Die „toxische Männlichkeit“ sorgt dieser Tage für grosse mediale Schlagzeilen. Die Rede ist von der schädlichen Wirkung tradierter Männlichkeitsideologie, wie sie in den kürzlich erschienen Richtlinien der American Psychological Association (APA)1 dargestellt wird. Wie äussern sich die umfassend beschriebenen Elemente „Leistung“, „Risiko“, „Dominanz“, „Vermeidung von Schwäche“ und „Gewalt“ im Leistungssport und welche Konsequenzen sind aus Sicht der Sportpsychologie zu diskutieren?
Zum Thema: Die toxische Wirkung tradierter Männlichkeitsideologie und ihre Auswirkungen auf die Arbeit eines Sportpsychologen
Zugegeben, die Auswirkungen des APA-Reports hätten mich kaum erreicht, wäre letzte Woche nicht ein Rasierklingenstreit entbrannt, der sich im Netz seither zu einem veritablen Shitstorm aufgebaut hat. Was ist passiert? Gillette hat seinen 30-jährigen Slogan «The Best a Man Can Get» abgesetzt und durch «The Best Men Can Be»2 ersetzt. Mit dem Werbefilm wendet sich das Unternehmen gegen Sexismus und Machokultur, gegen «toxische Männlichkeit». Er zeigt Männer, die prügelnde Jungs trennen oder Frauenbelästiger in die Schranken weisen. Am 13. Januar 2019 auf Youtube hochgeladen, wurde der Clip seither millionenfach angeklickt, hunderttausende Male kommentiert, meist negativ. Empörte Männer verstehen den Spot als pauschalen Angriff auf ihr Geschlecht und monieren die markttreibende Heuchelei seitens der Firma.
Hitzige Debatte
Was in dieser hitzigen Debatte mit Heuchelei-Unterstellung aber offensichtlich verloren geht ist die Tatsache, dass sich die Rasierklingenfirma zur Plausibiltätsabklärung ihrer These an das bekannte Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov3 gewandt hat. In einer repräsentativen Studie mit 1017 Teilnehmern im Alter von 22 bis 37 Jahren kommen die Forscher zum Schluss, dass das stereotype Bild des Mannes passé ist. Die Vorstellung davon, was Männlichkeit genau ist, habe sich komplett gewandelt, so die Autoren. „So sein wie der Vater? Bitte nicht. 74% der Befragten geben an, dass sich ihr Männerbild von dem ihrer Eltern unterscheidet, und wehren sich gegen klassische Rollenzuschreibungen. Sie möchten stattdessen ein facettenreiches Männerbild (…). 72% der Teilnehmer sagen, dass Gemeinschaft für sie nicht nur eine wichtige Rolle spielt, sondern dass diese auch ihr eigenes Verhalten und Leben prägt.“
In dieser Quintessenz der Studie verbirgt sich auch die Wandelbarkeit des Konstrukts „Männlichkeit“. Männlichkeit ist keine naturgegebene Tatsache, sondern das Produkt einer kontinuierlichen Konstruktionsleistung. Männer müssen genauso wie Frauen tagtäglich Geschlecht in Interaktionsprozessen (re)produzieren und darstellen, so schreibt Simone de Beauvoir „man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ (Beauvoir, 2000, S. 334).
Selbstverständnis und Selbstbewusstheit eines Sportpsychologen
Übergeordnetes Ziel dieses Textes ist nicht nur, auf die aktuelle Diskussion hinzuweisen. Vielmehr soll nun versucht werden, Tragweite und mögliche Konsequenzen aus Sicht der (Sport-)Psychologie zu thematisieren.
Wo stehe ich persönlich im Rahmen dieser Männlichkeitsdiskussion? Wie hat sich mein Bild der Männlichkeit im Verlauf meiner bald 30-jährigen Tätigkeit in der Angewandten Sportpsychologie verändert, entwickelt? In meiner Rückschau treffe ich unweigerlich auf einen meiner Lieblingssongs von Herbert Grönemeyer: Mann! „Wann ist ein Mann ein Mann?“… und Grönemeyer beantwortet die Frage mit „ … Männer geben Geborgenheit …Männer stehn‘ ständig unter Strom, Männer baggern wie blöde, Männer lügen am Telefon, Männer sind allzeit bereit, Männer bestechen durch ihr Geld und ihre Lässigkeit … außen hart und innen ganz weich, werden als Kind schon auf Mann geeicht … “ (Grönemeyer, 1984).
Das Thema (Sport-)Persönlichkeit
Zu jener Zeit befasste ich mich intensiver mit dem Thema der (Sport-)Persönlichkeit und deren Messung im Spitzensport, untersuchte u.a. die Persönlichkeitsstruktur von Weltklasse-Zehnkämpfern aus Deutschland. Ich war fasziniert ob jener äusserst selbstvertrauenden, fast manisch ausgebildeten Motivationsstruktur der deutschen „Könige der Leichtathletik“ und monierte demgegenüber ein fast hobbymässig-submissives Auftreten unserer Schweizer Protagonisten. Damals war mir die zerstörerische Wirkung tradierter Männlichkeitsideologie kein Begriff. Heute, auch mit Kenntnis der Lebensgeschichte von Christian Schenk, Zehnkampf-Olympiasieger von 1988 (vgl. Schenk & Sellin, 2018), erkenne ich die destruktive Wirkung traditioneller Männlichkeitsideologien mit übertrieben ausgeformten Elementen hinsichtlich „Leistung“, „Risiko“, „Dominanz“, „Vermeidung von Schwäche“ und „Gewalt“ wesentlich schneller.
Wo stehen Verbände und Institutionen?
APA – eine Provokation! In der Schweizer Sonntagspresse wurde das Thema breit(er) diskutiert, insbesondere wurden involvierte Verbände hinsichtlich der Tragweite der Auswirkungen „toxischer Männlichkeit“ befragt. Der Hintergrund: In Amerika wie auch in der Schweiz oder im Sport sind die Zahlen eindeutig. Die Suizidraten, sexuelle Übergriffe, Androhung oder Ausübung von physischer Gewalt, usw. – in allen diesen Kategorien liegen die Männer mit grossem Abstand vorne. Die Genderfrage stellt sich aber auch hinsichtlich gesundheitsrelevanter Auswirkungen traditioneller Männlichkeitsnormen, wenn eben der sorglose Umgang mit dem eigenen Körper und die Illusion, auf keine Unterstützung angewiesen zu sein, Krankheiten und vermeidbare Todesfälle fördern und dadurch die Lebenserwartung der des männlichen Geschlechts mindern.
Eine entsprechende Umfrage in der Sonntagszeitung (20.1.2019)4 bei den Verbänden – mit der Bitte um eine Stellungnahme zu den APA-Richtlinien – ergibt ein ernüchterndes Bild, wobei zwei hauptbeteiligte Verbände folgendermassen zitiert werden: „Bei der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP), dem Pendant zur amerikanischen APA, wird die Pressesprecherin mit der Erklärung vorgeschickt: «Die FSP äussert sich als Verband nicht zu diesem Thema.» Bei der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie erklärt ein Vertreter des Vorstands, er finde die Amerikaner ohnehin «zum Kotzen», mehr könne er dazu nicht sagen.“ Aus Sicht der Angewandten Sportpsychologie ist diese Sichtweise mehr als ärgerlich. Die Ungeheuerlichkeit dieser Statements müsste jedem Sportpsychologen zumindest dann einleuchten, wenn er die Biographie der ehemaligen Kunstturnerin Ariella Käslin gelesen und/oder sich in die Hintergründe des hundertfach dokumentierten Missbrauchs im Damen-Kunstturnen in den USA eingearbeitet hat.
Haltung, Verhalten und Handeln sind gefragt!
Wer körperliche oder psychische Gewalt im Sport kleinredet, wer Drohgebärden von Trainern gegenüber Jugendlichen als „notwendiges Übel“ abtut oder auch wer ob der besagten Gillette-Werbekamapagne in Rage kommt, dürfte nicht gemerkt haben, selbst wesentlicher Teil des angesprochenen Problems zu sein. Aus dieser Warte betrachtet scheint jeder Psychologie-Verband in der Verpflichtung zu stehen, einen dezidierten Standpunkt vertreten zu müssen. Auch die Sportpsychologie und ihre VertreterInnen!
Mit Blick auf meine persönliche Biographie als (ehemaliger) Sportler, Trainer, Sportwissenschaftler, Sportspsychologe, Vorstandsmitglied von SASP (Swiss Association of Sport Psychology) sowie FSP möchte ich die aktuelle Diskussion zum Anlass nehmen, vier Ansatzpunkte im Umgang mit „toxischer Männlichkeit“ zu formulieren.
- 1) Persönliche Prägung
Die aktuelle Diskussion animiert mich auch zur Reflexion meiner eigenen Biographie. Wo und in welcher Art bin ich in Kontakt mit tradierter Männlickeitsideologie gekommen? Welche Vorbildfunktion hatten damals meine Trainer (alles Männer!) und wie habe ich mich später als Leichtathletiktrainer von 20 Mehrkämpferinnen im Alter von 14 bis 20 Jahren verhalten? Welches Männerbild vermittle ich eigentlich meinen Kindern heute? Ein konkretes Beispiel aus meiner Zeit als Jugendlicher in der Leichtathletik: Wie oft habe ich gehört, dass grosse Jungs (und später Männer) eben bitteschön nicht weinerlich zu sein haben! Und eingebläut bekommen, dass ich gefälligst die Zähne zusammenbeissen oder mich doch am Riemen reissen soll!?
- 2) Supervsion und Intervision
Manchmal reicht es nicht, sein eigenes Handeln und Verhalten nur für sich selbst zu reflektieren. Das Thema „toxische Männlichkeit“ scheint bestens dafür geeignet, in ExpertInnen-Runden – an konkreten (eigenen) Fallbeispielen – verortet zu werden. Intervision und Supervision bieten zudem den grossen Vorteil, dass ich auch aus den Erfahrungen meiner Kolleginnen und Kollegen lernen und mein eigenes Verhalten im Spiegel dieser Erkenntnisse besser einordnen kann. Erkenne ich dabei ungelöste Konflikte in meiner eigenen Biographie, könnte dies ein Fingerzeig in Richtung persönliche Aufarbeitung mit Inanspruchnahme psychotherapeutischer Unterstützung bedeuten!
- 3) Die eigene Brille schärfen!
Konkrete Auswirkungen der Rasierklingen-Debatte sehe ich auch in meinem Betreuungsalltag als Sportpsychologe. Im Wissen um die Tragweite der Thematik, dass bestimmte männliche Selbstbilder tatsächlich toxisch sein können, werde ich meinen Verhaltensradar überprüfen, vielleicht etwas neu ausrichten. Eine Frage, die mich weiterhin bewegen wird, ist: Habe ich in meiner Position als betreuender Sportpsychologe gegebenenfalls aufmerksam reagiert, vielleicht nachgefragt oder gar interveniert, wenn sich mir ein Schatten toxischer Männlichkeit offenbarte?
- 4) In die Diskussion einschalten!
Sich – wie die FSP oder das Vorstandsmitglied des Verbands der Kinder- und Jugendpsychologie – aus dieser Diskussion zu verabschieden, geht aus meiner Sicht gar nicht! Entsprechende Leitlinien zu entwickeln (vgl. Swiss Olympic, Stellungnahme FEPSAC, siehe) und diese in der eigenen Praxis einzubinden ist das eine. Ebenso wichtig erachte ich die sachkundige Meinungsäusserung aller PsychologInnen zu dieser Thematik. Deshalb bin ich froh, hat Gillette als bedeutender Werbeträger auch im Sport seine Message angepasst hat. So heuchlerisch „The best man can be“ im Moment – in Anbetracht der Vergangenheit – auch erscheinen mag: hier nochmals zur Erinnerung: Man kommt nicht als Mann zur Welt, man wird es!
Quellen:
De Beauvoir, S. (2000). Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau. Reinbek b. Hamburg: rororo.
Gubelmann, H.-P., Pfyl, M., Schilling, G. & Spada, M. (1995). Working situation, personality, motives and commitment of German and Swiss Decathletes. In R. Vanferachem-Raway & Y. Vanden Auweele (Eds.), Integrating laboratory and fields studies (vol.2, pp.755-761). Proceedings of the IXth European Congress on Sport Psychology in Brussels, 4/9 July 1995.
Schenk, C. & Sellin, F. (2018). Riss. Mein Leben zwischen Himmel und Hölle. München: Droemer.
Position statements – 6. Sexual exploitation in sport, 2002 FEPSAC Position Statement #6 (http://www.fepsac.com/index.php?cID=74)
1 APA Issues First-Ever Guidelines for Practice with Men and Boys (Pappas, S., Ed.) (Link: https://www.apa.org/education/ce/1360513.aspx)
2 https://www.youtube.com/watch?v=spyx52PdQ0s
3 https://www.gq-magazin.de/leben-als-mann/gesundheit/generationswechsel-die-neue-maennlichkeit
4 Pastega, N. & Gamp, R. Diagnose: Mann. Sonntagszeitung 20.1.2019, S.6
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