Als Handballerin begann ich 2016 mit Neuroathletiktraining. Augenliegestütze, Zungenkreisen, Handgelenksbewegungen oder Gurgeln erschienen mir schräg, da ich all die Jahre zuvor klassisch meine Fähigkeiten nach dem konditionellen Ansatz trainierte. Es wurde bis zu meinem Karriereende ein Puzzleteil meines täglichen Trainings. Ich hatte bereits während meiner aktiven Karriere das Vergnügen mit dem führenden Neuroathletiktrainer Lars Lienhard zusammenzuarbeiten. Heute als angehende Sportpsychologin dürfte ich ihn für ein Interview besuchen (Link zum Interview). Im folgenden Artikel stelle ich euch vor, was Neuroathletik ist, wie es die sportliche Leistung beeinflusst und wie ein Zusammenspiel zwischen Neuroathletiktraining und sportpsychologischem Training aussehen könnte.
Thema: Neuroathletiktraining und Sportpsychologie
Neuroathletik betrachtet Bewegung und Leistung auf eine ganz neue Art und Weise. Während die klassischen Trainingskonzepte die physiologischen und biomechanischen Aspekte des Trainings in den Fokus rücken, zeigt der neurozentrische Ansatz, dass das Gehirn der Chef des Körpers ist. Das Gehirn und Nervensystem sind die im Hintergrund operierenden Systeme, die die sportliche Leistung maßgeblich beeinflussen. Nichts passiert, ohne dass es vom Gehirn veranlasst oder genehmigt wurde, so Lienhard. Daher wäre es fahrlässig, die neuronalen Gesetze und Prinzipien außer Acht zu lassen.
Betrachtet man die Arbeitsweise des Nervensystems, macht es drei Dinge: Es empfängt sensorischen Input, analysiert und interpretiert diesen und reagiert mit einem Output. Im Fall des Sports ist der Output eine motorische Handlung wie ein Sprintschritt, ein Sprung oder ein Schuss. Aber auch eine Empfindung wie z.B. Schmerz oder ein Gedanke ist ein Output!
Neuronale Gesetze für Trainer, Betreuer und Sportpsychologen
Sind wir als Trainer, Sportpsychologen oder Physiotherapeuten nun daran interessiert, den Output zu verbessern, dann sollten wir die neuronalen Gesetze seiner Entstehung berücksichtigen und den Weg über die Optimierung des Inputs gehen (Schmid-Fetzer, 2018).
Hintergrund: Die Hauptaufgabe unseres Nervensystems ist es, das Überleben zu sichern. Alles ist also darauf ausgelegt, Gefahren und Situationen zu erkennen und darauf zu reagieren. Dafür scannt unser Gehirn zu jedem Zeitpunkt Umgebung und Körper. Sämtliche Informationen aus den sensorischen Organen laufen im Gehirn quasi durch einen „Gefahrenfilter“. Ist eine Situation nicht eindeutig sicher, ergreift das Gehirn Maßnahmen, um den Organismus zu schützen. Diese Schutzmaßnahmen können sich als Schmerzen, Bewegungseinschränkungen, muskuläre Verspannungen, immunologische Reaktionen oder Angsterscheinungen äußern. Jedes Warnsignal ist immer eine Aufforderung zum Handeln!
Drei bewegungssteuernde Systeme
Betrachten wir die Informationen, die unser Gehirn für eine bestmögliche Sicherheit braucht, sind drei bewegungssteuernde Systeme gefragt:
- Das visuelle System: Es umfasst den gesamten Bereich der Informationsaufnahme, Verarbeitung und Auswertung visueller Informationen im Gehirn sowie die Augenbewegungen.
- Das Gleichgewichtssystem: Das Gleichgewichtsorgan zeigt uns, wo wir uns im Raum befinden, zudem koordiniert und stabilisiert es uns.
- Das propriozeptive System: Die wichtigste Aufgabe dieses Systems ist die Wahrnehmung der Position und Stellung sowie die Bewegung der Gelenke, um ein Bild der eigenen Bewegung zu erzeugen.
Aus diesen drei genannten Systemen braucht das Gehirn also klare, hochwertige und ausreichende Informationen sowie gut funktionierende Gehirnareale, die diesen Input analysieren und integrieren. Mangelhafter Input limitiert den Output. Wer sich diesen Zusammenhängen annimmt, blickt anders auf die sportliche Leistung von Sportlern. Ein Beispiel: Hat ein Fußballer ein Koordinationsproblem mit den Augen und kann beide Augen nicht perfekt auf das Objekt ausrichten, so wird er in 1:1 Situationen seinen Gegner immer zu weit oder zu nah an seiner eigenen Position berechnen und kann eigene Handlungen nicht adäquat äußern. Das steigert die Wahrscheinlichkeit von Fehlverhalten und falschen Entscheidungen.
Wie Gehirn und Körper kommunizieren: Feeding Pattern
Nach der Informationsaufnahme durch die drei Systeme erfolgt der Transport sowie die Integration und Auswertung in den Hirnarealen. Betrachtet man den Informationsfluss, so erkennt man ein Muster, nach dem die Hirnareale mit Informationen versorgt werden. Der Input aktiviert die Hirnareale von unten nach oben und von hinten nach vorne. Diesen Fluss der Informationen bezeichnet Schmidt-Fetzer (2018) als Feeding Pattern des Gehirns.
Im Neuroathletiktraining werden gezielt die Bereiche des „alten“ Gehirns (Stammhirn, Kleinhirn, limbisches System) angesprochen, um die Funktionalität dieses Bereiches zu verbessern. Wenn die alten Input-Verarbeitungsstrukturen besser arbeiten, dann hat das -aufgrund des Aktivierungsverlaufs (siehe Bild oben) – positive Wirkung auf das „neue Gehirn“ (Kortex).
Eine Kombination aus Neuroathletik und Sportpsychologie
Im Fokus der Sportpsychologie stehen meist die vorderen Hirnareale (Kortex), wo kognitive Prozesse wie Wille, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Lernen oder Vorstellungskraft reguliert werden. All diese Prozesse sind für den Athleten leichter verfügbar, wenn die entsprechenden Hirnareale besser funktionieren (Schmid-Fetzer, 2018). Neuroathletiktraining nutzt starke, positive Stimuli, um die Aktivität bestimmter Hirnareale hochzufahren, so dass der darauffolgende Reiz – das eigentliche Training – besser integriert werden kann. Neuroathletiktraining könnte demnach für das sportpsychologische Training eine gute Vorarbeit leisten, indem es – ausgehend vom neuronalen Profil des Athleten – die Funktionen genau der Systeme optimiert, mit denen wir arbeiten.
Praxisbeispiel Bewegungsvorstellung: Die Bewegungsvorstellung wird von vielen Sportlern genutzt und hat durch die einfache praktische Anwendung großes Potential. Die optimale Vorstellung von Bewegungsabfolgen und -abläufen (Rennrunden, Streckenprofil) sowie deren innerliche Simulierung ist jedoch auch abhängig davon, wie gut die bewegungssteuernden Systeme und die involvierten Hirnareale aktuell funktionieren. Wie gut funktionieren die Systeme, mit denen der Sportler sich, seine Bewegung und seine Umgebung wahrnimmt? Wie gut arbeiten die neuronalen Kerne, die seine Wirbelsäule stabilisieren? Und wie präzise kann das Kleinhirn seine Bewegung steuern? Liefern beide Gleichgewichtsorgane eine gute Orientierung im Raum? Aspekte wie die Körperhaltung, Umgebung oder Geschwindigkeit kennzeichnen die individuelle Bewegungsvorstellung und sind Grundlage für das mentale Training. Mit Blick auf das Verständnis des neuroathletischen Ansatzes, ist es vor dem Bewegungsvorstellungstraining doch wichtig zu wissen, wie der Status Quo der Systeme des Sportlers ist. Mit dem Wissen über das individuelle neuronale Profil des Sportlers könnten auch sportpsychologische Trainingsmethoden gezielter und effektiver angewendet werden.
Neuroathletik bei den Olympischen Spielen
Lars Lienhard berichtet mir im Interview von folgender Situation mit Tatjana Hüfner (Olympiasiegerin und Weltmeisterin im Rennrodeln) in der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi: Während der Visualisierung der Rennstrecke hatte sie Probleme mit den Linkskurven und ihr Körper baute während der Visualisierung starke Spannungen auf. Durch eine anschließende Aktivierung des linken Gleichgewichts und Übungen zum peripheren Sehen konnte das ideomotorische Systemproblem gelöst werden und die Vorstellung von ihren Bewegungen sowie der Rennstrecke war deutlich verbessert. Mit einem defizitären Gleichgewicht auf der linken Seite hat der Sportler auch eine Bewegungsvorstellung mit einem defizitären linken Gleichgewicht, so Lienhard. Rhythmus, Kulisse und Bewegungsabläufe sind nicht optimal. Aktiviere ich über Reize die Hirnareale die bei der Bewegungsvorstellung beteiligt sind, bekomme der Sportler ein viel klareres bewegungsvorstellendes Bild.
Die Aktivierung der Hirnareale, die der Sportler für das Training braucht, spielt eine wesentliche Rolle. Damit erweitert Neuroathletiktraining das Spektrum für Sportler enorm und bietet eine neue Perspektive auf ein ganzheitliches Training. Bewegungen zu optimieren, zu steuern und zu kontrollieren sind gemeinsame Ziele der Neuroathletik und der Sportpsychologie. Wissenschaftliche Befunde zum Neuroathletiktraining liegen aktuell nicht vor, da das Nervensystem eines Sportlers so individuell wie ein Fingerabdruck ist. Die Liste namhafter Sportler und Sportlerinnen, die auf Neuroathletik vertrauen, ist beachtlich. Es wird also Zeit, sich mit Neuroathletik und den neuronalen Prozessen genauer zu beschäftigen. Durch das Zusammenspiel aus Neuroathletiktraining und Sportpsychologie können die praktischen Methoden individualisiert und so effektiver werden – mehr als nur eine Gelegenheit für eine enge Zusammenarbeit der zwei Felder.
#Neuroathletik
Katja Kramarczyk und Dr. Fabio Richlan sind sich einig: Es lohnt sich, aus sportpsychologischer Perspektive das Thema Neuroathletik zu beleuchten. In ihrem Schwerpunkt erklären sie, was sich hinter dem Modewort verbirgt. Zeigen auf, was Trainer, Betreuer, Eltern und Sportpsychologen über neurowissenschaftliche Grundlagen wissen sollten. Und lassen einen der Köpfe der Neuroathletik-Szene zu Wort kommen.
Lars Lienhard: Neuroathletik: Wie das Gehirn die sportliche Leistung beeinflusst
Dr. Fabio Richlan: Neurowissenschaftliches Grundwissen für Trainer, Betreuer und Eltern
Katja Kramarczyk: Mit Neuroathletik Gehirn und Körper in Verbindung bringen
ZDF-Beitrag: Neuro-Athletik – Training von Gehirn und Sinnen (Link)
Zu den Autoren: Katja Kramarczyk, Dr. Fabio Richlan
Literatur:
Schmid-Fetzer, U. (2018). Neuroathletiktraining. Grundlagen und Praxis des neurozentrierten Trainings. München: Pflaum Verlag.
Lienhard, L. (2019). Training beginnt im Gehirn. Mit Neuroathletik die sportliche Leistung verbessern. München: riva Verlag.
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