Prof. Dr. Oliver Stoll: Die Rückkehr der Gelassenheit (Streakrunning-Serie, Teil 10)

273 Tage jeden Tag laufen – also seit dem 1.1.2018. 250 Kilometer im September. Und 2.300 Kilometer in diesem Jahr. Seit mittlerweile neun Monaten laufe ich jeden Tag mindestens eine Meile. Diese Mindestanforderung habe ich auch im Monat September wieder nicht ziehen müssen – ich liege nach wie vor so bei ca. acht Kilometern pro Tag, immerhin sind das 20 Stadion-Runden, die ihr während eures Arbeitsalltages nebenher einfach mal so laufen würdet. Das also –  im Schnitt – mal mehr, mal deutlich mehr, mal weniger, brachte mir einen Zugewinn an Erfahrung, Wissen und Gelassenheit. Und das ist das zentrale Thema für mich in diesem Monat.

Zum Thema: Streakrunning-Serie, Teil 10

Der September – ein Monat mit 30 Tagen und einer „zwischen den Jahreszeiten“. Nicht mehr wirklich Sommer, aber auch nicht wirklich grau und kalt. Da fällt mir doch gleich ein Zitat von Goethe ein: „Ein heiterer Tag ist wie ein grauer, wenn wir ihn ungerührt ansehen.“ Und in diesem Monat habe ich mir jeden Tag „nicht ungerührt“ angeschaut. Ich habe diesen Monat so sehr genossen, weil er mir keine „Extreme“ geliefert hat. Keine extreme Kälte und auch keine extreme Hitze. Die Tage waren angenehm temperiert für ein Läufchen und die Nächte kühl genug, um gut und ausreichend schlafen zu können. Es war jeder Tag ein Tag, wie er sein sollte, wenn man in diesem Leben und in dieser, unserer Gesellschaft, nicht nur zu „funktionieren“, sondern eben auch das Leben laufend und sich bewegend zu genießen.

Ich war beruflich viel unterwegs im September. Das stand von Anfang an fest. Und ich war für zwei Laufe „mit Startnummer“ gemeldet – ein Thema, dass mich seit Anfang des Jahres begleitet und mich immer wieder zum Grübeln zwingt. Damit musste ich umgehen, das war klar. Und umsetzen konnte ich das nur, weil ich gelassen geblieben bin. Die Tage unterwegs waren voll mit Reisetätigkeit und konzentriertem Arbeiten und Austausch unter Kolleginnen und Kollegen, was mitunter auch mal länger als 14 Stunden am Stück dauert und dennoch habe ich mir diese 45 bis 60 Minuten für mich und meiner Art und Weise zu entspannen, nehmen können.

Südthüringentrail und Berlin-Marathon

Die Läufe „mit Startnummer“ waren zum einen der Südthüringentrail sowie der Berlin-Marathon, die ich absichtlich und mit Vorsatz (also mental) zu Läufen ohne Startnummer uminterpretiert habe. Ob mir das gelingen würde, wusste ich nicht. Heute weiß ich, dass das geht. Und dafür danke ich nicht nur dem Wetter in diesem Monat, sondern den Menschen, die diese Ereignisse mit mir geteilt haben, die über mein Vorhaben in diesem Jahr wissen und dafür mehr als nur Verständnis haben und mich darüber hinaus auch nicht für total bescheuert halten.

Was war also mein Zugewinn an „Wissen“? Ich weiß nun, dass es geht, und ich weiß auch, dass ich es kann! Dabei hatte ich mir ja vor ca. sechs Wochen diese Außenbandverletzung zugezogen. Ein wenig Laufen – durchaus auch täglich – mit solch einer Verletzung ist eine Sache. Aber eben damit einen Trail-Lauf über 19 Kilometer und sieben Tage später einen Marathon durchzuziehen – das steht auf einem anderen Blatt Papier. Ob das wirklich geht, wusste ich im Vorfeld nicht. Jetzt weiß ich es. Es geht – nicht schnell – nicht ambitioniert, aber es geht! Und – viel besser noch: Es macht tierisch Spaß!

Mut und Wille lohnen sich immer

Und damit sind wir schon beim zweiten Thema: Was habe ich an Erfahrung dazu gewinnen können? Die Erfahrung, das sich Mut und Wille immer lohnt! Es wäre ja ein leichtes gewesen, aufzugeben. Und einen guten Grund hatte ich auch – ach was, nicht nur einen! Niemand wäre mir böse gewesen, wahrscheinlich hätte es, außer mir selbst – auch nicht weiter irgendjemanden interessiert, aber ich hätte einiges an Erfahrungen nicht machen können. Nämlich die Erfahrung, dass alles gehen kann und mögliche Grenzen vor allen Dingen, diejenigen sind, die man sich selbst setzt. Und dann noch die Erfahrung des Laufens im Herbst, wenn die Welt immer bunter wird, die Tage immer kürzer, aber dafür die Läufe am frühen Morgen im Nebel oder am Abend, wenn die Sonne verschwindet, ein außerordentliches Erlebnis sind. Die Erfahrung von 42,195 Kilometer Non-Stopp-Läufer Party beim Berlin Marathon beginnend bei Kilometer 0 im Start-Kanal und das Ende ist nicht mal der Zielkanal hinter dem Brandenburger Tor, denn die Party geht im Kopf weiter. Die Erfahrung der stillen Gemeinschaft von uns „Läuferinnen und Läufern“, wir wir bei einem organisierten Lauf erleben. Das gemeinsame Laufen, das Genießen und das Leiden können und die Erfahrung, dass solche Erfahrungen auch an andere Menschen weitergegeben werden können, die bereit und offen für solche Erfahrungen sind, macht es aus.

Oliver beim Südthüringentrail

Nein – nicht alles ist Party in einem Läuferleben! Beim Südthüringentrail liefen wir (also einige meiner Mitläuferinnen und Mitläufer und auch ich) direkt in ein Erd-Wespen-Nest. Mich haben nur drei erwischt, andere haben bis zu zehn Stiche bekommen. Aber was lernen wir daraus? Augen und Ohren auf beim Trail-Laufen! Wir laufen in der Natur und sind dort nicht allein. Machen wir doch einfach demnächst einen kleinen Umweg und stören nicht die wirklichen Bewohner des Waldes! Und ja, auch bei einem „locker gelaufenen Marathon“ in etwas um die fünf Stunden merkst du irgendwann deine Muskulatur. Ja und? Ist das eine Überraschung? Natürlich nicht! Das gehört aber eben dazu und es ist besser, dass man das von vornherein akzeptiert. Nämlich genau dann, ist dieser Schmerz überhaupt nicht mehr wichtig oder störend, denn er ist ein Teil des „Großen und Ganzen“. Akzeptanz, Respekt, Offenheit und der Mythos individueller Herausforderungen bestehen zu wollen – das scheint ein Muster von uns Läuferinnen und Läufern zu sein. Und wir erkennen uns alle schon am Blick – da bedarf es keiner Worte.   

Oliver und Frauke beim Berlin-Marathon

Die neue Gelassenheit?

Das dritte Thema in diesem Blog-Beitrag ist „Gelassenheit“. Wenn es etwas ist, was mir der September (wieder) geschenkt hat, dann ist es eben genau diese Erfahrung und das Wissen darum, dass man diese Gelassenheit gewinnen kann, aber eben auch schnell wieder verliert, wenn man nicht aufpasst! Aber sie kann zurückkommen. Gelassenheit ist aus meiner Sicht eine Grundhaltung, die – wenn man sie kennt und schätzt – pflegen und kultivieren muss. Bei meinem beiden „Startnummer-Läufen“ habe ich dies ganz bewusst gepflegt und kultiviert. Beim Südthüringentrail öffnete mir der Refrain der „neue Hymne“ dieses Laufes die Ohren und Augen:

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Und beim Berlin-Marathon waren es die Stunden vor und während des Laufens im Startblock „H“ (H – steht für „Hinten“ – also ganz hinten, was den Startblock betrifft. Das sind die Menschen, die eine Zielzeit von 4:45 oder langsamer im Kopf haben. Schon alleine die Wartezeit im Startkanal ist ein einziger Genuss. Hier mischt sich die Aufgeregtheit der „Rookies“, die auf ihren ersten Marathonlauf gehen mit der entspannten Zuversicht der „alten gechillten“, in der Mehrzahl „Jubilee-Club-Mitglieder“, die den Berlin-Marathon schon mindestens zehn Mal gelaufen sind. Dieser Gefühls-Cocktail aus Stress, Aufregung und grenzenloser Zuversicht ist ein Erlebnis der ganz besonderen Art. Und natürlich dann unterwegs auf dieser wirklich tollen Strecke durch unsere Hauptstadt – da ist es dann im sich langsam auflösenden Startblock „H“ mehr als nur lustig, sondern die ungleichen Ausgangsvoraussetzungen lassen die Rookies mit den alten Hasen zu einer verschworenen Einheit verschmelzen. Hier hilft jeder jedem, unabhängig von Geschlecht, Rasse, Altersklasse oder Leistungsstand. Aber apropos Berlin-Marathon und Gelassenheit. In einem Workshop im September, unter anderem mit Falk Cierpinski, einem der schnellsten deutschen Marathon-Läufer in den Jahren 2010 bis 2013, den ich damals sportpsychologisch betreute berichtete er, dass genau diese Gelassenheit, ihm dabei geholfen hatte, seinen letzten richtig schnellen Berlin-Marathon laufen zu können.

Neue Wege

Gelassenheit war auch der Schlüssel zu einem letzten Lauf-Event im September. Zum ersten Mal in meinem Uni-Leben habe ich mich an eine Veranstaltung im praktisch-methodischen Bereich versucht. Im Rahmen des Moduls „Sport und Bewegung in der Natur“ habe ich eine Trail-Running-Camp im Harz organisiert.  

Beim Trail-Running-Camp mit Sportstudentinnen und -studenten

Ich hatte keine Ahnung, was da auf mich zukommt, wenn ich mich drei Tage lang mit 13 Sportstudierenden in der Schierker Baude einniste, um dann an drei Tagen ca. 50 Kilometer durch den Harz, laufenderweise, zurückzulegen. Alles was ich im Vorfeld gemacht habe, ist die Baude reserviert und drei (aus meiner Sicht) für Anfänger machbare und spannende Laufetappen auszusuchen. Ich hatte mir vorgenommen, nicht zu „überorganisieren“, mit den Studierenden unterwegs auf Augenhöhe zu kommunizieren und abends dann im Gemeinschaftsraum etwas aus meiner Erfahrung zu berichten und darüber hinaus über die beruflichen Vorstellungen der „kommenden Sportlehrerinnen und Sportlehrer“ zu erfahren. Ich war also „extrem gelassen“ im Vorfeld, was natürlich auch hätte nach hinten losgehen können. Nach hinten ging aber gar nichts los. Im Gegenteil: Sowohl die tägliche Planung, als auch die restliche Zeit des Tages war geprägt von konstruktiven Ideen und individuellen Wünschen sowie der Möglichkeit sich weiterentwickeln zu können. Wenn aus dieser Teilnehmer-Runde nur einer oder zwei etwas mit in den Sportunterricht mitnehmen werden, dann ist nicht nur dem Trail-Running geholfen, sondern auch ein Stück weit Werte und Normen, die unsere Gesellschaft ausmachen, kultiviert.

Warme Worte

Den letzten Septemberlauf genoss ich mit meiner Frau an meiner Seite. Es war ein wunderschöner, sonniger Herbstlauf im Südwesten Leipzigs rund um den Kulkwitzer See mit einigen Trail-Experimenten fernab der gängigen Strecke. Mein Fazit aus dem Monat September lässt sich in einem Zitat des Naturphilosophen Demokrit zusammenfassen:

„Kraft und Schönheit sind Vorzüge der Jugend, Blüte des Alters aber ist Besonnenheit“ 

(Demokrit, 370-460 v. Chr.)

Herzliche Einladung

Ich würde mich freuen, wenn wir uns genau hier sehen: 

Die rote Couch – Das Sportpsychologie Barcamp (Thema Ausdauersport) – 03./04.11.2018 in Leipzig

Die komplette Serie:

Prof. Dr. Oliver Stoll: Tierische Instinkte (Streakrunning-Serie, Teil 9)

Literatur

Goethe, J.W. (o.J.) Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1795/6. 7. Buch, 1. Kap., Wilhelm mit sich allein.

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Prof. Dr. Oliver Stoll
Prof. Dr. Oliver Stollhttp://www.die-sportpsychologen.de/oliver-stoll/

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