Eine Standardfrage zur Angewandten Sportpsychologie lautet: Mit welchem Thema hast du dich am meisten zu befassen? “Leistungssteigerung!” So weit meine Standardantwort. Heute – insbesondere nach Dominique Gisins Vortrag „Making It Happen” anlässlich einer Fortbildungstagung in Nottwil – bin ich geneigt zu sagen: “die mentale Rehabilitation von Sportverletzungen!”
Zum Thema: Umgang mit Sportverletzungen
In ihrem sehr lesenswerten Buch beschreibt Dominique Gisin, die Abfahrts-Olympiasiegerin von 2014, den langen und schmerzvollen, letztlich aber auch sehr erfolgreichen Karriereweg. Von 2000 bis 2015 hatte die Skifahrerin zwölf (!) schwerwiegende Verletzungen zu überwinden. In ihren Schilderungen bin ich an jener Passage gedanklich hängengeblieben, wo sie ihre Situation im Anschluss an ihr neuntes Verletzungserlebnis folgendermassen beschrieb (2019, S.119):
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«Etwas in mir zerbrach. Mein Körper weigerte sich, weiterhin Risiken einzugehen. Obwohl ich nach dieser Verletzung und einer perfekt verlaufenen Rehabilitation wieder schmerzfrei trainieren konnte, fühlte ich mich nicht mehr wie zuvor. Nach all diesen Verletzungen wollte mein Körper nicht mehr mitmachen. Es war nicht schwierig zu verstehen, es war einfach eine menschliche Reaktion. Als Athletin fiel es mir aber unglaublich schwer, damit umzugehen. Ich fühlte in jeder Kurve, wie viel möglich wäre. Es gelang mir jedoch nicht diese Handbremse zu lösen.»
Wenn die Zweifel kommen…
Als Sportpsychologe stellte ich mir die Frage nach dem Ursprung dieser „Handbremse“. Aus meiner Praxiserfahrung in der Begleitung von verunfallten SportlerInnen habe ich erfahren müssen, dass die Weichen für eine sportlich erfolgreiche Rückkehr auf die Wettkampfbühne bereits vor Beginn des eigentlichen Reha-Prozesses gestellt werden.
In meiner Einführungsvorlesung „Sportpsychologie“ an der ETH Zürich eröffne ich das Thema „Sportverletzungen“ meist mit einer Binsenwahrheit: Wer viel Sport treibt – ob Spitzensportler oder Breitensportlerin – setzt sich automatisch einem erhöhten Verletzungsrisiko aus. Im Fall des Spitzensportlers kommt eine Verletzung aber einem Arbeitsunfall gleich, der als stressauslösende Zäsur wahrgenommen wird und zunächst den weiteren Saisonverlauf in Frage stellt. Bei einer schwerwiegenden Verletzung mit einer im Idealfall vier- bis neunmonatigen Rehabilitation ist mit einer ungleich höheren psychophysischen Stressreaktion zu rechnen. Insbesondere in der Akutphase einer ernsthaften Verletzung weisen Athleten hohe Depressions- und Frustrationswerte auf (Hermann & Mayer, 2003). Sie sind gepeinigt von der Ungewissheit, pendeln zwischen Wut und Niedergeschlagenheit, haben Ängste, spüren ihre Ungeduld und äussern Befürchtungen hinsichtlich der Weiterführung ihrer Karriere (vgl. Hermann & Eberspächer 1994). Am Anfang einer erfolgreichen Rehabilitation steht zuerst ein psychologisches Problem: das psychische Bewältigen einer Verletzung!
Treat the person, not just the injury…
Wie hoch die psychologische Hürde letztlich ist, hängt vom Schweregrad der Verletzung (z.B. in Verbindung mit Gehirnerschütterung, Bewusstlosigkeit etc.), den gegebenen Unfallursachen, von Vorerfahrungen im Umgang mit Verletzungen, Persönlichkeitsmerkmalen u.a. ab.
Erstrangiges Ziel einer sportpsychologischen Intervention vor Beginn einer Verletzungs-Reha muss sein, einerseits die Verletzung als Tatsache zu akzeptieren, andererseits die persönliche emotionale Verletztheit zum Ausdruck bringen zu können. Erst dann wird der Athlet in der Lage sein, seine positive emotionale Energie wirksam in den Rehabilitationsprozess investieren zu können. Leider stellt sich ein bis heute im Spitzensport unverändertes Problem (vgl. Horwath et al. 2004): Eine Konsultation eines Sportpsychologen in diesem Stadium wird kaum erwogen wird, sei es aufgrund von Schamgefühlen, Berührungsängsten mit der Psychologie oder nicht vorhandener Kontaktmöglichkeiten.
Die Laienkonsultation am Anfang einer Intervention… Der Fall Reto Schmidiger
Ich kann mich noch gut an das Telefongespräch mit dem Schweizer Weltcup-Slalomfahrer Reto Schmidiger erinnern, als er mir im Anschluss an seinen Sturz im Rennen von Val d’Isère von seiner schlimmen Verletzung berichtete. Wir hatten davor schon längere Zeit zusammen gearbeitet, verabredeten uns sogleich für ein weiteres Treffen, wobei ich ihm die Idee mit auf den Weg gab, den Kontakt zu ihm nahestehenden Personen zu suchen.
Der Vorschlag, vor Beginn eines Rehabilitationsprozesses die Konsultation eines „Laien“ zu präferieren, mag zunächst überraschen. In erster Linie soll ein derartiger Austausch mit einer persönlichen Vertrauensperson psychohygienisch wirken. Weiter bietet der Austausch mit Laien eine gute Gelegenheit, die neue Situation besser einzuschätzen und realistische Erwartungen aufzubauen (Bianco, 2001). Als besonders wertvolle „Laien“ bezeichnen Horwath et. al. (2004) Ansprechpersonen, die ebenfalls Spitzensportler sind und auf eine möglichst ähnliche Verletzung mit erfolgreicher Rehabilitation und Comeback zurückblicken können, die nicht länger als zwei Jahre zurückliegt.
Austausch mit Simon Ammann
Mittlerweile ist Reto in der vergangenen Saison erfolgreich in den Ski-Weltcup zurückgekehrt. In unserem Debriefing mit Blick auf die vergangenen zwölf Monate stellte ich ihm kürzlich folgende Frage: In der Rückblende auf deinen Rehabilitationsverlauf – was waren die „mentalen Knackpunkte“? Reto: “Der erste kam ganz zu Beginn und war ein heftiger und hatte mit dieser damals unbekannten Realität zu tun: Wie kann ich mit dieser Situation überhaupt klar kommen? Und natürlich die Entscheidung betreffend Operation: Ja oder Nein? Wenn Ja, wo lässt man sich operieren? (…) Die ersten drei, vier Tage habe ich hauptsächlich am Telefon verbracht und mit vielen Athleten gesprochen die Dasselbe oder Ähnliches schon erlebt hatten. Es waren wichtige und sehr persönliche Gespräche.”
Reto entschied sich in der Folge für einen sehr offenen Umgang mit Informationen zu seinem Comeback. Er betrieb u.a. einen Blog auf Facebook. In dieser Zeit nutzte er auch weiterhin den Austausch mit „Laien“ – so z.B. mit dem Skispringer Simon Ammann. Er kontaktierte den Olympiasieger persönlich, als er sich mit der Frage beschäftigte, welche Strategie er sich für den Start in Val d’Isère zulegen sollte – an jenem Ort also, wo er vor Jahresfrist folgenschwer stürzte. Ihn interessierten Ideen und Aktivitäten des Skispringers zu dessen Weg zurück nach Bischofshofen, wo Simon 2015 seinen heftigen Sturz erlitt. Ein auf Youtube und Facebook zugängliches Filmdokument zeigt auf sehr eindrückliche Weise, wie Reto schliesslich seinen Weg zurück nach Val d’Isère gefunden hat:
Lesson learned: Was „Laie“ Reto Schmidiger sagt und der Sportpsychologe rät
Angesprochen auf die Frage, was er einem Athleten im Hinblick auf ein erfolgreiches Comeback nach Kreuzbandverletzung mitgeben würde, meinte Reto: “Er soll sich Zeit lassen und auf seinen Körper hören. Es gibt zwar diese Anhaltspunkte bei Kreuzband-Reha’s (sechs Monate nach der OP zurück auf den Schnee, nach neun Monaten rennbereit) aber wenn du kein gutes Gefühl am Start hast – ob im Training oder beim Rennen – macht es keinen Sinn, zu fahren. Es ist eine schwierige Entscheidung nicht zu fahren – aber in einem solchen Moment ist es die Richtige.”
Aus Sicht der Angewandten Sportpsychologie fehlt es an aktuellen Interventionsstudien in Verbindung mit „best practise“-Anleitungen, wie sie Marcolli (2002a, 2002b) im Rahmen seiner damaligen Forschungsarbeit entwickelt hat. Der psychischen, insbesondere der emotionalen Bewältigung eines Verletzungserlebnisses kommt in der sportpsychologischen Betreuungsarbeit vorrangige Bedeutung zu. Dabei sollten alltägliche (Laien-)Interaktionen gezielter zur positiven Beeinflussung emotionaler oder kognitiver Zustände des Athleten genutzt werden (vgl. Kleinert & Liesenfeld 2003, S.77). Hinzu kommt die verstärkte Berücksichtigung des Hintergrunds der emotionalen Situation (z.B. soziale Unterstützung im Umfeld, Medien etc.). Meine Kollegen (zur Übersicht) und ich (zum Profil von Dr. Hanspeter Gubelmann) stehen gern bereit, bei diesem Prozess zu helfen. Empfehlen möchte ich einige weitere Texte zum Thema, darunter ein aktueller Schwerpunkt-Beitrag von Andreas Meyer:
https://www.die-sportpsychologen.de/2019/02/26/andreas-meyer-sportpsychologie-und-sportverletzungen/
https://www.die-sportpsychologen.de/2015/06/02/philippe-mueller-verletzungen-bewaeltigen/
Literatur
Bianco T. (2001): Social support and recovery from sport injury: elite skiers share their experiences. Research Quarterly for Exercise and Sport, 72, p.376–388.
Gisin, D. & Marcolli, C. (2019) Making it Happen – von Engelberg nach Sochi. Stans: Engelberger Druck.
Hermann, H-D. & Eberspächer, H. (1994). Psychologisches Aufbautraining nach Sportverletzungen. München: BLV.
Hermann H.D., Mayer J. (2003): Psychologische Aspekte in der orthopädisch traumatologischen Rehabilitation nach Sportverletzungen. dvs-Informationen, 18, S.8–12.
Horvath. S., Meyer, S., Birrer, D. & Seiler, R. (2004). Informations-Handouts und Laienkonsultation in verschiedenen Rehabilitationsphasen als Hilfe für verletzte Spitzensportler. Schweizerische Zeitschrift für Sportmedizin und Sporttraumatologie 52 (2), S.82-85.
Kleinert, J. & Liesenfeld, M. (2002). Betreuer-Sportler-Interaktionen nach Sportverletzungen im professionellen Hallenhandball – eine Interviewstudie. Schweizerische Zeitschrift für Sportmedizin und Sporttraumatologie, 50: S.77-84.
Marcolli, C. (2002a). Die psychologische Unterstützung in der Rehabilitation von Verletzungen. Ansätze für medizinische Fachkräfte. Zürich 2002a; Gesellschaft zur Förderung der Sportwissenschaften an der ETH Zürich, Band 24.
Marcolli, C. (200b), Die psychologische Betreuung nach Sportverletzungen – eine retrospektive Befragung der Teilnehmer am Projekt Comeback. Schweizerische Zeitschrift für Sportmedizin und Sporttraumatologie, 50, S.71-75.
Quellen:
Luzerner Zeitung: Reto Schmidiger geht neue Wege (Link)
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