle dieser Mädchen war.“
Intimität und körperliche Nähe sind in diesem Alter oft verbunden mit fragilen Erfahrungen. Ein Übergriff erleben sie, als ob man ihnen etwas wegnimmt oder etwas beschädigt wird. Letzten Endes war es das, was Nasser wirklich tat, er hat ihnen eine liebvolle und intime Erfahrung gestohlen. Und sie kämpfen alle darum, diese wieder zurückzubekommen.
Gutes Ende?
Und wie geht es «Athlete A» Maggie Nichols heute? „Der Elite-Bereich von damals hat mich irgendwie klein gehalten. Inzwischen bin ich als Person und Frau gewachsen. Ich fand meine Liebe für den Sport wieder.“ 2018 wurde Maggie Nichols US-Mehrkampfmeisterin im Kunstturnen. Sie verteidigte 2019 ihren Titel erfolgreich.
Quellen
AthleteAFilm.com
Gertsch, C. & Steffen, B. (2015). Ariella Käslin – Leiden im Licht. Die wahre Geschichte einer Turnerin. Zürich: NZZ Libro.
Henriksen, K. und Stambulova, N. (2017). Creating optimal environments for talent development. In: J. Baker, S. Cobley, J. Schorer und N. Wattie (Eds.), Routledge handbook of talent identification and development in sport (S. 271-284). London: Routledge.
La Charte des droits de l’enfant dans le sport: un outil pour promouvoir la santé et protéger l’enfant dans le sport. P. Mahler, L. Bizzini. Paediatrica 2009;20(1):36-37. http://www.swiss-paediatrics.org/paediatrica/vol20/n1/pdf/36-37.pdf
https://www.tagesanzeiger.ch/sie-jagten-ihn-und-dann-kam-die-welle-ins-rollen-254408324115
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