Es ist die Gretchenfrage, die mir als Sportpsychologe seit Bekanntwerden der Corona-Pandemie am häufigsten gestellt wurde: «Was empfiehlt der Sportpsychologe im Umgang mit dieser aussergewöhnlichen Situation?» Meine provokativste aller Antworten lautete bisher: „Wär ich heute Spitzensportler, ich würde augenblicklich meinen Rücktritt vom Spitzensport erklären!“
Zum Thema: Passende Tipps und Anregungen für den Umgang mit der Krise
Szenenwechsel: Anfang dieses Jahres wurde ich gebeten, zusammen mit meiner Arbeitskollegin Cristina Baldasarre einen Artikel zum Thema Self-Enhancement im Sport und aus Sicht der Sportpsychologie zu verfassen (psychologie.ch: Sport soll Lebensschule sein). In unseren Darlegungen orientierten wir uns an der im Schweizer Sport häufig bemühten These, wonach Spitzensport eine gute Lebensschule sein kann, die u.a. positive Effekte auf die Persönlichkeitsentwicklung zeige. Corona-unvorbelastet und mit primärem Blick auf den heutigen Jugendleistungssport schlossen wir unsere Bestandsaufnahme mit folgender Abwägung: „Inwiefern Sport tatsächlich eine gute Lebensschule sein kann, hängt im Wesentlichen von einer individuell passenden Entwicklung des jugendlichen Selbst ab. Im Leistungssport der Kinder und Jugendlichen sind Grenzen dort erreicht oder überschritten, wo exzessive Ansprüche von aussen oder von innen dem Wohlergehen der jungen Menschen Schaden zufügen.“
Vier Monate später und auf dem Hintergrund eines mittlerweile achtwöchigen und nahezu weltweiten Lockdowns erscheint die Frage nach Selbstoptimierung im Spitzensport unter gänzlich veränderter Optik. Wie praktisch in allen anderen Berufen auch pausiert der Spitzensport. Anstelle einer klaren Zielorientierung auf Olympia, mit häufig egozentrisch und perfektionistisch getriebenen Handlungsweisen, finden sich die SpitzensportlerInnen in einem bis dato einzigartigen Horrorszenario wieder. Ich höre vom CH-Eishockey-Nachwuchstalent, das nach erfolgreichem Highschoolabschluss in Amerika jäh aus seinen nordamerikanischen Karriereträumen erwacht und in die Schweiz zurückkehren muss. Ich sehe das überglückliche Strahlen der jungen Golfspielerin im Zoom-Meeting, wie sie von der überschwänglichen Vorfreude auf das erste Training von kommender Woche auf dem wiedereröffneten Golfplatz spricht. Schliesslich erfahre ich von der Entscheidung einer Ikone des Wintersports, dass sie ihre Karriere mit den Olympischen Spielen 2022 beenden will.
Schock und Orientierungslosigkeit
Was die drei SportlerInnen mit allen anderen im ersten Moment teilten: Schockzustand, Verlust der sportlichen Perspektive, Ratlosigkeit. Interessant für mich ist die Erfahrung, dass die SportlerInnen in der Folge schnell über Karrierefrust und Existenzängste hinwegkommen sind und sich engagiert der neuen Herausforderung stellen. Auf die Frage nach dem „wie weiter“ gibt es aus meiner Sicht keine Pauschalantworten sondern stimmige, individuell passende – nämlich die besonderen Ressourcen der Athleten berücksichtigende – Lösungsansätze! In einer erkundenden Anamnese verwende ich hierzu ein Orientierungsraster, das sich aus einigen gängigen differential-psychologischen Ansätzen herleiten lässt.
1) Zwischen Sicherheit und Freiheit: Ist die Person vermehrt auf sozialen Support angewiesen oder will sie sich den offenen Raum zu Nutze kommen lassen?
2) Zwischen Kreativität und Perfektionismus: Will sich die Person kreativ inspirieren (lassen) oder sucht sie nach Möglichkeiten, bisher eher Versäumtes nachzuholen?
3) Zwischen Lage- und Handlungsorientierung: Sieht sich die Person eher als „Opfer“ der gegebenen Situation oder nimmt sie selbstvertrauend und selbstverantwortlich das Zepter in die eigene Hand?
4) Zwischen Rookie und Dinosaur: Was bedeutet diese Zäsur in Bezug auf den aktuellen Karriereabschnitt und die Fortsetzung der Karriere?
5) Zwischen Selbstbezogenheit und Wir-Gefühl: Wie orientiert sich die Person im sozialen Kontext, bevorzugt sie den „eigenen Weg“ oder vielmehr das Miteinander in der Gruppe?
6) Zwischen Plan A und Plan B: Was wird aus Plan A, wie sah eigentlich Plan B aus und wäre jetzt ein Plan C denkbar?
Dr. Hanspeter Gubelmann
Sportarten: Ski nordisch, Ski alpin, Leichtathletik, Bob, Skeleton, Judo, Eiskunstlauf, Tennis, Short Track, Kanu, Eishockey, Mountainbike, Schwimmen, Triathlon, Rhythmische Sportgymnastik u.a.
Kontakt:
+41 (0)79 789 45 13
h.gubelmann@die-sportpsychologen.ch
Mehr Infos: Zur Profilseite, zum Kompetenzzentrum mind2win.ch
Self-Enhancement im Dämmerlicht einer neuen Normalität
Ich versuche in meiner aktuellen Arbeit mit den AthletInnen, einen Teil des Weges durch den Corona-Tunnel gemeinsam mit ihnen zu gehen. Mein ressourcenfokussiertes Vorgehen orientiert sich vor allem an den konstruktivistischen Denkmustern und den reichen Erfahrungsschätzen des Gegenübers. Vielleicht triggert die aktuelle Situation beim jungen Sportler die Überzeugung, zukünftig konsequent(er) an seinen mental skills zu arbeiten. Die Golfspielerin erkennt in ihren guten Turnierleistungen zu Beginn des Jahres bedeutende technische Fortschritte. Sie spürt – mehr denn je – ihre Passion für ihren Sport, den sie ab kommender Woche wieder mit Leidenschaft und klarer Trainingskonzeption auf dem wiedereröffneten Golfplatz ausleben will.
Vielleicht war es meine provokante Äusserung „Danke Corona, für mich ist jetzt der letzte Applaus verhallt!“, die beim routinierten Athleten die Lunte zum ultimativen „indian summer“ seiner Karriere gezündet hat. In Anlehnung an den Psychoanalytiker Bert Hellinger erkenne ich heute noch deutlicher, wie sehr es für unsere „Lebensschule Spitzensport“ zutrifft, dass Umwege notwendig sind, damit wir die Landschaft besser kennenlernen.
FSP, psychologie.ch: Sport soll Lebensschule sein
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