Lars Lienhard, der Ex-Leistungssportler, Sportwissenschaftler und Athletik-Trainer ist Mitbegründer von „Focus On Performance“ und gilt als Gesicht der Neuroathletik im deutschen Sport. Lars Lienhard arbeitet seit Jahren erfolgreich mit Weltklasse-Athleten aus den unterschiedlichsten Sportarten zusammen und hat Athleten auf Olympische Sommer- und Winterspiele sowie Welt- und Europameisterschaften vorbereitet. 2014 feierte er als erster Neuroathletik-Trainer in der Geschichte des DFB den Weltmeistertitel in Brasilien und begleitete den Deutschen-Leichtathletik-Verband auf die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio.
Das Interview hat Katja Kramarczyk von Die Sportpsychologen (zur Profilseite) geführt.
Lars, du bietest deinen Sportlern mit Neuroathletik ein Trainingskonzept an, dass auf den neurologischen Grundlagen des Athleten basiert. Was steckt da genau dahinter?
Lars Lienhard: Das Gehirn und das Nervensystem sind Systeme, die die sportliche Leistung maßgeblich bestimmen. Neuroathletik beschäftigt sich mit den ganzen zentralnervösen Prozessen, die sich im Hintergrund abspielen und die Grundlage bilden, mit denen unser Gehirn das Bewegungsprogramm entwirft, bevor es dann zu einer Handlung kommt. Das Gehirn und Nervensystem macht eigentlich nur drei Dinge: es empfängt Informationen aus den Sinnesorganen (Input), analysiert und interpretiert und integriert diese blitzschnell (Integration) und reagiert mit einer Handlung (Output). Ein Output kann eine motorische Bewegung, eine Muskelverhärtung, aber auch ein Gedanke oder Schmerz sein. Die klassische Herangehensweise orientiert sich fast immer nur am Output, Neuroathletiktraining beschäftigt sich deutlich mehr mit dem Input und der Interpretation. Das fängt bei den Rezeptoren an, wo die Informationen aufgenommen werden, über die peripheren Nerven, den spinalen Nerven bis hin zu allen Hirnarealen, die diese Informationen verarbeiten und integrieren, mit denen unser Gehirn dann die Entscheidung für die nächste Handlung trifft und das dementsprechende Bewegungsprogramm erstellt.
Das entspricht nicht der Herangehensweise herkömmlicher Trainingskonzepte. Du plädierst für einen Perspektivwechsel?
Ja, denn wie präzise, kräftig, dynamisch oder koordiniert eine Bewegung erfolgt, ist das Endresultat aller Informationen, die im Gehirn ankommen, und ihrer Verarbeitung dort. Die Erkenntnisse über das Gehirn und Nervensystem als bewegungssteuernde Instanzen sowie deren praktische Umsetzung müssen in den Vordergrund rücken und in ein ganzheitliches Athletiktraining integriert werden. Unsere Leistungsfähigkeit ist immer davon abhängig, wie sich das Gehirn aufgrund der aktuellen Datenlage entscheidet. Bekommt das Gehirn also nicht ausreichende und hochwertige Informationen aus den bewegungssteuernden Systemen, werden Trainingsziele nur deutlich erschwert erreicht.
Umso besser die Informationen, umso besser dann auch die Leistung?
Ja. Das Gehirn ist evolutionsbiologisch ein Organ, das unser Überleben sichert und dafür zu jeder Zeit Umgebung und Körper scannt. Erscheint eine Situation nicht sicher und kontrollierbar, dann ergreift das Gehirn Schutzmaßnahmen, die immer leistungsmindernd wirken. Schutzmaßnahmen können das Reduzieren der Kraft, Bewegungseinschränkungen, aber auch muskuläre Verspannungen oder Schmerzen sein. Es entstehen hierdurch immer Kompensationsmuster. Es ist also wichtig zu verstehen, dass die Qualität der Leistung von der Qualität der Informationen abhängig ist. Hier sind vor allem drei Informationsquellen gefragt: das visuelle System (Sehen), das vestibuläre System (Gleichgewicht) und das propriozeptive System (Eigenwahrnehmung von Bewegung).
Wie sieht das in der Praxis aus?
Ich kann aus Qualitätsgründen immer nur mit dem Gehirn und Nervensystem eines Athleten arbeiten, unser Nervensystem ist so individuell wie ein Fingerabdruck und ein gutes neurozentriertes Arbeiten ist zunächst immer im 1:1 Setting. Jede Position, jede Bewegung, jede Sportart oder Disziplin hat ein neuronales Anforderungsprofil an das Gehirn und das zentrale Nervensystem des Sportlers. Ich überprüfe, ob das zentrale Nervensystem des Sportlers überhaupt in der Lage ist, den Anforderungen, die an ihn gestellt werden, im vollen Umfang Rechnung zu tragen oder es im individuellen neuronalen Profil etwas gibt, was in der gegebenen Situation nicht ausreicht, um diese optimal zu bewältigen. Da treffe ich oft auf die Situation, dass ein Sportler an spezifischen technischen Dingen wie z.B. der Armarbeit seit Jahren arbeitet und sich keine wesentlichen Verbesserungen zeigen. Dann liegt nahezu immer ein Softwareproblem vor.
Wie entsteht ein neuronales Anforderungsprofil?
Ich teste intensiv und ganzheitlich die Systeme des Sportlers und führe eine Anamnese durch, die mir zeigt, in welchem Kontext welche Verletzungen, Tonusprobleme, zugehende Muskeln etc. auftraten. Wenn beispielsweise alle Probleme auf der rechten Seite waren, gibt mir das bereits eine gute Orientierung, wo im Gehirn ich anfangen könnte. Zudem analysiere ich die Sportart oder Disziplin. Die neuronale Anforderung in den Spielsportarten ist zum Beispiel viel größer, weil die Athleten alles können müssen: stoppen, sich auf engstem Raum bewegen, springen, rotieren und es kommt zu wesentlich mehr Karambolagen, wodurch Gehirnerschütterungen auftreten.
Wie überprüfst du die Trainingsergebnisse?
Wir machen alles über Assessments und Re-Assessments, die mir sofort Rückmeldung über die Auswirkung des Trainings geben. Was für Übungen der Sportler bekommt, ist von seinem Output abhängig. Wenn ich den Input durch eine Augenübung verändere, bekomme ich unmittelbar das Resultat und kann schnell einschätzen, was dem Sportler gut tut und in welchem Bereich wir trainieren müssen.
Wieviel Zeit sollte ein Sportler in das Neuroathletiktraining investieren?
Es gibt neuroplastische Anpassungsgesetze und wir wissen heute, dass wir ungefähr 40 Stunden brauchen, um ein System neu zu strukturieren. Allerdings können wir mittlerweile gezielter Hirnareale ansteuern, indem wir aus verschiedenen Bereichen Informationen in ein Areal geben und somit mehr neuroplastische Kapazität erhalten (sogenanntes Priming). Laut Studien ist im motorischen Lernen somit eine bis zu 70% schnellere motorische Lernphase erreichbar. Soll heißen: Wir brauchen dann keine 40 Stunden mehr. Nichtsdestotrotz muss der Athlet 20-30 Minuten am Tag trainieren, wenn er Erfolge aufbauen will. Kurzfristig können wir tolle Wirkung erzielen, aber langfristige Leistung braucht Training.
Gibt es einen optimalen Einstieg in das Neuroathletiktraining?
Neuroathletiktraining ist mit Kindern möglich, indem ich spielerisch den Fokus auf die Augen, das Gleichgewicht und Gelenksbewegungen richte. Das beste Alter, um gezielt neuroathletisches Training durchzuführen, ist jedoch, wenn der Sportler sich mit den Themen auseinandersetzen kann. Im Allgemeinen sollte der Einstieg während der Saisonpause- oder in der Saisonvorbereitung starten, da durch das neuroathletische Training neue Muster und Ansteuerungen stattfinden und der Sportler so eventuell aus seinen gewohnten Konzepten, Bewegungsmechanismen oder Ritualen herauskommt. Meist arbeite ich jedoch mit Athleten, die mich während der laufenden Saison kontaktieren, da irgendwas beim Sportler akut nicht mehr geht und dann müssen wir den Reiz der Übungen individuell anpassen, so dass sich das Symptom bestenfalls auflöst aber keine zu großen neuronalen Umstellungsprozesse bewirkt werden.
Wie lange arbeitest du in der Regel mit einem Sportler zusammen?
Ich werde oft noch so behandelt wie ein Arzt, zu dem man hingeht, mit einem Problem und wenn das Problem gelöst ist, braucht man mich nicht mehr. Sportler, die jedoch verstehen, was das System kann und das es um die Optimierung der kompletten Bewegungsprozesse geht, die begleite ich bereits seit vielen Jahren. Die Besten der Besten verhalten sich alle gleich, egal ob Individual- oder Mannschaftssportler. Sie haben gelernt, dass sie nur so gut funktionieren, wie sie sich selbst optimieren, wie sie sich selbst fühlen und wie sie an sich arbeiten. Diese Athleten wissen, dass es um Qualität geht.
Neuroathletiktraining benötigt ein individuelles Training. Vereine und Teams arbeiten meist nach dem „One fit for all“ Prinzip. Wie sieht deine Zusammenarbeit aus und wie kann ein neuroathletisches Training integriert sein?
Aktuell sieht die Zusammenarbeit meist so aus, dass ich privat geholt werde und mit den Sportlern dann in der zur freien Verfügung stehenden Zeit arbeite. Es ist schwer neuronal mit einem ganzen Team zu trainieren, weil das neuronale Profil so individuell wie ein Fingerabdruck ist. Irgendwann ist es das Ziel, dass Trainingssysteme auf den neuronalen Gesetzmäßigkeiten basierend aufbauen und nicht neuronale Prozesse in herkömmliche Trainingssysteme integriert werden. Dies wird sich jedoch nicht so schnell ändern, weil der Markt von symptomorientierten Prozessen dominiert wird.
Neuroathletik erfährt in den vergangenen Jahren immer mehr Interesse bei Sportlern und Trainern. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Trainer neurozentrierte Methoden oder Material wie die Rasterbrille in das eigene Training integrieren. Was sollte ein Trainer beachten, wenn er Neuroathletik in sein Training berücksichtigt?
Es ist eine gute Entwicklung, wenn Trainer das Potential von Neuroathletik erkennen, aber die Methoden und Tools im Sinne von „One fit for all“ zu integrieren, funktioniert nicht. Störungen sind individuell und genau deshalb erstellen wir das individuelle neuronale Profil eines Sportlers. Wenn ich kein neuronales Profil habe und Material wie die Rasterbrille einfach anwende, kann der Trainer damit auch Sportler „zerstören“. Neuroathletik bedarf einer guten Ausbildung wie das Z-Health von Dr. Eric Cobb. Ein guter Trainer sollte sich ein Team aus Experten um ihn herum aufbauen und die Kompetenz ins Boot holen, die er benötigt.
Schniefen, Schielen oder die Zunge kreisen – Neuroathletisches Training sieht komisch aus. Wie hast du es geschafft, dass Neuroathletiktraining zu etablieren?
Das war keine einfache Zeit und nach wie vor betrachten viele Kräfte aus dem medizinisch-athletischen Bereichen die Neuroathletik mit Skepsis. Martin Weddemann, Mitbegründer von Fokus On Performance, und ich haben unsere Vision gegen sehr viele Widerstände platziert. Die Aufklärung durch ständigen Austausch, unsere Website www.fokus-on-performance.de und die ersten beiden Bücher über Neuroathletiktraining (siehe Tipps unten) waren wichtige Bausteine. Populär wurde das Neuroathletiktraining aber vor allem, weil sich Top-Sportlerinnen und -sportler wie Gina Lückenkemper, Per Mertesacker, Serge Gnabry, Tatjana Hüfner, Fabian Rießle, David Storl und weitere darüber in den Medien geäußert haben.
#Neuroathletik
Katja Kramarczyk und Dr. Fabio Richlan sind sich einig: Es lohnt sich, aus sportpsychologischer Perspektive das Thema Neuroathletik zu beleuchten. In ihrem Schwerpunkt erklären sie, was sich hinter dem Modewort verbirgt. Zeigen auf, was Trainer, Betreuer, Eltern und Sportpsychologen über neurowissenschaftliche Grundlagen wissen sollten. Und lassen einen der Köpfe der Neuroathletik-Szene zu Wort kommen.
Katja Kramarczyk: Mit Neuroathletik Gehirn und Körper in Verbindung bringen
Dr. Fabio Richlan: Neurowissenschaftliches Grundwissen für Trainer, Betreuer und Eltern
Lars Lienhard: Neuroathletik: Wie das Gehirn die sportliche Leistung beeinflusst
ZDF-Beitrag: Neuro-Athletik – Training von Gehirn und Sinnen (Link)
Zu den Autoren: Katja Kramarczyk, Dr. Fabio Richlan
Bücher über Neuroathletiktraining:
- Schmid-Fetzer, U. (2018). Neuroathletiktraining. Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings. München: Pflaum Verlag.
- Lienhard, L. (2019). Training beginnt im Gehirn. Mit Neuroathletik die sportliche Leistung verbessern. München: riva Verlag.
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