Dr. René Paasch: Videobeweis – und der richtige Umgang damit

Gleich zweimal kommt der Videobeweis im Frauen WM-Achtelfinale zwischen Deutschland gegen Nigeria zum Einsatz und sorgt für viel Unruhe. Die Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg äußerte sich dazu wie folgt: „Die vielen Unterbrechungen sind emotional schwierig. Vielleicht kommen wir in einen Prozess, bei dem alles ein bisschen schneller geht – die Kommunikation und die Entscheidung.” Wie problematisch der Umgang mit schwierigen Entscheidungen sein kann, zeigen die Spielerinnen aus  Kamerun. Nach Videobeweis-Einsätzen in ihrem Achtelfinale gegen England wollten sie mehrfach in Streik treten. Lässt es sich üben, richtig auf solche Situationen zu reagieren?

Zum Thema: Der richtige Umgang mit Spielunterbrechungen und Schiedsrichterinnen-Entscheidungen

Mehr Infos zu Dr. René Paasch: https://www.die-sportpsychologen.de/rene-paasch/

Der bekannte Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman und sein Kollege Amos Tversky (2012) wiesen nach, dass Menschen sehr häufig Entscheidungen unter erschwerten Bedingungen treffen müssen. Ähnliches gilt für Fußballerinnen bei großen Turnieren, die mit Entscheidungen der Schiedsrichterinnen umgehen müssen. Ihnen stehen entweder nicht alle relevanten Informationen zur Verfügung (individuelle Wahrnehmung) oder es fehlt die Zeit. Allerdings lassen sich selbst unter Wettkampfbedingungen gute Entscheidungen treffen, indem Spielerinnen schnelle und vereinfachende Strategien anwenden, so genannte Heuristiken (Hüttermann, Memmert, Simons, 2014). Hintergrund: Die meisten Verzerrungen entstehen, wenn Spielerinnen bei ihren Entscheidungen Informationen heranziehen, die unter Stress gesammelt worden sind. Oft sind die Sportlerinnen sich dabei gar nicht bewusst, wie Nebensächlichkeiten ihr Verhalten auf dem Platz beeinflussen. 

Intuitive Entscheidungen führen, wie auch schon bei der WM zu beobachten, zu plötzlichen emotionalen Wutausbrüchen gegenüber der Schiedsrichterin, ohne diesen näher begründen zu können (bei Foulspiel, Strafstoß, Abseitsstellung etc.). Derartige Verhaltensweisen lassen sich konkret durch Feedback, Videosequenzen und Gespräche verbessern. Der regulative Lernerfolg hängt dabei maßgeblich von der zeitnahen Auseinandersetzung und entsprechenden Trainings ab: Sie sollte am besten unmittelbar im Anschluss des Spiels und möglichst präzise erfolgen. Eine weitere vielversprechende Möglichkeit ist das achtsamkeitsbasierte Training. 

Näheres zum Thema Bewertungen finden Sie hier: 

https://www.die-sportpsychologen.de/2017/06/22/dr-rene-paasch-ruediger-und-der-hass/

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/05/17/dr-rene-paasch-mit-erfolg-und-misserfolg-umgehen/

Achtsamkeitstraining

Zugegeben, Achtsamkeit ist ein Modewort. So hat auch das achtsamkeitsbasierte Training das Interesse des Leistungssports geweckt. Dennoch galten im Sport die Praktiken der Achtsamkeit lange als unwissenschaftlich. Erst durch die Aufnahme achtsamkeitsbasierter Verfahren in der klinischen Psychologie und eine stetige Überprüfung ihrer Wirksamkeit hat sich ihr Ruf gewandelt. Dieses Training wird definiert als ein nicht bewertender Fokus der eigenen Aufmerksamkeit auf die augenblickliche Erfahrung. Das Ziel dabei ist ein Verweilen im Hier und Jetzt zu erreichen, ohne die empfundenen Gefühle, Gedanken oder Wahrnehmungen während des Spiels zu bewerten. Nach dem Modell von Dimidjian und Linehan (2003) beinhaltet Achtsamkeit zwei Dimensionen: “Was“ und “Wie“. Die Was-Dimension beschreibt, was die Achtsamkeit ausmacht und die Wie-Dimension bezieht sich auf die Art und Weise, wie vorgegangen wird. 

Weiteres dazu finden Sie hier: https://www.die-sportpsychologen.de/2016/09/21/dr-rene-paasch-der-trend-zur-achtsamkeit/ 

Innerer Dialog und Gedankenstopp

Auch Techniken der Selbstgesprächsregulation können unseren Spielerinnen helfen, den Umgang mit schwierigen Schiedsrichterentscheidungen zu verbessern. In solchen Situationen sollten innere Gespräche handlungsfördernd sein und nicht hemmend oder eskalierend wirken, was sich relativ einfach trainieren lässt. Diese regulatorische Form der positiven Beeinflussung ist mächtig. Aber vielen Fußballerinnen ist gar nicht bewusst, welchen Einfluss ein schlechtes inneres Gespräch haben kann. 

Auch die Technik des “Gedankenstopps” kann effektiv zur Reduktion handlungsbegleitender negativer Gedanken vor und während des Wettkampfes oder Trainings eingesetzt werden. Hier lernen Fußballerinnen, das Aufkommen von negativen Gedanken durch die Konzentration auf positive Gedanken zu unterbinden und somit die negativen, störenden Kognitionen zu stoppen (= Gedankenstopp). Wesentlich für die Effektivität dieser Technik ist es, dass diese “Ersatzgedanken” positiv besetzt sind. Somit lernen Fußballerinnen, sich nicht auf die negativen Gedanken zu konzentrieren, sondern diese bewusst abschalten zu können und durch positive Kognitionen zu ersetzen.

Fazit 

Neben den bekannten Methoden der Sportpsychologie werden immer mehr achtsamkeitsbasierte Interventionsverfahren und Heuristiken im Fussball genutzt. Im Vordergrund stehen hier der reflektierende, achtsame und akzeptierende Umgang mit Schiedsrichterentscheidungen sowie förderliche Selbstgespräche. Gern helfen meine Kollegen (zur Übersicht) und ich (zum Profil von Dr. René Paasch) bei der Anwendung weiter.

Mehr zum Thema:

Literatur 

  1. Kahneman, D. (2012): Schnelles Denken, Langsames Denken. Siedler Verlag, München, aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt, 27. Juni 2012, ISBN 978-3-88680-886-1 (Abgerufen am 4. April 2014). Original: Daniel Kahneman: Thinking, Fast and Slow. Macmillan, 25. Oktober 2011, ISBN 978-1-4299-6935-2 (Abgerufen am 8. April 2012).  
  2. Hüttermann, S., Memmert, D. & Simons, D. J. (2014): The size and shape of the attentional “spotlight” varies with differences in sports expertise. Journal of Experimental. Psychology: Applied, 20, 147-157. doi: 10.1037/xap0000012
  3. Dimidjian, S., & Linehan, M. M. (2003). Defining an agenda for future research on the clinical application of mindfulness practice. Clinical Psychology: Science and Practice, 10(2), 166-171.

Internet: 

https://rp-online.de/sport/fussball/frauen/wm/frauen-wm-2019-dfb-frauen-profitieren-im-wm-achtelfinale-vom-videobeweis_aid-39607065

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Prof. Dr. René Paasch
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