Es traf mich heftig, als ich vor wenigen Wochen vom tiefen Fall des Olympiasiegers Christian Schenk erfuhr. Ende August gab er in einem Interview jahrelanges Doping zu, sprach von gravierenden psychischen Problemen und kündigte medienwirksam seine Autobiographie an: „Riss – mein Leben zwischen Hymne und Hölle“. Für mich war Christian Schenk tatsächlich ein König der Leichtathletik, auch ein sportliches Vorbild in meiner Aktivzeit als Leichtathlet und Zehnkämpfer. Sein „Zerrbild“ als (unverändert!) legitimer Zehnkampf-Olympiasieger von 1988 und der Vorstellung eines an Wahnzuständen leidenden Patienten, der sich im Alltag nicht mehr vor die Haustüre traute, macht mich betroffen.
Zum Thema: Aspekte der Erschöpfungsdepression aus Sicht der Angewandten Sportpsychologie
Rückblende: Schenk, der 1990 Europameister wurde und 1991 Bronze bei der WM gewann, beendete seine sportliche Karriere 1994. Im Anschluss litt der Mecklenburger unter einer bipolaren Störung, zu der auch schwere Depressionen und Verfolgungswahn gehörten. Der ehemalige Zehnkämpfer beschreibt seine Misere in seinem Buch „Riss“ als ein Leben zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Er fühle sich nicht als Betrüger für seine Leistung, urteilt der heute 53-jährige Deutsche – was ihm aktuell auch harsche Kritik aus Sportlerkreisen einbringt (vgl. NDR.de). «Doping ist ein No-go. Das ist illegal, das gehört nicht in den Sport, und das ist unfair gegenüber den sauberen Athleten. Das ist eine absolute Frechheit», meint der aktuelle Zehnkampf-Europameister Arthur Abele. «Zehnkampf ist bei uns im Land eine Familientradition – und in einer Familie schmerzt Betrug umso mehr.» Vielleicht „zahlte“ Schenk später, als er an einer schweren Depression erkrankte, einen ungleich höheren Preis für dieses Doping.
Hintergrund: Pope und Katz (2011) belegen in einer Studie an Sportlern einen massiven Zusammenhang zwischen der Einnahme von anabolen Steroiden, psychotischer Störungen (Manie) und bipolaren Störungen (Schizophrenie).
Spitzenlangläufer und Kunstturnerin beziehen Stellung
Szenenwechsel: Die „zwei Seiten einer Medaille“ waren kürzlich auch Thema einer öffentlichen Diskussionsrunde in Chur, welche sich vornahm, insbesondere die „dunkle Seite des Spitzensports“ zu beleuchten. Podiumsleiter Walter Burk (HTW Chur) nannte als Ausgangspunkt für die Diskussion das öffentliche Bekenntnis des Bündner Spitzenlangläufers Jonas Baumann, der in einem vielbeachteten Beitrag in der Schweizer Illustrierten (siehe Quellen, oder hier zum Download) offen über die erlittene Erschöpfungsdepression sprach. Darin beschreibt er sich als extrem ehrgeiziger Mensch, der in allem brillieren will. Er leidet unter Prüfungsstress an der Schule, muss Arbeiten schreiben für sein Studium und sucht zudem den sportlichen Erfolg an der WM in Lahti, wo ihm das beste WM-Resultat seiner Karriere glückt. Was dann folgte, bezeichnete er als verrückt. Seine Gemütslage nach einem hervorragenden vierten Platz im WM-Staffelrennen beschrieb er folgendermassen: „Ich war leer. Es war so schlimm, dass ich dachte: Zum Glück haben wir keine Medaille geholt – denn ich hätte mich zu diesem Zeitpunkt sowieso nicht freuen können.“
Leere, Einsamkeit, Überforderung, fehlende Selbstbestimmung, Druck von Aussen, Misshandlungen durch den Trainer und fortwährend ungenügende körperliche Erholung waren jene negativen Begleiterscheinungen in der Karriere der Kunstturnerin Ariella Käslin, die – unsichtbar für die Öffentlichkeit – an ihrer psychischen und physischen Gesundheit nagten, bis sie – erschöpft und ausgebrannt – vom Spitzensport zurücktrat. Passend zu diesem destruktiven Verlauf, quasi auf der Rückseite der Medaille, schrieb sie: „Dies ist die Geschichte einer Turnerin, die immer öfter gewann, sich selbst aber immer mehr verlor“.
Umfassende Gefährdung
Vielfältiger Druck, hohe Erwartungen und hohe zeitliche Beanspruchungen können aber auch im Umfeld des Athleten zu Burnouts führen, wie Hippolyt Kempf, Disziplinenchef Langlauf bei Swiss Ski in seinem Votum ausführte. „Trainer, Serviceleute, Physios – auch sie sind gefährdet. Schliesslich ist der ganze Staff mitverantwortlich für den Erfolg.“
So unterschiedlich und vielschichtig diese Beispiele auch sind, eine Einsicht scheint für alle zuzutreffen: die Notlage aller hätte verhindert oder zumindest frühzeitig gelindert werden können!
Forderungen an die Sportpsychologie
Ziel einer modernen Leistungsförderung im Nachwuchs- und Hochleistungssport muss sein, die Athletinnen und –athleten nicht nur athletisch auf die bevorstehenden Aufgaben vorzubereiten, sondern insbesondere jene psychischen Fähigkeiten zu vermitteln, die vor der Erkrankung an Depression oder Burnout schützen. Vor diesem Hintergrund und auf dem Standpunkt eines ethisch-moralisch vertretbaren Spitzensports sind folgende Massnahmen zwingend voranzutreiben:
- Langfristige Stärkung von Schutzfaktoren (emotionale Robustheit, mentale Stärke etc.), die unter der Anleitung der Angewandten Sportpsychologie im Rahmen individualisierter psychologischer Trainingsmassnahmen in die Sportpraxis aller Beteiligten (Athleten, Trainer, Betreuer, Eltern) integriert werden;
- Einbezug standardisierter Monitoringverfahren in die Trainingsplanung und -steuerung (e.g. für Sportler RESTQ/EBFSport; für Trainer RESTQ/EBF-Trainer sowie Kinder und Jugendliche RESTQ/EBF-CA) zur Erfassung der Erholungs-Belastungsbilanz, auch um schädigende Überlastungen und Erschöpfungszustände frühzeitig zu erkennen und einer möglichen Erschöpfungsdepression vorzubeugen (vgl. Kallus & Kellmann, 2016);
- Durchführung begleitender wissenschaftlicher Studien zu prospektiv einflussreichen Faktoren bei der Entstehung von Depression und Burnout wie: chronischer Stress, Regeneration, dysfunktionale Einstellungen, Copingstrategien, Attributionsstil, Perfektionismus, Kohäsion und athletische Identität (vgl. Nixdorf, 2017);
- Entwicklung eines interdisziplinären Netzwerkes von Sportpsychologen, -medizinern und –psychiatern, welches sich gleichermassen dem Knowhow-Austausch, der Psychoedukation und der Fortbildung annimmt sowie als Anlaufstelle für Ratsuchende auftritt.
Mein persönliches Fazit
Beispiele wie jene von Ariella Käslin und Christian Schenk zeigen, dass die Prävalenz psychischer Probleme und Erkrankungen bei Leistungs-/Spitzensportlerinnen und -sportlern wohl höher ausfällt als bisher angenommen. Dies umso mehr, wenn die Thematik auch auf das „Danach“ – also auf den Übergang in die nachsportliche Karriere – ausgeweitet wird. Jonas Baumann mit seinem öffentlich gemachten „coming out“ steht für mich stellvertretend für jene Gruppe der Betroffenen, die sich im Umgang mit dieser „dunklen Seite“ des Spitzensportlers aktiver und schambefreiter zeigen und sich frühzeitig (und wahrscheinlich rechtzeitig!) in psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung begeben. Um mich für meine Tätigkeit als (nicht-klinisch orientierter) Sportpsychologe im Umgang mit der Thematik Überlastungs-Depression in Zukunft gewappnet zu fühlen, werde ich mich weiter in die (psychologischen) Hintergründe vertiefen und das Buch „Riss“ von und über den „gefallenen“ König der Leichtathletik lesen. Vielleicht reagiert Christian Schenk auch auf eine persönliche Kontaktaufnahme – schliesslich gehörte ich einst zum erweiterten Kreis der angesprochenen „Leichtathletik-Familie“ – und fühle mich heute ein bisschen wie Kollege Arthur Abele: beschissen und betrogen!
Epilog: Am 9. November 2018 (Bern, Haus des Sports) widmet sich die Tagung “Denken und Gefühlsleben im Leistungssport – wie können wir Athleten optimal begleiten” ausgewählten Aspekten der Belastungs- und Überlastungs-Thematik im Spitzensport. Im Zentrum stehen falltypische Beispiele aus dem Spitzensport, die – interdisziplinär – in Referaten, Workshops und einer Podiumsdiskussion aus sportpsychologischer (Swiss Association of Sport Psychology, SASP), -psychiatrischer (Psychiatrischer Universitätsklinik Zürich, PUK) und –medizinischer Sicht (Schweizerische Gesellschaft für Sportmedizin, SGSM) beleuchtet werden. Die ganze Tagung wird simultan deutsch-englisch und englisch-deutsch übersetzt.
Mehr Informationen und Anmeldung für die Veranstaltung “Denken und Gefühlsleben im Leistungssport – wie können wir Athleten optimal begleiten” am 9. November 2018, Haus des Sports in Bern : Download-Dokument
Quellen:
Claussen, M.C., Evers, S.M., Schnyder, U., Frey, W.O., Schmied, C. & Milos, G. (2015). Psychische Probleme und Erkrankungen im Leistungssport. Swiss Medical Forum, 15(45): 1044-1049.
Kallus, K.W. & Kellmann, M. (2016). RESTQ: The Recovery-Stress Questionnaires. Frankfurt: Pearson.
Nixdorf, I. (2017). Zu viel des Guten? Erkenntnisse über Depression und Burnout im Leistungssport. In: C. Gorr & M.C. Bauer (Hrsg.) Was treibt uns an? Motivation und Frustration aus Sicht der Hirnforschung. Berlin: Springer, S.143-154.
Pope, H.G., Jr. & Katz, D.L. (1991). Psychiatric and medical effects of anabolic-androgenic steroid use. A controlled study of 160 athletes. Arch Gen Psychiatry, 1994. 51(5): p. 375-82.
Schenk: „Ich weiss um viele Athleten die leiden“. Auf NDR, 4.9.2018 https://www.ndr.de/sport/mehr_sport/Christian-Schenk-Zehnkampf-Doping,schenk152.html
Link: https://www.rtr.ch/sport/sport-divers/sport-d-elita-n-e-betg-adina-in-sugus
Link: https://www.droemer-knaur.de/buch/9596411/riss
Download-Link: https://www.schweizer-illustrierte.ch/stars/schweiz/jonas-baumann-nach-depression-zurueck-in-der-spur
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