Dr. René Paasch: Alle Balla-Balla-Balotelli oder brauchen wir mehr Freiheit für echte Typen?

Mario Balotelli nahm nach seinem Treffer zum 1:0 für den französischen Erstligisten Olympique Marseille gegen AS Saint-Etienne ein Handy entgegen, filmte sich im Jubel seiner Mitspieler und postete das Video in echt Echtzeit in einer Instagram-Story. Dieses Verhalten sorgte für eine Menge an Diskussionen. Ist das der neue Fußball, den wir uns erhoffen oder brauchen wir neue Ideen, die den Teams mehr Sinn und Verbundenheit verschaffen?

Zum Thema: Über die Bedeutung von Leidenschaft, Begeisterung und Identifikation

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Bis zu zweimal am Tag Training und das fünfmal die Woche, regelmäßige Pressetermine und dann am Wochenende Pflichtspiel. Für die Stars der Branche kommen dann noch englische Wochen wegen der Auftritte im Europapokal und im Nationaltrikot hinzu. Die Profis funktionieren bei dauerhaftem Eigen- und Fremddruck wie ein Uhrwerk, automatisiert laufende Ich-Ag`s. Von tieferer Sinnhaftigkeit und Verbundenheit ist dabei wenig zu spüren. Sie funktionieren!  

Nach einer lässig sportiven Spritztour in verdunkelten Edelkarossen in Richtung Trainingsgelände besprechen unsere großen Vorbilder ständig ihre sportliche und geschäftliche Situation mit ihren Spielerberatern. Hinzu kommen bei nicht wenigen Profis Experten für das Outfit und die Haare. Dabei wird fleißig fotografiert und vieles im Netz “geshared”. Nach dem Training fasst der Spielanalyst kurz die Leistung der Spieler auf dem Laptop zusammen, während diese in der Chillout-Lounge abhängen, Massagen bekommen und gesundes Essen genießen. So stellen sich manche Fans und Interessierte das Bling-Bling-Leben von „Fußballprofis“ vor. Und das bleibt nicht ohne Folgen: Denn längst übernehmen auch Nachwuchskicker und Spieler in Ligen fernab der Champions League-Melodie den Habitus der Balotellis, Dembélés oder Aubameyangs.

Mehr Infos zu Dr. René Paasch: https://www.die-sportpsychologen.de/rene-paasch/

Zeit zur Veränderung

Doch dieses Bild stellt nicht die komplette „Wirklichkeit“ dar und schafft wenig Konstruktives. Aber es sollte uns alle, die wir den Fußball lieben und vielleicht irgendwo in dem System arbeiten, eine Warnung sein und zum Gegensteuern motivieren. Denn aus meiner Sicht geht es nicht darum, Spieler mit unglaublichen Gehältern, Sonderprämien und was weiß ich für Bonifikationen bei Laune zu halten. Vielmehr müssen die Vereine so agieren, dass die Spieler durch kreative Freiheiten eine Verbundenheit zu ihrem Verein und dem Umfeld spüren. Es geht um Leidenschaft und Begeisterung – die kleinen Dinge, wegen denen wohl fast alle Kicker einmal mit dem Fußballspielen begonnen haben.

Wie aber ist das möglich, da der allgegenwärtige Druck, wiederkehrende Vereinswechsel einzelner Spieler und die fehlende Zeit dies kaum zulässt? Aus meiner Sicht brauchen wir eine individualisierte Fußballwelt. Eine Fußballwelt, in der sich jeder als Person erlebt. Es kommt auf jeden an, aber jeder muss etwas anderes können und beitragen. Spinnen wir mal weiter, dann erfüllen diese individualisierten Mannschaften gleichzeitig das Bedürfnis nach Verbundenheit wie nach individuellem Freiraum. Da beide Bedürfnisse  erfüllt werden, ist die individualisierte Mannschaft hoch attraktiv, aber – bleiben wir realistisch – eben auch schwierig umzusetzen, in einer hierarchischen und fremdgesteuerten Finanzwelt, wo Erfolg und Profit den Ton angeben. Denn viele Kicker werden auch von den Vereinen als Objekt verwendet. Sie werden zum Objekt der Erwartungen, Bewertungen und Phantasien gemacht und knallhart als geldwerter Vorteil gesehen. Und wenn der Einzelne diese Rolle annimmt, verliert man das, was den Spieler auszeichnet: Den eigenen Willen, die Individualisierung und das Herz zum Verein. Wir sind mittlerweile so festgefahren, dass wir gar nicht glauben, gemeinsam erfolgreich zu wachsen. Doch das können wir ändern. Jeder Einzelne kann sich zu jederzeit verändern, wenn der- oder diejenige es möchte. Ich bin davon überzeugt, dass jeder, selbst in den niedrigsten Amateurklassen einen Gestaltungsspielraum zur Entfaltung haben muss und etwas Unvorstellbares freisetzen kann. Wichtig wäre es, wenn man dabei mehrere Teamkollegen oder sogar den gesamten Verein in eine solche Richtung bewegen kann. Wenn man sich ehrlich füreinander interessiert entstehen Spielräume, die sich dann miteinander verbinden lassen. Das Ergebnis ist ein echtes Team.

Co-kreatives Team

Ein co-kreatives Team, ist ein Team, in dem sich jeder beteiligen darf und jeder sich für den anderen interessiert. Nach dem Motto: „ICH – DU – WIR“. Auf diesem Weg können sich folgende teamspezifische Fragestellungen entwickeln:

  • „Welche Potentiale sind in unserem Team vorhanden?“
  • „Was wollen wir für eine Mannschaft sein?“
  • „Was ist für uns Siegermentalität?“
  • „Was sind unsere konkreten Nah- und Fernziele?“

Die Teamkollegen sollten sich im Anschluss über mögliche Lösungen Gedanken machen. Damit treiben Sie den co-kreativen Teamprozess voran und der Schatz an Wissen und Können, den sie miteinander teilen, entwickelt sich möglichst weitreichend. Wenn alle ihr Wissen und Potential einbringen, entsteht ein Schwall von kreativen Ideen, die auf dem Platz deutlich erkennbar sein werden. Ein solcher Teamprozess lässt sich natürlich schwer delegieren. Ein Verein kann lediglich einen Rahmen schaffen, der die Herausbildung solcher co-kreativer Prozesse wahrscheinlich macht. Dazu ist die Abwesenheit von zeitlichem Druck entscheidend. Denn Kreativität entsteht nur dann, wenn sie sich Zeit nehmen und die Komfortzone mutig verlassen. Die Wahrnehmung braucht Vielschichtigkeit ohne Fremdsteuerung. Zudem sollten die Funktionäre, Spieler und Trainer nicht nur ihre eigene Karriere im Kopf haben. Es muss allen um ein gemeinsames „Wir“ gehen. Dieses muss etwas sein, das Ihnen unter die Haut geht und ihnen wirklich am Herzen liegt.  

Welt- und Europameister Juan Mata fällt mir als Beispiel ein, der neben seiner Karriere das Charity-Projekt Common Goal mitgegründet hat. Oder stellen wir uns einen Zeugwart vor, der plötzlich einen ganz neuen Sinn in seiner Arbeit gefunden hat, wie „Ich habe noch nie die Kabine so liebevoll dekoriert und den Sitzplatz unserer Spieler individualisiert. Ich möchte, dass sich jeder Spieler in der heimischen Kabine so wohl fühlt, dass er den Verein überall empfiehlt und mit Leidenschaft verteidigt“. Diese und viele weitere sinnstiftende Ideen könnten den Gedanken eines neuen Fußballs mit reichlich Energie füllen und die langfristige Bindung an den Verein, das Umfeld und die Fans ermöglichen.

Fazit

In unserer schnelllebigen Zeit glauben wir, dass wir durch Fremdsteuerung, Endlosoptimierung und computergesteuerten Vorhersagen erfolgreich sein können. Leistungs- und Ergebnisdruck, zeitliche Begrenzung unabhängig von Sinn und Verbundenheit in Teams schwächen jedoch deren ganzheitliche Entwicklung. Wir wollen Erfolg steuern, doch die Vergangenheit lehrt uns, dass der Fußball nicht kontrollierbar ist. Dieser Prozess benötigt Zeit und Individualisierung. Halten Sie nicht an scheinbar erfolgversprechenden Systemen fest, die uns in der Illusion von dauerhaftem Erfolg und Wachstum in Sicherheit wiegen. Der Fußball stellt uns immer wieder vor neue Herausforderungen, die wir mit bisherigen Strategien nicht lösen können. Es geht vielmehr um co-kreative Prozesse, tiefe Verbindungen und Begegnungen mit uns selbst und anderen. Dann entsteht echter Fußball, echter Erfolg.

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Prof. Dr. René Paasch
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