Dr. René Paasch: Anliegen statt Ziele – Was Trainer, Funktionäre und Spieler über den Trend wissen sollten

Für Trainer gilt es als eine der wichtigsten Aufgaben, eine Mannschaft auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. Doch ist dieses Vorgehen, sind Ziele überhaupt noch zeitgerecht? Häufig erlebe ich, dass viele Sportler und Trainer nur sehr schwer damit umgehen, wenn Ziele erreicht werden. Immer wieder kommt dann die Frage auf, was nun eigentlich käme? Aber es geht auch anders: Wenn Trainer, Verantwortliche und Spieler anstelle von Zielen gemeinsame Anliegen formulieren. Der Vorteil: Anliegen provozieren mehr Orientierung und Glück als kurzfristig fremdgesteuerte Ziele. Dieser Beitrag soll Trainern, Funktionären und Führungsspielern helfen, genau diesen Gedanken schon in der Vorbereitung zur neuen Saison zum Leben zu erwecken.  

Zum Thema: In der saisonalen Vorbereitung Anliegen entwickeln 

Die moderne Psychologie hat sehr fundiert nachgewiesen, dass jeder Versuch, einen Menschen durch das „in-Aussicht-stellen“ von Belohnungen oder durch die Androhung von Bestrafungen zu “motivieren”, zwangsläufig zu einer Unterdrückung seiner intrinsischen Motivation führt. Je mehr von außen gedrückt wird, desto weniger kommt von innen an die Oberfläche. Menschen sind eben keine Quetschbeutel, die sich nach Belieben benutzen lassen.

„Wir brauchen Profivereine,
deren Trainer und Spieler einander einladen,
ermutigen und inspirieren, über sich hinauszuwachsen.“

Dr. René Paasch

Denken wir an die Isländer bei der EM 2016: Ihr Weg bis ins Viertelfinale ist uns sicher allen in Erinnerung geblieben. In Island ist dieses Turnier zu einem historischen Ereignis geworden. Ein Zehntel der Bevölkerung reiste spontan zur Fußball-EM nach Frankreich. Der Rest der Nation saß vor den Fernsehern oder traf sich auf öffentlichen Plätzen. Mit ihrem beherzten Spiel war das unbekannte Team die große EM-Überraschung. Offenbar liegt dort das Geheimnis für großartige und nachhaltige Leistungen – denn die Isländer jagten nicht irgendeinem Ziel hinter, sondern sie verfolgten ein Anliegen.

Ziele sind gar nicht so erstrebenswert

Demgegenüber setzen sich Vereine und Mannschaften häufig eigene Schwerpunkte und berücksichtigen dabei nicht den Einzelnen: Es geht um ein übergeordnetes langfristiges Ziel, das einen besseren Zustand oder Platzierung verspricht. Dabei sind Ziele, die man erreichen kann, gar nicht so günstig. Denn hat man diese erreicht, ist auch die langfristige Orientierung nicht mehr vorhanden, wie auch die jetzige Situation im Deutschen Fussball und die damit verbundene Transformation sehr deutlich zeigt. Was wirklich Orientierung bietet, ist ein Anliegen, welches begeistert und verbindet.

Hinzu kommt: Ein Anliegen kann man auch teilen. Denn gemeinsame Anliegen liegen allen Beteiligten im Fussball gleichermaßen am Herzen. Sie sind bereit, etwas auf sich zu nehmen. Sie sind der langfristige Wegweiser und viel konkreter als Ziele.

Der neue Ansatz

Mehr Infos zu Dr. René Paasch: https://www.die-sportpsychologen.de/rene-paasch/

Anliegen können Sportler eigentlich nie erreichen, aber allen Beteiligten haben jeden Tag gute Gründe, sich dafür einzusetzen. Aus meiner Erfahrung wirkt das kohärenzstiftend: Statt Meister werden zu wollen, könnte man sich zum Anliegen machen, auf Basis einer bestimmten Spielphilosophie Kicker langfristig zu entwickeln und diese dann an den Verein zu binden. So nähert man sich mit jeder kleinen Aktivität ein Stück dem langfristig gewählten Anliegen (Profivertrag, Balance zwischen Erfolg und Misserfolg, Ligazugehörigkeit u.v.m.).

Ein Anliegen ist eine Orientierung für das, was man tut. Es verhindert, dass man sich durch kurzfristige Ziele ablenken lässt. Es gibt eine Richtung für die eigene Weiterentwicklung und das eigene Handeln vor. Im heutigen Fussball ist es für Vereine allerdings fast unmöglich, langfristige Anliegen zu verfolgen. Dafür dürften Trainer und Spieler sich nicht einreden lassen, was sie noch alles bringen müssten, um zufrieden oder gut zu sein. Der Leistungsfussball baut darauf, dass Akteure keine langfristigen, gemeinsamen Anliegen entwickeln können. Heute sind Trainer und Spieler noch überwiegend Manipulationsmasse für das System im Fussball, das mehr Leistungsdruck vertreibt als es eigentlich möglich ist. Ständig müssen Talente gewonnen werden – und das geht nur, wenn diese hinreichend fremdgesteuert sind. Können Vereinsangehörige glücklich sein und wachsen, ohne sich mit sich selbst, mit anderen Menschen und allem, was ihn umgibt, verbunden zu sein? Wir sind nicht nur davon abhängig, wir brauchen diese Verbundenheit auch, um uns weiterzuentwickeln. Es ist nur so, dass offenbar viele Funktionäre und Aktive im Fussball keine allzu positiven Erfahrungen mit Gleichgesinnten oder Vereinen gemacht haben. Sie lehnen es ab, sich diese Verbundenheit bewusst zu machen. Manche schaffen es sogar, ihr angeborenes Bedürfnis nach Verbundenheit zu unterdrücken (Leere Versprechungen, Lügen, Intrigen, geldwerter Vorteil). Bei ihnen dieses Gefühl wieder zu wecken und das Bewusstsein dafür zu schärfen, ist das, was ich als Teil meiner sportpsychologischen Arbeit begreife.

Fazit

Neurobiologische Erkenntnisse und praktische Erfahrungen weisen darauf hin, dass Menschen und Teams langfristige Anliegen verfolgen sollten, um sich nicht in alltäglichen Belastungen und Problemen zu verlieren. Vielmehr benötigt der Leistungssport Fussball eine neue, würdevollere Art des Umgangs und die Verfolgung von Anliegen.

Sie suchen Vereinsangehörige, Trainer und Spieler, die mehr als nur hochmotiviert, begeistert und kompetent sind? Dann schaffen Sie eine Vereinsphilosophie höchster Wertschätzung und kreieren sie dabei ein wegweisendes Anliegen. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Traum oder die Aufgabe des Vereins und der Mannschaft hat zum Anliegen eines Jeden zu werden. Nur so ist Nachhaltigkeit und Langfristigkeit möglich.

Mehr zum Thema:

https://www.die-sportpsychologen.de/2017/03/20/dr-rene-paasch-ziele-und-motivation/

https://www.die-sportpsychologen.de/2018/10/03/thorsten-loch-und-lisa-rueckel-teamentwicklung-von-forming-zu-storming/

https://www.die-sportpsychologen.de/2016/08/01/dr-rene-paasch-per-woop-zum-saisonziel


Literatur

Thomas Schmitt, T. (2008): Das soziale Gehirn. Eine Einführung in die Neurobiologie für psychosoziale Berufe. Psychiatrie Verlag GmbH (Bonn) 2008. 168 Seiten. ISBN 978-3-88414-456-5.

Gerald, H. Bauer, N. Müller, S. (2018): Wie Träume wahr werden: Das Geheimnis der Potentialentfaltung Gebundenes Buch.  Goldmann Verlag

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